Predigt in der Evangelischen Gemeinde in Genf

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

Es gilt das gesprochene Wort

Denn wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist; ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft. Denn ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, stimme ich dem Gesetz zu, dass es gut ist. So tue ich das nicht mehr selbst, sondern die Sünde, die in mir wohnt. Denn ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt. Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Wenn ich aber tue, was ich nicht will, vollbringe nicht mehr ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt. So finde ich nun das Gesetz: Mir, der ich das Gute tun will, hängt das Böse an. Denn ich habe Freude an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Verstand und hält mich gefangen im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist. Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes? Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn! Römer 7, 14-25 a

Liebe Gemeinde,

das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“ Diese Worte des Paulus treffen. Denn hinter diesen Worten steckt eine leidvolle Erfahrung, die wir vielleicht alle kennen, ob wir Christen sind oder nicht. Die Erfahrung, dass ein Wille allein, etwas Gutes zu tun oder etwas zu vollbringen, einfach nicht ausreicht, um das, was wir eigentlich tun wollen, dann wirklich tatsächlich zu tun. Die Erfahrung, dass wir immer wieder dem zuwiderhandeln, was wir doch eigentlich als richtig erkannt haben.

„Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“ Dass Paulus das sagt, ist für mich erstmal wirklich tröstlich. Auch der Apostel Paulus, der Asket, der große Theologe, das große Vorbild für viele Christen hat genau diese Erfahrung selbst gemacht. Wenn die große Solidarität der Unzulänglichkeit bis hin zu einem der größten Glaubenszeugen reicht, dann ist das einfach entlastend. Paulus sieht die große Diskrepanz zwischen dem vom Gesetz vorgegebenen Idealen und seinem eigenen Lebenswandel und seinem Verhalten. Es ist die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Wenn so einer wie Paulus das auch kennt, dann ist es keine Schande, wenn wir diese Erfahrung in unserem Leben machen.

Die Worte des Paulus sind entlastend, aber sie sind und bleiben auch befremdlich. Und das nicht nur, weil sie auf den ersten Blick schwer verständlich sind. Sondern auch, weil sie Sätze enthalten, die den ganzen Ballast von Missverständnissen mit sich tragen, die viele Jahrhunderte der Kirche geprägt und viele Menschen heruntergezogen und entfremdet haben.

«Denn ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt.» Viel zu lange hat dieser Satz des Paulus als Programmsatz einer protestantischen Leibfeindlichkeit gedient, die Menschen von den Lebensquellen Gottes abgeschlossen, ja manchmal geradezu kaputt gemacht hat. «So tue ich das nicht mehr selbst, sondern die Sünde, die in mir wohnt. Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Verstand und hält mich gefangen im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist.»

Solche Sätze haben ein Verständnis von Erbsünde gestützt, nach der die Sünde gleichsam biologisch in uns Menschen steckt und unser Körper uns in dieser Sünde gefangen hält. Die unselige Verbindung von Sünde und Sexualität, die über so viele Jahrhunderte von den Kanzeln christlicher Kirchen gepredigt worden ist, hat hier einen ihrer Ursprünge. Dass es zwar gute Gründe gibt, mit Sexualität sorgsam umzugehen, die Sexualität selbst aber ein wunderbares Geschenk ist, das Gott der Schöpfer uns gegeben hat, konnte so völlig aus dem Blick geraten. Bis heute haben wir die Folgen dieses großen Missverständnisses nicht überwunden.

Dabei stehen gleich am Anfang der Bibel wunderbare Sätze über die Natur des Menschen: Und siehe, es war sehr gut. Das ist die liebevolle Diagnose, die den Blick Gottes auf seine Schöpfung kennzeichnet. Das, was dann direkt danach von Adam und Eva berichtet wird und was in unseren Sprachgebrauch als «Sündenfall» eingegangen ist, nimmt davon nichts, aber auch gar nichts zurück.

Was aber ist Sünde dann? Was ist es, was in dem zum Ausdruck kommt, was Paulus als menschliche Erfahrung beschreibt, die wir doch alle kennen? Warum tun wir das nicht, was wir doch für richtig erkennen?

Niemand hat ein schöneres Bild dafür gefunden als Martin Luther. Sünde, sagt Martin Luther, ist die Verkrümmung des Menschen in sich selbst. Sünde ist nicht etwas, was biologisch in uns steckt, sondern Sünde ist eine Beziehungsstörung! Wir schließen uns ab von Gott. Wir schließen uns ab von unseren Mitmenschen. Indem wir uns abschließen von Gott schließen wir uns auch ab von den Lebensquellen Gottes. Indem wir die guten Gebote Gottes missachten, schließen wir uns ab von einem guten, einem erfüllten, einem glücklichen Leben mit unseren Mitmenschen.

Um zu verstehen, wie zerstörerisch diese Verkrümmung in uns selbst für das gute Leben ist, das Gott uns zugedacht hat, ist es wichtig, auch über die Sünde zu reden. Aber das Reden über die Sünde ist der erste Schritt in die Freiheit! Es ist der erste Schritt des Menschen dazu, seine Natur wiederzufinden. Denn die Natur des Menschen – so hat es der große Schweizer protestantische Theologie Karl Barth gesagt, die Natur des Menschen ist seine Mitmenschlichkeit.

Wie wir diese Natur wiederfinden, dazu sagt Paulus nun allerdings klare Worte. Angesichts der Erfahrung der Unfähigkeit, die eigenen Selbstverkrümmung zu überwinden, ruft er aus: «Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes? Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!»

Es ist die radikale Liebe Gottes in Jesus Christus, die alles anders macht. Es ist die Erfahrung der Gemeinschaft mit Jesus Christus in dieser Liebe, die unser Herz öffnet – für Gott und für die anderen. Es ist diese Erfahrung, dass diese Liebe sogar für siebenmal siebzigmal Vergebung reicht. Es ist die Erfahrung, dass wir selbst Frieden finden in allem Selbstzweifel, aller Scham, allem Ärger über uns selber über das, was falsch läuft. Frieden finden, weil wir wissen und spüren, dass die radikale Liebe Jesu Christi noch größer ist als der innere Müll, den wir produzieren.

Wer diese radikale Liebe verstehen und spüren will, der muss nur einfach die faszinierenden Geschichten von Jesus in der Bibel lesen. Wie er umherzog und überall die Liebe gegenüber jedem Menschen gepredigt hat, sogar gegenüber den Feinden. Wie er sich hat anrühren lassen vom Leiden der Menschen, von Tauben, von Stummen, von Aussätzigen, von Gelähmten, und sie geheilt hat. Wie er die in Schutz genommen hat, die Schuld auf sich geladen hatten und die Selbstgerechten entlarvt: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. Wie er zu Gott sogar für seine Peiniger gebetet hat: Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Und wie er mit seinen Jüngern Brot und Wein geteilt und ihnen damit ein Ritual mit auf den Weg gegeben hat, indem sie seine radikale Liebe und damit ihn selbst gegenwärtig und sinnlich erfahrbar haben würden.

Wenn wir jetzt gleich Abendmahl zusammen feiern, dann nehmen wir da keinen Zaubertrunk zu uns, der die biologische Sünden-Vergiftung unseres Körpers gleichsam magisch beseitigt. Sondern in Brot und Wein nehmen wir die radikale Liebe Jesus Christi in uns auf. Wir nehmen ihn selbst und seine wunderbare Botschaft sinnlich in uns auf, spürbar, sichtbar, schmeckbar in uns auf, dass unsere Sünden vergeben sind, dass wir innerlich heilwerden, dass wieder Frieden ist in unserer Beziehung zu Gott und zu unseren Mitmenschen, dass wir aus unserer Selbstverkrümmung herausfinden und neu und mit offenem Herzen auf unsere Mitmenschen zugehen.

Niemand verwechsle diese Haltung mit einem falschen Harmoniebedürfnis, was man uns Christen ja gerne attestiert. Wer aus der radikalen Liebe Jesu Christi heraus zu leben versucht, wird viel Anlass zum Konflikt geben. Wo wüsste man das besser als an einem Ort wie Genf, wo die Völker der Welt vertreten sind und – etwa bei den Vereinten Nationen – täglich darum ringen, den Hass, den Egoismus, den Nationalismus und all die anderen Formen menschlicher Selbstverkrümmung endlich zu überwinden oder jedenfalls wirksame Mechanismen zu finden, ihre schlimmen Folgen einzuhegen. Wer aus der radikalen Liebe Jesu Christi lebt, wird in Streit mit populistischen Bewegungen geraten, die all solche Formen menschlicher Selbstverkrümmung zum Programm zu machen versuchen. Wird Konflikten mit all denen nicht ausweichen können, die endlich gefundene Strukturen und Mechanismen zur Verständigung der Völker systematisch sabotieren.

Aber er wird sich dabei nicht selbst vom Hass überwältigen lassen. Er wird immer zu unterscheiden wissen zwischen dem Menschen, der Gottes gutes Geschöpf ist und bleibt, und seinen Worten und Taten, die diese seine Natur zu verdunkeln drohen. Deswegen ringen wir als Kirche darum, wie wir mit den neuen rechtspopulistischen Bewegungen umgehen. Wir kann man in der Sache klar für die christlichen Grundorientierungen eintreten, wie kann man dafür streiten, dass sich der öffentliche und politische Grundkonsens nicht verschiebt und versteckt oder offen menschenfeindliche Aussagen nicht salonfähig werden, und gleichzeitig die Liebe Jesu Christi selbst ausstrahlen?

Vielleicht geht es nur, wenn wir unser Unvermögen immer wieder erkennen und anerkennen und mit Paulus rufen: Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes? Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!

Immer wieder neu auf Christus zu schauen, immer wieder den Blick auf den zu richten, der gesagt hat: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, immer wieder Vergebung zu erfahren und dadurch neu zu werden und selbst zu vergeben, das ist es, was Paulus uns mit auf den Weg gibt. Der Weg; den wir damit beschreiten ist ein guter Weg, ein tragfähiger Weg, ein segensreicher Weg.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

AMEN