Predigt im evangelischen Gottesdienst aus der Versöhnungskirche in Dachau

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus!

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Der Schrei aus Psalm 22 geht tief unter die Haut. Wer so ruft, fühlt sich absolut allein. Hat das Gefühl, „alle sind gegen mich, weil ich anders bin“. Verlassen von der Gemeinschaft, die bis dahin selbstverständlich schien. Ein Gefühl, das Sie kennen, verehrter, lieber Herr Joelsen. Sie haben es eben beschrieben: „Als ich hinkam, hörten sie auf zu spielen, einer nahm den Ball, alle drehten sich zu mir, sahen mich an. Keiner sagte ein Wort. Eine gespenstische Situation.“

Dem feindlichen Verhalten von Mitmenschen und einem unmenschlichen System ausgeliefert sein: ohnmächtig, fassungslos, bedroht, allein gelassen, ohne zu begreifen, warum und wieso die anderen Kinder einen nicht mehr mitspielen lassen; ohne zu begreifen, warum andere Menschen einen ausgrenzen, fallen lassen, ächten, bespucken; ohne zu begreifen, warum andere Menschen so grausam sind, einen entwurzeln, das Elternhaus zerstören. Ohnmächtig, allein, bedroht. So erging es den Betroffenen der Novemberpogrome.

80 Jahre ist das her, 80 Jahre. Umso mehr brauchen wir heute Ihre Zeugnisse, liebe Zeitzeugen, um nur annähernd begreifen und benennen zu können, was damals geschah. Zu welchen Taten Menschen fähig sind. Ihr Zeugnis hilft uns, das Unsagbare, Unfassbare zu verstehen, das immense Leid, das Sie erlitten haben, wahrzunehmen und es nicht beiseite zu schieben. Ihr Zeugnis und das anderer Zeitzeugen helfen uns, achtsam zu sein mit unserer Geschichte und mit uns selbst, mit unserer Gesellschaft, damit so etwas nie wieder möglich wird.

Wir erinnern heute an 10.911 Männer, die im November 1938 nach Dachau in das KZ gebracht wurden, weil sie jüdischer Herkunft waren. Fast 11.000 Männer in Dachau, 30.000 in ganz Deutschland im November 1938. In den sieben Tagen der Pogrome haben die Nazis mehrere hundert Menschen ermordet oder in den Suizid getrieben. Bis 1945 wurden sechs Millionen Menschen jüdischer Herkunft ermordet. Eine schon in sich kaum fassbare Zahl. Und hinter jedem/jeder einzelnen Ermordeten steht wie bei Hermann Fuld ein Einzelschicksal, eine einzelne Gefühlswelt, eine je eigene Angst, ein je eigenes Leben. Sechs Millionen Tote! Nichts ist wie es war seitdem. Wir fragen uns immer noch und immer wieder, was die Shoa für unser Reden über den Menschen bedeutet, was sie für unser Reden über Gott bedeutet.

Die jüdische Philosophin und Religionswissenschaftlerin Susan Shapiro fragt: „Was heißt menschlich sein in einer Welt, die eine Vernichtung dieses Ausmaßes plante, ausführte und auch geschehen ließ? Und wie können wir uns heute Gott denken, der unter jenen Umständen keine Rettung brachte?“

Sie als Zeitzeugen sind eine lebendige Frage an uns:

Wie war es möglich, dass so viele Menschen geschwiegen haben? Wie war es möglich, dass die Kirchen damals sich nicht mutiger bekannt, nicht nachdrücklicher eingesetzt haben?

Der nordamerikanische Theologe Robert McAfee Brown hat im Blick auf die Shoa geschrieben: „Nicht alle Christen waren Mörder, aber alle Mörder waren Christen.“ Auch wenn manche zum Neuheidentum konvertiert waren: Diese Erkenntnis erschreckt im Blick auf die Vergangenheit. Und sie mahnt für die Gegenwart und die Zukunft, mutig zu bekennen und auszusprechen, wo Unrecht geschieht. Aufstehen gegen Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit. Heutigen Antisemitismus wahrnehmen und bekämpfen. Klar widersprechen, wenn versteckte oder offene rechtsradikale Auffassungen heute wieder salonfähig gemacht werden sollen. Das heißt heute, das Evangelium von Jesus Christus sichtbar zu bezeugen.

Wir brauchen Ihre Zeugnisse, um den Schrecken zu begreifen. Sie, lieber Herr Joelsen, haben aber auch von der Hoffnung gesprochen, die sich sogar im Angesicht des Schreckens zeigen kann. Weil Sie Menschen trafen, die Ihnen als Mensch begegneten, die Ihnen halfen, die Ihnen Vertrauen gaben, die Sie versorgten. Die kirchliche Gemeinschaft konnte Sie zumindest eine gewisse Zeit unterstützen. Sie zeigen uns, wie wir weiterhin von Gott reden können und von der Erfahrung, Mensch zu sein, „unteilbar“, wie Sie es eben genannt haben. Unteilbar heißt: Menschen nicht sortieren danach, wo sie herkommen, was sie glauben, welches Geschlecht sie lieben, ob sie Behinderungen haben oder nicht. Jeder Mensch ist Gottes Ebenbild, Gottes geliebtes Kind. Ihre ermutigende Botschaft, dass wir dennoch hoffen dürfen, dass wir dennoch von Zuversicht reden dürfen, ist sehr kostbar für uns. Ebenso kostbar wie die Zeugnisse derer, die mutig genug waren, sich für vom Unrecht betroffene Menschen einzusetzen. Die Zeugnisse derer, die stark genug waren, die Menschlichkeit zu verteidigen, und die bereit waren, dafür ihr eigenes Leben zu gefährden, wie Pfarrer Helmut Hesse, an den wir heute ebenfalls erinnern.

