Predigt im Gottesdienst am 1. Weihnachtsfeiertag 2018 in der Münchner Matthäuskirche

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland

Offenbarung 7,9-12

Liebe weihnachtliche Festgemeinde,

Weihnachten ist ein faszinierendes Fest. Die Lichter, die wunderbare Weihnachtsmusik, und auch die vertrauten Worte über das Kind, das in Bethlehem geboren wird – das alles zieht an Weihnachten die Menschen in die Kirche. Doch ich glaube, uns alle fasziniert nicht nur die weihnachtliche Stimmung. Es ist auch die Ungeheuerlichkeit der Botschaft, die schwer zu fassen ist, die wir aber jedes Jahr neu hören wollen: Das Kind aus der Weihnachtsgeschichte ist nicht einfach nur ein neugeborenes Baby. Schon das ist ja in jedem einzelnen Fall jedes Mal von Neuem ein Wunder. Das Kind von Bethlehem ist der Heiland der Welt. Gott ist in ihm Mensch geworden und hat einer Welt, in der es so viele Kriegserklärungen gibt, ein für allemal die Liebe erklärt.

Von diesem Kind geht eine Bewegung aus, die die Welt verändert. O lasset uns anbeten. Die Menschen, die auf das Christuskind in der Krippe treffen, können nicht anders, als sich demütig zu verneigen. Sie können gar nicht anders, als anbeten. Und in diese innere Bewegung verwickeln die Geschichten jede und jeden, der sie hört.

Wir fürchten uns mit den Hirten in den Nächten unseres Lebens. Wir hören das „Fürchte dich nicht!“ der Engel. Und gehen mit ihnen in die Knie.

Wir folgen mit den Weisen aus dem Morgenland einem Stern. Die Sehnsucht nach dem einen wahren König dieser Welt, nach dem Heiland treibt sie an. Der König Herodes ist es nicht. Ihm verweigern sie die Ehrerbietung. Dieser König hat nicht den Frieden und die Gerechtigkeit, die Israel verheißen sind, im Sinn. Ihn treiben Egoismus und Machtsucht, die in Gewalt münden. So finden die Weisen den König der Welt in einen ärmlichen Stall vor ihm und keinem anderen fallen sie voll Demut und Ehrfurcht auf die Knie.

Wann und wo gehen wir Menschen des 21. Jahrhunderts in die Knie, liebe Festgemeinde? Vielleicht bei einem Heiratsantrag. Der Kniefall, meist des Bräutigams zeigt die Einmaligkeit der Liebe, die ihn bewegt. Und wer von seiner „Angebeteten“ spricht, der ist wirklich über alle Ohren verliebt. Er will der anderen alles geben. Und geht in die Knie vor ihr.

Wir gehen auch auf die Knie, wenn wir unseren Respekt erweisen wollen. Der berühmteste Kniefall der jüngeren Geschichte war vermutlich der des damaligen deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt, am 7. Dezember 1970 am Ehrenmal für die Toten Warschauer Ghettos. Es war eine spontane große Geste, mit der er damals die unaussprechlichen Verbrechen des zweiten Weltkrieges anerkannte. Eine Geste der Demut, eine Bitte um Vergebung. Eine Geste, die Schritte der Versöhnung ermöglichte.

Menschen fallen auf die Knie, wenn sie wissen, dass sie auf Vergebung angewiesen sind.

Bei uns Protestanten löst ein Kniefall, wenn er in der Kirche geschieht, durchaus auch ambivalente Gefühle aus. Es wirkt auf manche als kirchlich verordnete und oft nicht authentische Demutsgeste. Irgendwie unvereinbar mit dem Ideal des aufrecht und mit geradem Rücken durch das Leben gehenden freien Christenmenschen: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“

Gleichzeitig sehen wir katholische Geschwister, für die das in die Knie gehen, ein ganz selbstverständlicher und aufrichtiger Ausdruck des Gebetes ist, ebenso wie für muslimisch Glaubende. Was bedeutet die Anbetung des Christuskindes am heutigen Christfest 2018 für uns? Was rührt es in uns an, wenn wir singen: O lasset uns anbeten, den König?

Ein sehr besonderes Bild der Anbetung Christi malen uns Worte aus der Offenbarung des Johannes vor Augen. Es ist die Vision von der Vollendung der Welt. Der Schmerz dieser Welt wird einmal vorbei sein. So sieht es der Seher Johannes (7,9-12):

„Danach sah ich, und siehe, eine große Schar, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen; die standen vor dem Thron und vor dem Lamm, angetan mit weißen Kleidern und mit Palmzweigen in ihren Händen, und riefen mit großer Stimme: Das Heil ist bei unserm Gott, der auf dem Thron sitzt, und bei dem Lamm!  Und alle Engel standen rings um den Thron und um die Ältesten und um die vier Wesen und fielen nieder vor dem Thron auf ihr Angesicht und beteten Gott an und sprachen: Amen, Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke sei unserm Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.“

Was sieht der Seher Johannes? Ein Leben aus Licht und ins Licht. Ein Leben, in dem alles zusammenkommt, was nie zusammen zu gehören schien.  Alle gezählten und ungezählten Völker der Welt. Ein Jubel vielfältiger Stimmen. Menschen, die im Angesicht Gottes zum ersten Mal verstehen, was Leben ist und war und sein wird. Die zum ersten Mal begreifen, was Liebe ist und war und sein wird. Die zum ersten Mal die Macht des Ego hinter sich lassen, um sich im Jubel der großen Schar zu vereinen und zu singen. Ein Zustand der Wachheit. Ein Überschreiten aller Denkgrenzen. Gottes Präsenz in Liebe ist so groß, dass selbst die Engel und die Ältesten nicht anders können, als niederzufallen.

Zwei archaische Bilder stehen hier für Gott: der Thron und das Lamm. Und sie scheinen doch etwas völlig Unterschiedliches auszudrücken! Der Thron ist das Symbol für Macht, für Würde, für Herrlichkeit, für Unantastbarkeit. So müsste eigentlich ein Löwe oder ein Adler neben dem Thron stehen.

Aber es ist kein Löwe. Es ist kein Adler. Es ist ein Lamm, das so ganz andere Assoziationen in uns weckt als Macht und Stärke. Wer schon einmal ein Lamm auf den Armen getragen hat, ihm vielleicht, weil es seine Mutter nicht gefunden hat, ein Milchfläschchen gegeben hat, der spürt die ganze Verletzlichkeit dieses Lammes. Es ist ein zartes, hilfsbedürftiges Wesen. Und es kann gerade in dieser Verletzlichkeit Geborgenheit geben. Einem meiner Söhne habe ich, als er klein war, ein Lämmchen als Kuscheltier geschenkt. Es hat ihn durch seine ganze Kindheit begleitet.

In der Bibel ist das Lamm ein Bild für Christus: für seine Verletzlichkeit, mehr noch, es steht für das Leiden und Sterben Jesu Christi. Das ist das Unglaubliche, das die christliche Überlieferung uns zumutet. Aber, liebe Gemeinde, genau deswegen ist sie so stark! Weihnachten ist nicht nur ein stimmungsvolles Fest, bei dem man das Leid der Welt oder das eigene Leid mal für ein paar Stunden vergessen kann. Sondern ein Fest, an dem wir im tiefen Wissen über die Abgründigkeit der Welt rufen können: Hosianna in der Höhe!

Denn Gott ist in der Höhe und in der Tiefe da. Die ersten Zeugen der Geburt Jesu sind arme Hirten. Sie kommen zur Krippe aus der Kälte der Nacht. Aus dem täglichen Existenzkampf. Aus der Einsamkeit der weiten Landschaften.

Sie gehen uns voran, wo wir aus der Kälte des Lebens kommen, weil wir einen lieben Menschen verloren haben und es nicht fassen können. Wo wir Streit in der Familie haben und keinen Weg daraus wissen. Wo wir das Leid in der Welt, den Hass und die Spaltung nicht mehr aushalten und zu resignieren drohen. Wir alle gehen zur Krippe, die Glücklichen und die Traurigen.

Wir sehen ein verletzliches kleines Kind, das all dem selbst ausgesetzt ist. Wir hören die große Vision von dem Thron und dem Lamm, um das alle sich scharen, um es anzubeten. Wir lassen sie uns zu Herzen gehen.

Der Kampf dieses irdischen Lebens ist schon längst entschieden, sagt uns der Seher Johannes. Auf dem Thron am Ende der Zeiten sitzt nicht irgendein Gewaltherrscher, kein Hassprediger und auch nicht der Tod. Auf dem Thron am Ende der Zeiten sitzt Gott, der Ewige, der Himmel und Erde gemacht hat, und das Lamm, das unseren Schmerz kennt, unsere Verletzlichkeit kennt.  Das Lamm, das nur die Macht der Liebe kennt und keine andere. Das Lamm, das den Tod besiegt. Menschen „aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen“ stehen vor diesem Thron. Nationalismus, Menschenfeindlichkeit und das Aufhetzen der einen gegen die anderen haben ein Ende. Allein Gott gehören Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke von Ewigkeit zu Ewigkeit. Nicht den Mächtigen und Mächten dieser Welt.

Der Trotz, der daraus erwächst, macht stark. Er kräftigt für die Aufgaben, die hier auf uns warten.

Die junge Etty Hillesum gibt uns mit ihrem Leben, mit ihrem Ringen um das Gebet und das Göttliche ein Beispiel. Sie wollte das „denkende Herz in der Baracke“ sein, die sie mit anderen Menschen teilte im Lager Westerbork, bevor sie nach Auschwitz deportiert wurde. Das denkende Herz, das widerständig die Grausamkeit, die Sinnlosigkeit von Gewalt und Zerstörung erträgt und daran nicht zerbricht. Getragen von Dankbarkeit, überwältigt von der Schönheit und von Liebe. „Gestern Abend vor dem Zubettgehen kniete ich plötzlich mitten in diesem großen Zimmer zwischen den Stahlstühlen auf dem hellen Läufer nieder.“

Die in diesen Worten zum Ausdruck kommende Kraft, dieser Trotz, dieser Mut, der sich aus der Demut speist, hat viele Menschen, viele Gläubige vor uns gestärkt. Und gibt auch heute vielen die Kraft, aufrecht und fest gegründet durch dieses Leben zu gehen. Anbetung und aufrechter Gang gehören zusammen. Es ist nicht ein entweder oder, sondern ein Zugleich. Martin Luther ist demütig vor seinem Gott in die Knie gegangen, um den Menschen sagen zu können: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“

Und so gehen wir demütig in die Knie vor unserem Gott und treten ein für eine Welt, in der Hass, Egoismus, Geldgier, Missbrauch, Ausbeutung der Natur, die Verfolgung von Menschen wegen ihres Glaubens und die Geißel des Krieges endlich überwunden sind.

Ja, wir gehen an diesem Weihnachtsmorgen vor dem Kind in der Krippe in die Knie. Und wir erfahren, dass alles Fragen aufhört. Die Liebe uns durchströmt. In einer friedlosen Welt breitet sich der Friede aus. Wir werden froh. Wir werden heil.

Der Heiland der Welt ist geboren. Es ist Weihnachten!

Und der weihnachtliche Friede, der höher ist als alle unsere Vernunft bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen