Nahbarer Theologe und Anwalt der "kleinen Leute"
Düsseldorf (epd). Soziale Gerechtigkeit, Sterbehilfe, Krieg und Frieden: Die Stimme von Nikolaus Schneider zu den Themen der Zeit ist nach wie vor gefragt. „Ich finde es wichtig, dass sich Glaube nach außen wendet und Menschen anspricht“, sagt der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). „Auch das Private hat gesellschaftliche Dimensionen.“
In Vorträgen, Predigten und Interviews spricht Schneider über existenzielle Fragen der Menschen, häufig zusammen mit seiner Frau Anne - und hält dabei auch mit Krisen nicht hinterm Berg. Heute, am 3. September 2022, wird der nahbare Theologe aus einfachen Verhältnissen, der sich als Fürsprecher der „kleinen Leute“ versteht, 75 Jahre alt.
Eine Karriere in kirchlichen Spitzenämtern hat der von der 68er-Bewegung geprägte Sohn eines Duisburger Stahlkochers nie geplant, er macht sie dann aber doch: Nach dem Rücktritt von Margot Käßmann als EKD-Ratsvorsitzende rückt der geerdete, warmherzige Theologe im Februar 2010 plötzlich an die Spitze des deutschen Protestantismus. Schneider wirkt vor allem als Moderator, der auf Ausgleich und Konsens bedacht ist.
Immer wieder kritisiert er die soziale Spaltung im Land, bemüht sich um mehr Ökumene auch mit Blick auf das 500. Reformationsjubiläum 2017 und nimmt den Gesprächsfaden von EKD und Islamverbänden neu auf. 2011 besucht er deutsche Soldaten in Afghanistan und trifft in Erfurt Papst Benedikt XVI. - ein Höhepunkt seiner Amtszeit.
In der Evangelischen Kirche im Rheinland, der zweitgrößten deutschen Landeskirche, prägt Schneider als Präses ab 2003 eine Dekade, der er das Etikett „fromm und sozial engagiert“ gibt. Ein Arbeitslosenfonds wird eingerichtet, das Verhältnis zum Judentum in den Blick genommen, auch einige Reformen werden angestoßen. Millionenverluste bei einem kircheneigenen Unternehmen trüben aber am Ende die Bilanz. Nach Ende seiner Amtszeit 2013 zieht Schneider nach Berlin, um sich bis Herbst 2015 ganz dem Ehrenamt als EKD-Ratsvorsitzender widmen zu können.
Als bei seiner Frau Anne Brustkrebs diagnostiziert wird, entschließt sich Schneider jedoch im Juni 2014 zum vorzeitigen Rücktritt: „Jetzt ist eine Zeit, da geht die Liebe zu meiner Frau vor.“ Anne Schneider, die den Krebs ein Jahr später besiegt hat, denkt über Suizid mit ärztlicher Hilfe nach, während ihr Mann Nikolaus darin eine Tabugrenze sieht. Dennoch würde er sie im Zweifelsfall zum Suizid in die Schweiz begleiten. „Nach über 50 Jahren Ehe werde ich sie doch beim Sterben nicht allein lassen“, sagt er auch heute noch.
Die Kontroverse trägt das Ehepaar mit Vorträgen und einem Buch öffentlich aus. Der Umgang mit Tod und Sterben habe sich wegen seiner persönlichen Erfahrungen neben der sozialen Frage zu einem zweiten Lebensthema entwickelt, sagt Nikolaus Schneider. Zu diesen Erfahrungen gehört auch der Krebstod von Meike, der jüngsten von drei Töchtern, im Jahr 2005 im Alter von 22 Jahren, zu dem es ebenfalls ein Buch der Eheleute gibt. Auch wenn er keinen unmittelbaren Schmerz mehr empfinde, habe er nach wie vor „ein großes Unverständnis“ über Meikes frühen Tod.
Geboren wird Schneider am 3. September 1947 in Duisburg. Die atheistischen Eltern wurden in der Arbeiterbewegung groß, zum christlichen Glauben findet der jugendliche Schneider über Religionsunterricht, Konfirmation und eine lebendige kirchliche Jugendarbeit. Als er mit Leidenschaft Theologie studiert, argwöhnt sein Vater, er wolle nun auch „das Volk betrügen“, aber es geht Schneider von Anfang an um Identitätsfragen, die auch der Vater teilt: Wer bin ich, welche Werte sind wichtig, wie verstehe ich die Welt?
In der Bibel gehe es um Menschenwürde, Frieden und soziale Schutzrechte für die „kleinen Leute“, betont Schneider, der heute mit seiner Frau in Essen lebt. Er verstehe das Evangelium als „Kraft, die die Welt verändern will und nicht nur die Seele des Menschen“. Nach dem Studium in Wuppertal, Göttingen und Münster wird Schneider 1976 Pfarrer in Duisburg-Rheinhausen und kämpft an der Seite der Bergleute und Stahlkocher, die er zutiefst versteht, für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze. Ab 1997 rheinischer Vizepräses, übernimmt er 2003 von Manfred Kock das Amt des Präses und wird Mitglied des Rates der EKD.
Zu weiteren Spitzenämtern zählen der Aufsichtsratsvorsitz beim Evangelischen Entwicklungsdienst (2005-2010) und der Vorsitz im Diakonischen Rat der EKD (2009-2010). Er erhält zahlreiche Auszeichnungen, darunter das Bundesverdienstkreuz, den Landesverdienstorden NRW, die Buber-Rosenzweig-Medaille und den Leo-Baeck-Preis, und ist Ehrendoktor der Kirchlichen Hochschule Wuppertal.