Neuorientierung für eine nachhaltige Landwirtschaft

3 Ethische Leitlinien für eine nachhaltige Landwirtschaft

(40) Der Prozess einer Neuorientierung der Landwirtschaft erfordert ein tiefgreifendes Umdenken auf allen Ebenen. Einiges konnte schon erreicht werden im Blick auf die Rückführung der Intensität landwirtschaftlicher Produktion und auf die Sensibilisierung für Fragen des Umwelt- und Tierschutzes. Der Weg zur Überwindung einseitiger Anklagen und eingefahrener Verhaltensmuster, die zu wechselseitigen Blockaden führen, ist jedoch noch weit. Es mangelt an ethischer Orientierung, internationaler Solidarität, verlässlichen Rahmenbedingungen, sektorübergreifenden Reformen, der Bereitschaft zu kooperativem Handeln und dem Mut zur Innovation. Die Zukunft der Landwirtschaft hängt davon ab, ob der gegenwärtige Reformdruck in den kommenden Monaten und Jahren als Chance für eine grundsätzliche Neuorientierung genutzt wird. Dafür wollen die folgenden Überlegungen aus christlicher Perspektive einige ethische Leitlinien beitragen.

3.1  Verantwortung für die Schöpfung durch nachhaltiges Wirtschaften

(41) Ethische Leitperspektive für eine Reform der Landwirtschaft ist das Prinzip Nachhaltigkeit, dem sich die Kirchen aus christlicher Schöpfungsverantwortung verpflichtet haben(14). Es ist Wegweiser für eine Integration ökologischer, ökonomischer und sozialer Belange. Das bedeutet für die Landwirtschaft, dass die Produktionsformen und betriebswirtschaftlichen Rahmenbedingungen eine Balance zwischen Wettbewerbsfähigkeit einerseits und Umwelt-, Sozial- und Kulturverträglichkeit andererseits anstreben müssen.

(42) Vom christlichen Schöpfungsglauben her lässt sich das Prinzip der Nachhaltigkeit ethisch vertiefen: Er fordert einen gärtnerischen Umgang mit der Natur (vgl. Gen 2, 15) und erkennt den Eigenwert der Tiere, Pflanzen und Landschaften an. Die Erhaltung der Schöpfung verlangt zugleich Solidarität über Generationen und Grenzen hinweg. Sie setzt eine umfassende Solidarität mit den Armen voraus. Denn im Umgang mit der Schöpfung ist die Menschheit eine globale Risikogemeinschaft. Das gilt zunehmend auch für landwirtschaftliche Produkte und Produktionsverfahren.

(43) Eine nachhaltige Landwirtschaft ist nicht darauf ausgerichtet, das Letzte aus Boden und Tieren herauszuholen, sondern darauf, die Natur in ihrer ganzen Vielfalt als Nahrungsquelle und Lebensraum zu bewahren. Auch Wasser, Boden und Luft sind im ursprünglichen Wortsinn „Lebens-Mittel“. Das Prinzip der Nachhaltigkeit, das heute als Überlebensprinzip der Menschheit eine globale Bedeutung erhalten hat, entspricht alten Erfahrungen bäuerlichen Wirtschaftens: Im Wald soll nicht mehr Holz geschlagen werden, als nachwächst. Dem Boden sollen nicht mehr Nährstoffe entnommen werden, als ihm zurückgegeben werden können. Das Vieh soll so gehalten werden, dass sein Wohlbefinden und Bestand auf Dauer gesichert bleibt. Der Hof soll in möglichst gutem Zustand als langfristige Produktionsgrundlage weitergegeben werden. Er ist mit seinen Menschen, seinem Boden, seinen Tieren und Pflanzen Bezugspunkt für ein Denken in langen Generationenketten. In der tiefen Verbundenheit mit ihm konkretisiert sich die Verantwortung für die Zukunft. Das Leitbild der Nachhaltigkeit verallgemeinert eine solche Haltung der inneren Verbundenheit mit der Schöpfung zum ethischen Leitprinzip für eine überlebensfähige Lebens- und Wirtschaftsweise.

(44) Nachhaltigkeit erfordert einen Wandel der Werte und des Verständnisses von Lebensqualität. Sie basiert auf einer Kultur der Achtsamkeit und des rechten Maßes, in der die individuellen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Dimensionen des Lebens nicht gegeneinander ausgespielt, sondern in ihrer wechselseitigen Bedingtheit erkannt werden. Nachhaltigkeit ist also nicht nur ein ökologisches Prinzip, sondern vielmehr eine Grundeinstellung zum Leben, die darauf ausgerichtet ist, Ressourcen nicht auszubeuten, sondern so mit lebenden Systemen in Natur und Gesellschaft umzugehen, dass sie ihre Regenerationsfähigkeit behalten. Da die Regenerations- und Erneuerungsfähigkeit die grundlegende Eigenschaft des Lebendigen ist, kann man Nachhaltigkeit als Lebensprinzip definieren. Eine Kultur der Nachhaltigkeit hat auch eine theologische Dimension, insofern der Mensch dabei durch die Achtung seiner Mitgeschöpfe den Schöpfer ehrt und so seinen angemessenen und zukunftsfähigen Ort in der Schöpfung wiederfindet.

(45) Das Prinzip der Nachhaltigkeit verknüpft die Ziele einer umwelt- und generationenverträglichen sowie der internationalen Solidarität verpflichteten Lebens- und Wirtschaftsweise. Es betrachtet wirtschaftliches Handeln nur dann als langfristig vernünftig, wenn es sich in die ökologischen Stoffkreisläufe, von denen der Mensch abhängt, einfügt und diese schützt. „Auf dem Weg in eine zukunftsfähige Gesellschaft gilt es, den Ressourcenverbrauch und die Umweltbelastungen von der wirtschaftlichen Entwicklung weiter und deutlicher abzukoppeln, als dies bisher der Fall war, und die Produktionsprozesse von Anfang an in die natürlichen Kreisläufe einzubinden“(15). Nachhaltigkeit braucht Innovationen für eine Entkoppelung von wirtschaftlicher Entwicklung und Umweltverbrauch. Entscheidend hierfür ist die vorausschauende Berücksichtigung der vielfältigen Beziehungs- und Vernetzungszusammenhänge ökonomischer, ökologischer und sozialer Entwicklungen. Im Agrarbereich weist das Prinzip der Nachhaltigkeit den Weg zu einer multifunktionalen Landwirtschaft, die Lebensmittelerzeugung, Landschaftspflege und Naturschutz im Rahmen integrierter Konzepte miteinander verbindet. Daran sollten sich sowohl das Berufsbild der Landwirte als auch die Agrarpolitik orientieren.

(46) Gerade weil der Begriff der Nachhaltigkeit aus der bäuerlichen Lebenswirklichkeit kommt, kann die Landwirtschaft Vorreiter und Vorbild für eine dauerhaft naturverträgliche Wirtschafts- und Lebensweise sein. Von der Naturnähe ihres Berufes her können die in der Landwirtschaft Tätigen eine besondere Sensibilität für ökologische Fragen entwickeln. Sie brauchen jedoch intensive Unterstützung von Politik und Gesellschaft, um diese Sensibilität im Ringen zwischen Tradition und Fortschritt angesichts der neuen ökonomischen Herausforderungen heute neu zur Geltung zu bringen.

3.2 Neuorientierung in Solidarität mit den Landwirtinnen und Landwirten

(47) Nur mit neuen Perspektiven der ländlichen Entwicklung sowie entsprechenden Reformen der politischen Rahmenbedingungen haben die Landwirtinnen und Landwirte in Europa eine Zukunft. Dabei ist davon auszugehen, dass ein hinreichendes Auskommen bei der Vielzahl an Aufgaben nicht mehr allein über die Vermarktung von Lebensmitteln möglich sein wird. Die finanzielle Anerkennung muss sich auf das gesamte Spektrum der Leistungen beziehen, die die Gesellschaft von ihnen erwartet. So verdienen insbesondere die Beiträge im Naturschutz, in der Landschaftspflege und in der ländlichen Kultur, die von den Landwirten erwartet und erbracht werden, angemessene Honorierung und gezielte Förderung. Es handelt sich um Güter, für die die Allgemeinheit als Nachfrager auftritt und zahlt und für die die gesamte Gesellschaft eine Mitverantwortung trägt. Eine wichtige Aufgabe ist auch die Bereitstellung erneuerbarer Energieträger und Rohstoffe. Die wissenschaftliche Forschung ist herausgefordert, neue umweltverträgliche und marktfähige Produkte und Produktionsverfahren zu erschließen.

(48) Im Ringen um neue Perspektiven für eine natur- und schöpfungsverträgliche Landwirtschaft sind die in der Landwirtschaft Tätigen auf eine kritische Solidarität und Unterstützung für die notwendigen Wandlungsprozesse angewiesen. Für die Kirchen ergibt sich eine besondere Solidarität mit ihnen nicht zuletzt aus einer tiefen Verbundenheit in historisch gewachsenen Traditionen, Festen und Bräuchen, die gerade auf dem Land eine lebendige Kultur des Glaubens bilden. Wir ermutigen und unterstützen die in der Landwirtschaft Tätigen, ihre Chancen des Aufbruchs in eine zukunftsfähige Entwicklung wahrzunehmen und eine nachhaltig schöpfungsgerechte Wirtschaftsweise zu praktizieren.

(49) Fehlentwicklungen in der Landwirtschaft sind vielfach das Ergebnis falsch gesetzter politischer Rahmenbedingungen. Die ethischen Fragen münden ein in ein Ringen um politische Lösungen, die verantwortliches Handeln der Individuen strukturell ermöglichen und stabilisieren. Im Blick auf die europäische Landwirtschaftspolitik ist dabei das vorrangige Ziel, die Anreizsysteme zu ändern: Die vielfältigen Subventionen sind häufig ökologisch und volkswirtschaftlich kontraproduktiv und sollten in Unterstützungen mit gesamtgesellschaftlich sinnvoller Lenkungswirkung umgewandelt werden. Eine neue gemeinwohlverträgliche Agrarpolitik kann keine isolierte Standespolitik mehr sein, sondern umfasst vielmehr eine integrierte Agrar-, Umwelt-, Sozial-, Wirtschafts-, Welternährungs- und Raumordnungspolitik im ländlichen Raum. Nachhaltige Landwirtschaftspolitik ist eine Querschnittsaufgabe, die sich als wichtiges Bindeglied zwischen verschiedenen Politiksektoren erweisen könnte. Im Prozess der Neuorientierung für eine nachhaltige Entwicklung brauchen die in der Landwirtschaft Tätigen die kritische Solidarität einer Vielfalt unterschiedlicher Akteure in Politik und Gesellschaft.

(50) Die Leistungen der Landwirtschaft für die Erhaltung der Umwelt und für die Bewahrung der Schöpfung müssen entsprechend honoriert werden. Die Solidarität mit denjenigen, die sich in der Landwirtschaft um ein nachhaltiges Wirtschaften bemühen, fordert eine Verstärkung der Anreize hierfür. Ein Teil der Naturschutzleistung in der Landwirtschaft kann jedoch von der Gesellschaft aufgrund der Gemeinwohlpflichtigkeit des Eigentums (in diesem Fall des Bodens) unentgeltlich erwartet werden. Unter Gemeinwohlpflichtigkeit fällt das, was die Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit als standort- und ordnungsgemäß definiert. Die in der Landwirtschaft Tätigen haben ein Recht auf eine klare gesetzliche Regelung hierzu.

3.3 Tiere als Mitgeschöpfe achten

(51) Tiere sind nach christlichem Schöpfungsverständnis Mitgeschöpfe des Menschen. Seit 1986 ist die Wertschätzung der Tiere als Mitgeschöpfe, deren Leben und Wohlbefinden zu schützen ist, auch im Tierschutzgesetz § 1 verankert. Im Bürgerlichen Gesetzbuch gilt das Tier seit 1990 nicht mehr als bloße „Sache“, sondern hat einen eigenen rechtlichen Status. Nach biblischem Zeugnis sind auch die Tiere in den Bund mit Gott (Gen 9) und in die Erwartung einer endzeitlichen Vollendung der Schöpfung (Röm 8) eingeschlossen. Gott erlöst die Schöpfung, nicht nur den Menschen. Es geht dabei auch um ein „versöhntes Miteinander“ von Mensch und Tier.

(52) Für Christinnen und Christen ist die Welt mit ihren Tieren und Pflanzen mehr als ein Rohstofflager, mehr als Material für menschliche Zwecke. Sie ist in ihrer Dynamik und Vielfalt Schöpfung Gottes und Ort seiner Gegenwart, die immer dann sichtbar wird, wenn der Mensch seinen Mitmenschen und Mitgeschöpfen in Achtung und Liebe begegnet. Diese Grundperspektive christlicher Schöpfungsverantwortung darf auch im landwirtschaftlichen Umgang mit Tieren nicht aus dem Blick geraten.(16)

(53) Die Tötung von Tieren ist in der von Konflikten geprägten Ordnung der Schöpfung unvermeidlich, ihre ethische Rechtfertigung unterliegt jedoch vielfältigen Grenzen und Bedingungen. Die europaweite Verbrennungsaktion im Jahr 2001 von Millionen von Rindern und Schafen im Zusammenhang mit BSE und MKS muss Anlass sein, grundsätzlich über unser Verhältnis zum Tier nachzudenken und es neu zu bestimmen. Wir müssen wieder lernen, allem Lebendigen mit der jedem Lebewesen gebührenden Ehrfurcht zu begegnen. Es ist an der Zeit, Tiere als Geschöpfe anstatt nur als „lebendige Ware“ zu behandeln und unser Konsumverhalten, die Landwirtschaft und die Agrarpolitik, aber auch den privaten Umgang mit Tieren, z. B. Haus- und Zootieren, an ethischen Kriterien, die den Eigenwert der Tiere achten, auszurichten.

(54) Gemäß § 2 des Tierschutzgesetzes müssen diejenigen, die Tiere halten oder betreuen, diese ihrer Art und ihren Bedürfnissen entsprechend angemessen ernähren, pflegen und verhaltensgerecht unterbringen. Sie dürfen weiterhin die Möglichkeit der Tiere zu artgerechter Bewegung nicht so einschränken, dass ihnen Schmerzen, vermeidbare Leiden oder Schäden zugefügt werden. Damit sind aber einige der zur Zeit noch zugelassenen Haltungssysteme der landwirtschaftlichen Nutztiere nicht mehr vereinbar. Die herkömmliche Käfighaltung für Hühner ist ethisch ebenso problematisch wie Schweinemastbetriebe ohne Tageslicht und ohne hinreichende Bewegungsfreiheit oder Entenmastbetriebe ohne Licht und Bademöglichkeiten.

(55) Mit dem Kriterium der Tiergerechtigkeit wird beschrieben, in welchem Maß bestimmte Haltungsbedingungen dem Tier die Voraussetzungen zur Vermeidung von Schmerzen, Leiden oder Schäden sowie zur Sicherung von Wohlbefinden bieten. Anhaltspunkte hierzu könnten sein: Ruhe-, Ausscheidungs-, Ernährungs-, Fortpflanzungs-, Fortbewegungs-, Sozial-, Erkundungs- und Spielverhalten. Kriterien, die sich auf diese Aspekte beziehen, muss in Zukunft bei Zertifizierungs- und Genehmigungsverfahren unbedingt Rechnung getragen werden.

(56) In der Praxis gibt es allerdings vielfältige Schwierigkeiten für eine Durchsetzung dieser Kriterien: So sind beispielsweise die gängigen Hybridhühner oder ﷓schweine für andere Haltungsformen z. T. überhaupt nicht geeignet. Das genetische Material für robustere Tierrassen ist weitgehend verloren gegangen. Die einseitige Selektion auf Hochleistung hat zu einer enormen Verengung der genetischen Basis von Hochleistungsrassen – bis hin zur Anhäufung von genetischen Defekten – geführt. Die Gentechnik und das Klonen von Tieren stellen die nächsten Beschleunigungsstufen der bisherigen Entwicklung dar: Die Rassen werden genetisch besser an die Wirtschaftlichkeit und Technologien angepasst, und leider nicht umgekehrt. Dem muss Einhalt geboten werden.

3.4 Globale Verantwortung und Welternährung

(57) Weltweite Verantwortung ist eine unverzichtbare Dimension nachhaltiger Entwicklung. Ihre Basis ist das Prinzip der Solidarität, die nach Maßgabe christlicher Ethik unteilbar ist und folglich global auf die gesamte Menschheit angewendet werden muss. Für die Kirchen ist dabei die Solidarität mit den Schwächsten von zentraler Bedeutung. Christinnen und Christen können die weltweit wachsende Ungleichheit und die Elendssituation der über eine Milliarde Menschen, deren Einkommen unter einem Dollar pro Tag beträgt, die als absolut arm betrachtet werden und oft Hunger leiden(17), nicht schweigend hinnehmen. Die biblische Option für die Armen verpflichtet sie zur besonderen Solidarität mit den Kleinbauern in Entwicklungsländern. Diese muss sich nicht nur karitativ in unmittelbaren Hilfeleistungen äußern, sondern vor allem in Strukturanpassungen für mehr Gerechtigkeit in den weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Die Landwirtschaft ist ein Schlüsselfaktor für die Bekämpfung von Hunger und Armut.

(58) Auf dieser Grundlage ist es ethisch nicht hinnehmbar, dass trotz der Überschüsse in der Agrarproduktion der Industrieländer immer mehr Menschen in Entwicklungsländern an Hunger und Unterernährung leiden. Nach Maßgabe des Subsidiaritätsprinzips geht es dabei vor allem um Hilfe zur Selbsthilfe. Gerade im landwirtschaftlichen Bereich ist es von entscheidender Bedeutung, die Chancen der Entwicklungsländer zur selbständigen Versorgung zu verbessern. „Die Versorgungssituation der Entwicklungsländer muss vor allem durch den Ausbau ihrer Eigenproduktion verbessert werden. Dieser Prozess sollte weder durch Agrarexporte der Industriestaaten noch durch EG-Importe an Futter-Rohstoffen aus Entwicklungsländern gefährdet werden"(18). Wenn Exportdumping der Industriestaaten in Entwicklungsländern Märkte zerstört, widerspricht dies dem ethischen Prinzip der globalen Solidarität.

(59) Das Ungleichgewicht zwischen den hohen Agrarsubventionen in den Industrieländern und der geringen Unterstützung für die Landwirtschaft in Entwicklungsländern muss durch eine teilweise Konversion der Agrarunterstützung zugunsten der Welternährung unbedingt korrigiert werden. Auch die extreme Ungleichbehandlung der Entwicklungsländer durch das WTO-Vertragswerk muss korrigiert werden. Viele Entwicklungsländer fordern eine sog. „Development Box“, mit der Ausnahmeregeln für den Grundnahrungsmittelbereich garantiert werden sollen. Eine Reform dieses Vertrages wäre ein wesentlicher Beitrag der Agrarpolitik zur globalen Friedens-, Umwelt- und Ernährungsordnung.

(60) Die tiefen Konflikte zwischen betriebs- und volkswirtschaftlichen Erfordernissen und dem Weltgemeinwohl können nur durch eine grundlegende Reform der Subventionssysteme und der internationalen Handelsbedingungen aufgelöst werden. Folgt man dem Konzept einer an ökologischen und sozialen Kriterien orientierten Marktwirtschaft, ist die weitere marktwirtschaftliche Liberalisierung des internationalen Agrarmarktes nur in dem Maß verantwortbar, in dem gleichzeitig ein globales Ernährungssicherheitsnetz installiert wird und Mindeststandards des Umwelt-, Verbraucher- und Tierschutzes im WTO-Vertragswerk eingeführt werden. Diese sollten in Absprache mit den Entwicklungsländern definiert werden. Auch der Menschenrechtsausschuss der UN hat sich im Jahr 2002 dahingehend geäußert, dass er eine Umsetzung des „Rechts auf Nahrung“ in den Liberalisierungsverhandlungen darin verwirklicht sieht, dass die Agrarliberalisierung unbedingt mit sozialen Sicherungsnetzen einher gehen muss.

(61) Die sich aus dem Prinzip der Solidarität ergebende Forderung nach echten Chancen für die Entwicklungsländer auf dem Weltmarkt heißt nicht, dass wir unsere Landwirtschaft einem radikalen Liberalisierungsprozess und der Streichung aller Agrarunterstützungen unterziehen sollen. Doch ist hier sehr viel mehr Augenmaß als in der Vergangenheit geboten. Die reichen Gesellschaften machen sich unglaubwürdig, wenn sie ihren Wohlstand lediglich dazu nutzen, im Alleingang und nur für sich selbst Inseln einer intakten Umwelt, einer fürsorglichen Behandlung der Tiere und einer guten sozialen Absicherung zu schaffen, ohne dabei zu berücksichtigen, dass gleichzeitig viele Länder der Erde unter extremer Armut, Umweltzerstörung und Gesundheitsgefährdung durch vergiftete Nahrungsmittel leiden. Neben unserem verstärkten finanziellen Engagement für die Welternährung ist ebenso eine weltoffene, entwicklungspolitisch kluge Standardentwicklung nötig.

3.5 Subsidiarität und Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe

(62) Das sozialethische Prinzip der Subsidiarität ist für die Landwirtschaft von zentraler Bedeutung. Gemeint ist der Vorrang für Selbständigkeit und Eigeninitiative kleinerer Einheiten. Was auf unterer Ebene zu leisten und zu gestalten ist, soll nicht von hierarchisch höheren Ebenen entschieden werden. Subsidiarität wendet sich gegen einseitige Zentralisierung, weil sie auf Dauer zu einer Entmündigung der kleineren Einheiten und zu geringerer Flexibilität in der Anpassung an spezifische Standortvoraussetzungen führt. Subsidiarität wurde 1992 mit dem Maastrichter Vertrag als ein Grundprinzip für den Aufbau der europäischen Einheit anerkannt. Sie befürwortet föderale Strukturen im Sinne von Einheit in Vielfalt.

(63) Einheitliche Regeln, die zu sehr ins Detail gehen, verhindern diese Vielfalt, die gerade für die europäische Tradition ein wichtiges Strukturmerkmal ist. Die unterschiedlichen ökologischen und soziokulturellen Standortbedingungen können in der Landwirtschaft oft besser in nationaler oder regionaler Eigenverantwortung berücksichtigt werden. Ein wichtiges Instrument zur subsidiären Dezentralisierung ist der weitere Ausbau einer Co-Finanzierung der Landwirtschaft durch einzelne Länderprogramme. Unterschiedliche Programme der einzelnen Bundesländer haben gute Wirkungen gezeigt, z. B. der Marktenlastungs- und Kulturlandschaftsausgleich MEKA in Baden-Württemberg, umweltgerechte Landwirtschaft in Sachsen oder das Kulturlandschaftsprogramm in Bayern.

(64) Aus dem Prinzip der Subsidiarität ergibt sich eine Option für die Regionalisierung. Die Regionalisierung von staatlichen Programmen dürfte in der Regel kein Problem sein und wird auch von der EU-Agrarpolitik zunehmend anerkannt, indem zentral nur ein Rahmen vorgegeben wird, der dann regional angepasst in konkrete Programme umgesetzt wird. Der gemeinsame Rahmen ist notwendig, um es zu keinen Wettbewerbsverzerrungen kommen zu lassen.

(65) Die Regionalisierung von Vermarktung und Ernährungsgewohnheiten innerhalb des gemeinsamen Rahmens ist zwar wünschenswert, aber nicht einfach. Man kämpft dabei gegen die Marktmacht riesiger Konzerne an, deren ökonomische Überlegenheit die zentralisierte Logistik ist und für die ein kleinräumlicher Warenkreislauf schwer zu verkraften ist. Dabei würde die Verstärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe zur Entwicklung im ländlichen Raum sowie zum Schutz kleinbäuerlicher Strukturen und alternativer Vermarktungskanäle – jenseits des Wettbewerbs auf den Weltmärkten mit Massenprodukten – beitragen. Sie vermeidet Verkehr und Verpackungsaufwand durch eine umweltfreundliche „Wirtschaft der kurzen Wege“. Sie verbindet sich mit einer Aufwertung des Handwerks vor Ort, das Ressourcen schont, indem es nicht nur produziert, sondern auch repariert. Regionalisierung bindet Kaufkraft und Wertschöpfung an die Region und trägt so zum Erhalt von Arbeitsplätzen im ländlichen Raum bei.

(66) Regionalisierung hat auch eine kulturelle Dimension und leistet durch die Pflege der regionalen Traditionen und Bräuche einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung sozialer Bindungen, zum Heimatbewusstsein und zur Lebensqualität. Sie ermöglicht Lebensqualität durch Nähe von sozialen Kontakten, Einkaufs- und Arbeitsmöglichkeiten sowie von kulturellen Angeboten und Initiativen. So können regionale Angebote und Produkte zugleich ein Wir-Gefühl für Dorf und Region vermitteln. Manche regionale Produkte aus der Landwirtschaft genießen einen Vertrauensvorschuss, weil sie als frisch, gesund und ökologisch wertvoll gelten.

(67) Seit einigen Jahren gibt es eine neue Neigung zur Regionalisierung. Die lebensmittelverarbeitende Industrie nutzt diese auf ihre Weise, indem sie bestimmte Anpassungen ihrer Produkte – z. B. an nationalen Geschmack, Sprache, Aufmachung oder Marketing – vornimmt. Moderne Informationstechniken machen solche industriellen Anpassungen der äußeren Gestalt von Lebensmitteln möglich. Ob sich die neue Wertschätzung regionaler Bezüge über solche Vermarktungsstrategien hinaus auch in dem oben beschriebenen Sinne für eine umfassende Stärkung kommunaler Eigenständigkeit in Kultur und Wirtschaft im Großen durchsetzen wird, ist schwer zu bemessen. Jedenfalls ist momentan deutlich, dass sich für regionalisierte Produkte, Handelsstrukturen und Dienstleistungen Marktnischen auftun, die unbedingt genutzt werden sollten, um die Vorteile auszuschöpfen. In der Praxis zeigt sich, dass die Nachfrage nach regionalen Produkten und nach ökologischen Produkt- bzw. Produktionskriterien in einem engen Zusammenhang stehen.

(68) Das Erwachen des regionalen Bewusstseins der Verbraucher und Produzenten kann eine Gegenreaktion auf Entfremdungen sein, die mit der Globalisierung unserer Lebensumstände einhergehen und von denen auch der Ernährungsbereich nicht ausgespart blieb. Gemäß der Maxime „Global denken – lokal handeln“, die dem Geist der Subsidiarität entspricht, geht es bei der Regionalisierung nicht um eine provinzielle Blockade der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik oder einen neuen protektionistischen Drang. Weltoffen und in der Region verhaftet zu sein sind keine unüberwindbaren Gegensätze. Regionalisierung nach Maßgabe der Subsidiarität meint ein differenziertes Mischungsverhältnis.

3.6 Ernährungsethik

(69) Die Ernährung ist heute den gleichen Rationalisierungstendenzen unterworfen wie die Landwirtschaft und andere Lebensbereiche. Ein breites Sortiment an standardisierter, abgepackter und stark weiterverarbeiteter Ware, konsumfertig, haltbar, transportabel und leicht portionierbar, kommt diesem Bedürfnis der Verbraucherinnen und Verbraucher entgegen. In einer zunehmend individualisierten Gesellschaft reduzieren sich die gemeinsamen Mahlzeiten für viele Menschen auf wenige Anlässe. Häufig sind gravierende gesundheitliche Probleme wie Übergewichtigkeit in den Industrieländern eine Folge der Achtlosigkeit beim Essen. Das Innehalten, das Ge- und Bedenken des Wertes unseres täglichen Brotes zur Stärkung von Leib, Geist und Seele treten zusehends in den Hintergrund. Der Bedeutungsverlust des gemeinsamen Tischgebets ist deutlicher Ausdruck hiervon.

(70) Bezieht man ethische Grundsätze auf die Ernährung, so bedeutet dies, mit einem bewussteren und damit auch geplanteren Einkaufen zu beginnen. Bewusstes Einkaufen heißt: Vermeidung von aufwändigen Verpackungen und weiten Transportwegen und Berücksichtigung jahreszeitlicher Warenangebote. Auf diesem Wege können die heimische Landwirtschaft unterstützt sowie das Ernährungshandwerk und die kleinen Händler gefördert werden. Frische und hochwertige Qualität von Lebensmitteln lässt sich häufig durch überschaubare, regional gebundene Erzeugungsprozesse erhalten. Damit werden Maßstäbe gesetzt, die für die Herstellungsprozesse insgesamt gelten. Landwirtschaft, Umwelt- und Tierschutz sind darauf angewiesen, dass die Verbraucher ihrer Mitverantwortung für die Schöpfung durch eine „Politik mit dem Einkaufskorb“ gerecht werden.

(71) Bewusstes Einkaufen, Zubereiten und Essen lohnen sich auch für die Verbraucher selbst. Denn eine ausgewogene Ernährung ist eine Basis der Gesundheitsvorsorge. Sie ist unverzichtbarer Bestandteil eines eigenverantwortlichen Umgangs mit dem eigenen Körper und der eigenen Gesundheit. Gesunde Ernährung beinhaltet den Einkauf qualitativ hochwertiger und vielfältiger Lebensmittel, eine sorgfältige Zubereitung und genügend Zeit für den Verzehr. Echter Genuss setzt auch die Fähigkeit, Maß zu halten, voraus.

(72) Ein wesentlicher Teil der Wertschöpfung bei Nahrungsmitteln entfällt auf die Weiterverarbeitung und Zubereitung. Deswegen ist es wichtig, nicht nur die in der Landwirtschaft Tätigen anzusprechen, sondern alle Verbraucher, um auf möglichst breiter Basis einen achtsamen Umgang mit den Gütern der Schöpfung zu fördern. Es geht nicht um Verzicht als solchen, sondern um ein neues Qualitätsbewusstsein. Eine neue Kultur der Ernährung ist ein Beitrag zur Achtung vor der Schöpfung und zur eigenen Gesundheit, den jeder und jede bei entsprechender Willensanstrengung auch im Alltag leisten kann.

Fussnoten:

(14) Vgl. Gemeinsames Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Hannover / Bonn 1997, Textziffer 122 – 125; Deutsche Bischofskonferenz – Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen, Handeln für die Zukunft der Schöpfung, Bonn 1998.

(15) Gemeinsames Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Hannover / Bonn 1997, Textziffer 226.

(16) Vgl. Zur Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf. Ein Diskussionsbeitrag des Wissenschaftlichen Beirats des Beauftragten für Umweltfragen des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover 19912; Die Verantwortung des Menschen für das Tier, Deutsche Bischofskonferenz, Bonn 1993.

(17) Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ), Armutsbekämpfung – eine globale Aufgabe: Aktionsprogramm 2015, Bonn 2001.

(18) Deutsche Bischofskonferenz, Zur Lage der Landwirtschaft, Bonn 1989, These 3.14.

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