Helmut Hesse stand als Pfarrer immer wieder allein gegen die schweigende Masse. Er handelte im Glauben an Jesus Christus zusammen mit den wenigen in der Kirche, die mutig genug waren, sich gegen den diktatorischen Mainstream zu stellen. Dieser Mut kostete ihn das Leben.

Auslöser dafür war, dass er etwas tat, was die Kirchenleitung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern nicht bereit war zu tun. Die Osterdenkschrift einer Widerstandsgruppe benannte 1943 offen die Judenverfolgung und protestierte dagegen. Landesbischof Meiser wollte diese Denkschrift in Bayern nicht von den Kanzeln verlesen lassen. Der junge Pfarrer Helmut Hesse jedoch entschloss sich, Kernsätze dieser Denkschrift in seiner Gemeinde zu verlesen und landete hier im KZ Dachau.

All diese Zeugnisse stellen uns heute vor die Frage: was ist unsere Hoffnung? Unsere Zuversicht? Wo liegt unsere Verantwortung angesichts des Geschehenen und angesichts der Herausforderungen dieser Tage? Jeder/jede von uns kann in eine Situation kommen, wo er oder sie sich allein gegen die anderen, sich gegen Ungerechtigkeit und Menschenverachtung aussprechen muss.

Wenn im Freundeskreis gegen Ausländer, Flüchtlinge, gegen Muslime geschimpft wird, wenn antisemitische Parolen laut werden, wenn es normal wird, sozial Schwache im Netz oder anderswo zu verhöhnen, dann sind wir gefordert, für Mitmenschlichkeit, Empathie und Unterstützung der Schwachen einzustehen, auch wenn es Gegenwind gibt.

Für Pfarrer Hesse waren das Alte oder Erste Testament und besonders die Propheten eine große Kraftquelle, aus der er geschöpft hat, um Widerstand zu leisten.

So predigte er voller Hingabe über die Geschichte des Propheten Jona, der ebenfalls die Erfahrung kannte, allein gegen eine Großmacht aufstehen zu müssen, um Klartext zu reden. Beim Propheten Jona fand Pfarrer Hesse Spuren der Antwort auf die Frage, wie wir von den Menschen und von Gott reden können.

Das Buch Jona erzählt, wie der unscheinbare Prophet Jona von Gott den Auftrag erhält, der Stadt Ninive ihre Bosheit vor Augen zu führen und ihren Untergang anzukündigen. Pfarrer Helmut Hesse sagt in seiner Predigt: „Armer, kleiner Jude Jona! Wahrlich, womit willst Du Groß-Ninive belagern?“ Womit will ein einzelner sich gegen die große Masse stellen?

Was kann ein Mensch tun, wenn Ungerechtigkeit, wenn Bosheit, wenn Sünde die Gemeinschaft bestimmen? Kann ein einzelner überhaupt etwas ausrichten?

Jona bekommt Angst. Er denkt: Ich allein kann nichts ausrichten. Die Aufgabe ist zu groß. Jona flieht. Er verkriecht sich auf einem Schiff, das in die entgegengesetzte Richtung zu Ninive fährt. Aber die Flucht Jonas misslingt. Gott schickt einen Sturm und Jona lässt sich in das aufgewühlte Meer werfen. Ein großer Fisch verschlingt ihn. Dort in den Tiefen des Meeres betete Jona zu dem HERRN, seinem Gott, im Leibe des Fisches.

Was hat Jona die Kraft gegeben, den Auftrag doch auszufüllen und nach Ninive zu gehen? Ich vermute, es war dieses Gebet. Es hat ihm geholfen, Gott seine Todesangst zu zeigen, seine Not und sein Zittern zu Gott zu schreien. In der Tiefe dieser Angst und Verzweiflung erfährt Jona, dass Gott da ist. Dass er in der größten Bedrohung zu Gott rufen kann und Gott ihn hört, diese Erfahrung gab Jona Kraft.

Jona erfüllt seinen Auftrag. Er predigt dem großen, sündigen Ninive die Rache Gottes und prophezeit den Niedergang Ninives. Doch dann geschieht das, was niemand erwartet hat: Die Leute von  Ninive bereuen, sie tun Buße, sie kehren um – und Gott bekümmert sich um Ninive. Er verzeiht. Das Unheil wird abgewendet.

In Deutschland nach den Novemberpogromen vor 80 Jahren hat kaum jemand bereut. Der prophetische Ruf von Helmut Hesse und einigen anderen blieb ungehört. Deutschland tat keine Buße, die unheilvolle Geschichte nahm ihren Lauf.

Auch heute, nach 80 Jahren, stehen wir hier und können immer noch nicht fassen, was geschah.  In der Verantwortungsgemeinschaft einer Kirche über Generationen hinweg können wir nur stellvertretend zutiefst bereuen was geschah, und immer wieder versuchen, daraus und aus den unbeantworteten Fragen zu lernen.

Ja, manchmal haben wir Angst, dass der Schrecken wieder passieren kann. Manchmal sind wir verzagt und würden uns am Liebsten verstecken, wie Jona auf dem Schiff. Manchmal verzweifelt unsere Seele. Aber wir dürfen darauf vertrauen: unser Gebet kommt zu Gott. Er stärkt uns. Er ist die Kraftquelle unseres Lebens. Er öffnet uns jeden Tag die Zukunft. Jetzt und allezeit.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen