Neuorientierung für eine nachhaltige Landwirtschaft

Vorwort

Wort des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz und des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz haben in den vergangenen Jahrzehnten die Entwicklung der Landwirtschaft in Deutschland, in der Europäischen Union und in den Entwicklungsländern mit verschiedenen Stellungnahmen begleitet(1). Der Situation der landwirtschaftlichen Familien, die von dem tiefgreifenden Strukturwandel unmittelbar betroffen sind, haben sie ihre besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Eine Aktualisierung und Weiterentwicklung dieser Stellungnahmen ist notwendig, weil sich die Voraussetzungen für die in der Landwirtschaft Tätigen grundlegend geändert haben: nicht zuletzt durch die Einbindung der regionalen Agrarwirtschaft in das weltweite Handelssystem – insbesondere seit der Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) im Jahr 1995 – sowie durch die Folgen ihrer weitgehenden Integration in den europäischen Binnenmarkt.

So lastet auf vielen bäuerlichen Familienbetrieben der Entscheidungsdruck, sich durch stetiges Wachstum den hohen ökonomischen Anforderungen anzupassen, sich auf neue Richtlinien umzustellen oder, was immer häufiger geschieht, ganz aufzugeben. Neue Aufgaben und Möglichkeiten zeichnen sich zudem durch die Erweiterung der Europäischen Union in den kommenden Jahren ab. Um den vielfältigen Herausforderungen gerecht zu werden, stehen wir vor einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, die nur gemeinsam von den in der Landwirtschaft Tätigen und den Verbrauchern, aber auch von der Futtermittelindustrie, Agrarchemie und Agrarforschung sowie den Verbänden und politisch Verantwortlichen bewältigt werden kann.

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz haben eine Arbeitsgruppe damit beauftragt, einen Diskussionsbeitrag auszuarbeiten, um so an der kirchlichen und öffentlichen Willensbildung mitzuwirken. Es soll ein Beitrag zur Diskussion sein in der schwierigen Aufgabe, eine Verständigung zwischen den unterschiedlichen Perspektiven und Interessen zu erreichen. Die europäische Agrarpolitik steht vor schwerwiegenden Entscheidungen, die zu einer Zwischenbilanz ihrer bisherigen Verfahren nötigt. Gleichzeitig stehen im Weltmaßstab im Rahmen der Welthandelsorganisation neue grundsätzliche Vertragsverhandlungen bevor.

In ihrem „Gemeinsamen Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland: Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ haben die beiden Kirchen 1997 das Prinzip der Nachhaltigkeit als ethische Leitperspektive für eine zukünftige Landwirtschaft herausgestellt(2) . Die Verantwortung für die Schöpfung ist im christlichen Denken zentrales Motiv. Sie ist darin begründet, dass der Mensch Geschöpf unter Mitgeschöpfen ist und in eine Schicksalsgemeinschaft mit allen Geschöpfen eingebunden ist. Der Schöpfungsauftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren, sie zu kultivieren und sie zu einem für alle bewohnbaren Lebensraum zu gestalten, muss in jeder Generation neu verstanden und konkretisiert werden. Globale und regionale Verantwortung stehen heute in komplementärer Beziehung zueinander und verbieten einfache Lösungen und verklärende Visionen.

Nachhaltige Landbewirtschaftung heißt konkret: Die natürlichen Ressourcen und ihre Funktionsfähigkeit sollen dauerhaft für heutige und nachfolgende Generationen erhalten werden. Das bedeutet insbesondere, dass die Bodenfruchtbarkeit und die biologische Vielfalt erhalten bzw. verbessert, bereits eingetretene Schädigungen aufgearbeitet und nach Möglichkeit rückgängig gemacht werden müssen. Hier werden Zielkonflikte offensichtlich, die von allen Seiten die Bereitschaft zu Kompromissen sowie zur echten Auseinandersetzung mit den Erfordernissen der Nachhaltigkeit und ihre Anwendung verlangen. Diese ist auf Vernetzungen und Synergien zwischen ökonomischen, ökologischen und sozialen Notwendigkeiten sowie auf globale und intergenerative Gerechtigkeit angelegt. So macht eine wirksame Bekämpfung der Armut für die 800 Millionen hungernden Menschen auf der Erde eine tiefgreifende Reform der globalen – wie ebenso auch unserer nationalen – Agrarpolitik unumgänglich.

Besondere Aufmerksamkeit widmet der vorliegende Diskussionsbeitrag dem Schutz der Tiere und ihrer artgerechten und flächengebundenen Haltung. Die Kirchen haben bereits in früheren Stellungnahmen(3)  Kriterien entwickelt, in welchem Maße bestimmte Haltungsbedingungen geeignet sind, den Eigenwert der Tiere zu achten sowie zur Vermeidung von Schmerzen, Leiden und Schäden beizutragen.
Auch wird darauf aufmerksam gemacht, dass der Anteil von Nahrungsmitteln am Budget eines privaten Haushalts in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zurückgegangen ist. Einerseits steigen die Erwartungen an die Qualität der Lebensmittel mit Recht und werden zunehmend differenzierter, andererseits entscheidet sich ein Großteil der Verbraucher beim Einkauf und im Ernährungsverhalten für die Lebensmittel, die durch maximale Nutzung von Technik und Rationalisierung einen relativ geringen Preis haben. Damit wird den Bemühungen um eine Ökologisierung der Landbewirtschaftung häufig entgegengewirkt. Aufgrund dieser Entwicklung sind viele in der Landwirtschaft Tätige verunsichert. Die Förderung einer neuen Kultur und Ethik der Ernährung ist daher ein Grundanliegen dieser Schrift.

Den Kirchen kommt die besondere Verantwortung zu, daran mitzuwirken, die offensichtliche Distanz zwischen den Verbrauchern und den Erzeugern von Lebensmitteln sowie die Verunsicherung, die in den vergangenen Jahren auf beiden Seiten entstanden ist, zu überwinden. Die Kirchen suchen das Gespräch mit der Landbevölkerung, indem sie ihre geistlichen und seelsorgerlichen Aufgaben wahrnehmen und zugleich zur Förderung der notwendigen Dialogkultur beitragen. In diese sollen die in der Landwirtschaft und im Tier- und Naturschutz Tätigen, die Verbraucher, die Organisationen der Entwicklungshilfe sowie die in Politik und Wissenschaft Tätigen einbezogen werden. Wir sind dankbar für das große Engagement unserer kirchlichen Dienste auf dem Lande für Menschen, die den Kirchen traditionell eng verbunden sind.

Die Kirchen erinnern daran, dass das Leben auf dem Land in besonderer Weise von der Erkenntnis geprägt ist, angewiesen zu sein auf die Gaben der Schöpfung. Dies wird uns in Zeiten einschneidender Naturkatastrophen, die ganze Ernten vernichten können, besonders bewusst. Im Gottesdienst empfangen Christen Gottes Gabe und antworten mit Gebet, Bekenntnis und Dank. Aus dieser Dankbarkeit heraus werden Christen zum Dienst an der Welt befreit und beauftragt. Wir hoffen, dass diese Schrift einen fruchtbaren Beitrag dazu leistet, gegenseitiges Verständnis in der Diskussion zu wecken, Entscheidungshilfen zu geben und die uns allen aufgegebene Achtung gegenüber der Schöpfung zu verwirklichen.

Bonn / Hannover, im März 2003

Karl Kardinal Lehmann
Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz 

Präses Manfred Kock
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland


Fussnoten:

(1) So z. B. die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland „Landwirtschaft im Spannungsfeld zwischen Wachsen und Weichen, Ökologie und Ökonomie, Hunger und Überfluss“ (Gütersloh 1984, 7. Auflage 1987), das Wort der deutschen Bischöfe „Zur Lage der Landwirtschaft“ (Bonn 1989), Erklärung der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der deutschen Bischöfe „Handeln für die Zukunft der Schöpfung“ (Bonn 1998) oder die Studie der Kammer für Entwicklung und Umwelt der Evangelischen Kirche in Deutschland „Ernährungssicherung und Nachhaltige Entwicklung“ (Hannover 2000).
  
(2) S. Gemeinsames Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Hannover / Bonn 1997, Textziffer 122 – 125.

(3) S. Zur Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf. Ein Diskussionsbeitrag des Wissenschaftlichen Beirats des Beauftragten für Umweltfragen des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover 19912; Die Verantwortung des Menschen für das Tier, Deutsche Bischofskonferenz, Bonn 1993.

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