Monument der Abschreckung: Die Zustände im Flüchtlingslager auf Kos
Kos, Athen (epd). Anna-Nicole Heinrich steht vor einem meterhohen Nato-Zaun, der zusätzlich mit Stacheldraht gesichert ist. Dahinter erstreckt sich, gespickt mit Wachtürmen und Masten mit Kameras, das gigantische „Closed Control Access Center“ (CCAC) auf einer Fläche von 90 Hektar, ein Lager für Migranten und Flüchtlinge auf der griechischen Insel Kos.
Die Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist an die EU-Außengrenze gereist, um sich einen unmittelbaren Eindruck von der Situation für Geflüchtete zu verschaffen. Seit Jahren gibt es an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen gegen Schutzsuchende. Der Europäische Gerichtshof hat Griechenland 2024 erneut deswegen verurteilt. „Die Missstände der aktuellen Abschottungs- und Abschreckungspolitik an der EU-Außengrenze in Griechenland sind mit Händen zu greifen“, wird Heinrich nach diesem Besuch bilanzieren.
Griechenland hat eine Schlüsselposition in der europäischen Migrationspolitik inne. Die Insel Kos etwa liegt nur fünf Kilometer vor der türkischen Küste. Wer hier am Strand steht, sieht ohne Fernglas das Festland der Türkei. So wagen viele Migranten und Flüchtlinge die Überfahrt. Am Strand von Kos, unweit entfernt von den badenden Urlaubern, liegen die Spuren dieser Reisen noch im Sand: kaputte Schlauchboote, Kinderkleidung.
Mehr als 20.000 Menschen sind laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR in diesem Jahr nach Griechenland geflohen. Knapp 90 Prozent der Menschen nahmen den Weg über die Ägäis auf die griechischen Inseln. Allein auf Kos kamen so 2024 bislang mehr als 1.800 Menschen an. 60 Menschen verloren dabei laut dem UNHCR ihr Leben.
Wer die Reise geschafft hat, der kommt in das Lager, das Heinrich unter strengen Sicherheitsauflagen betreten darf. Was hinter dem Nato-Zaun passiert, ist die Zukunft der EU-Migrationspolitik. Die EU hat das Lager für mehr als 34 Millionen Euro errichtet. Es gilt als Blaupause: Im Zuge der EU-Asylreform entstehen andernorts baugleiche Lager mit denselben Verfahrensabläufen.
Zunächst kommen die Menschen zum sogenannten Screening. Hier werden sie registriert, samt Fingerabdrücken. In der europäischen Datenbank namens „Eurodac“ prüfen Mitarbeitende, ob die Person schon einmal nach Europa eingereist ist. Dann könnten die Behörden sie in das jeweilige Land der ersten Einreise zurückschicken, so regelt es das EU-Recht. Doch dieses zuständige Land ist in vielen Fällen: Griechenland.
Ist das Screening abgeschlossen, erhalten die Schutzsuchenden einen roten Ausweis. Nun warten sie auf das Verfahren zur Prüfung ihres Asylantrages. An diesem Tag sitzen Männer und Frauen mit den roten Ausweisen um den Hals in der Juli-Hitze. Sie drängen sich in den schmalen Streifen Schatten, den die Container werfen. Dass es in einem für 2.500 Menschen errichteten Camp nicht einmal Sonnensegel gibt, schockiert Heinrich, wie sie später erzählt.
Auch sonst mangelt es im Lager an vielem, wie lokale Organisationen berichten. UNHCR bestätigt, dass es Probleme bei der Versorgung gibt: Die Nahrungsmittel deckten den Bedarf nicht. Für die medizinische Versorgung fehlten Ärzte. Anwältinnen wird der Zugang für die Rechtsberatung erschwert. Den Betroffenen ist oft nicht klar, wie die Prozesse ablaufen, weil Übersetzer fehlen. Es gibt Berichte über kaputte Klimaanlagen, kaputte Klospülungen, Kakerlaken in den Containern.
Die Lager sind als erste Anlaufstellen für die Verfahren konzipiert, keine Orte, an denen die Schutzsuchenden lange bleiben sollen. Momentan befinden sich rund 1.200 Menschen hinter dem Stacheldraht, wie der UNHCR festhält. Mehr als die Hälfte der Menschen sind Syrer, rund 25 Prozent Kinder. Das Lager kann fast doppelt so viele Menschen aufnehmen. Im Moment laufen die Prozesse zügig ab, wie der Flüchtlings-Hochkommissar bescheinigt.
Aber Heinrich erfährt, dass es nicht immer so klappt, dass Menschen dort teilweise mehrere Monate bleiben. In regelmäßigen Abständen kommt das System an seine Grenzen. Etwa im vergangenen Winter, als hier rund 4.000 Menschen ausharrten, wie ein Mitarbeiter zugibt. Drei syrische Männer geben an, ein Jahr hier verbracht zu haben.
In einem Teil des Lagers hat es ohnehin niemand eilig. In der Abschiebehaft sind jene untergebracht, deren Asylantrag abgelehnt wurde oder deren Antrag gar nicht zulässig ist. So ergeht es vielen Menschen aus Afghanistan, Syrien, Pakistan oder Somalia. Der Grund: der EU-Türkei-Deal. Die Menschen seien über die Türkei und damit einen „sicheren Drittstaat“ eingereist und müssten dorthin zurück, besagt dieser. Auf dem Papier warten sie hier auf ihre Rückführung. Doch praktisch hat es seit März 2020 keine mehr in die Türkei gegeben. Die Juristen der deutsch-griechischen Organisation „Equal Rights Beyond Borders“ sprechen von einem „kafkaesken System“.
Läuft es optimal für die Geflüchteten, wird ihr Asylantrag angenommen. Die Betroffenen warten dann auf ihre Papiere. 30 Tage nach der positiven Entscheidung müssen sie das Lager jedoch verlassen. Ohne Papiere haben sie keine Aussicht auf legale Arbeit oder eine Wohnung. In der Regel landen sie zunächst in der Obdachlosigkeit. „Sie werden damit systematisch in die Illegalität gedrängt“, sagt die Juristin Anne Pertsch. Es sei die Gelegenheit für Menschenhändler. Oft folgten illegale Arbeitsverhältnisse in der Landwirtschaft, im Tourismus, in der Sexarbeit.
„Wenn die EU für rund 34 Millionen Euro ein Lager errichtet, dann muss die EU auch die Verantwortung dafür tragen, dass Menschen dort unter Bedingungen leben, die ein Mindestmaß an Anständigkeit haben. Und wenn diese Lager Blaupausen für weitere Lager dieser Art sind, dann müssen es Lernorte sein. Dann braucht es ein Monitoring. Werden Missstände festgestellt, müssen sie behoben werden“, fordert Heinrich.
Besonders das Schicksal der Kinder im Lager berührt Gabriele Hoerschelmann, Direktorin des bayerischen Partnerschafts- und Entwicklungszentrums „Mission EineWelt“. Das Lager auf Kos, das in der Gluthitze der Insel liegt, empfindet sie als ein „in Beton gegossenes Monument der Abschreckung“. Die Botschaft richtet sich nach innen und nach außen. Jene nach innen, an Griechen und Europäer, lautet wohl: Wir haben alles im Griff.
Uwe Becker hat sich wissenschaftlich wie kirchlich viel mit Migrationspolitik beschäftigt. Er ist Präsident der Evangelischen Hochschule Darmstadt. Nach dem Besuch des Lagers schüttelt er den Kopf. Es zeige die Absurdität des europäischen Systems. „Menschen werden sinnlos kaserniert, monatelang im Asylverfahren gehalten, um letztendlich zur Reise in den Norden entlassen zu werden“, sagt er.
Denn Griechenland ist für die Mehrheit der Migranten und Flüchtlinge nur ein Transitland. Sie wollen nach Deutschland, in die Niederlande oder nach Großbritannien. Die Lebensbedingungen für Geflüchtete in Griechenland gelten als so schlecht, dass deutsche Gerichte so gut wie keine Schutzsuchenden zurückschicken.