Religion in der Grundschule
1. Grundlagen religionspädagogischer Arbeit in der Grundschule
1.1 Veränderte Grundschule
Die heutige Grundschulreform geht auf Impulse zurück, die die Kultusministerkonferenz (KMK) in ihren "Empfehlungen zur Arbeit in der Grundschule" von 1994 beschreibt und bündelt. Die KMK verweist auf die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: "Die Kinder von heute kommen mit gewandelten und sehr unterschiedlichen Erfahrungen zur Schule. Zugleich ist im Bewusstsein der Eltern die Bedeutung der Schule als Vermittlerin von Lebenschancen gestiegen. Die Veränderung der Familienstrukturen, ein vielfältiges Spektrum von Lebensformen und Erziehungsvorstellungen verbunden mit einer erweiterten Mitwirkung der Eltern, das Zusammenleben mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen, ein wachsendes Bewusstsein für ökologische Fragen, der Einfluss der Medien - all dies stellt die Grundschule ebenso vor neue Aufgaben wie die wachsende Bereitschaft, im Rahmen des Möglichen auch Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Grundschule zu unterrichten."
Als Inhalte grundlegender Bildung benennt die KMK: "Bildung ist ein offener, handlungsorientierter, lebenslanger Prozess. Dadurch sollen die Menschen befähigt werden, am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilzuhaben und Probleme sachlich angemessen nach demokratischen Grundsätzen zu lösen, Verantwortung zu übernehmen und die Folgen eigenen Handelns zu bedenken. Dieser Prozess beginnt im Vorschulalter und wird in der Grundschule zielgerichtet fortgesetzt.
Die Grundschule leistet im Rahmen ihres Erziehungsauftrages auch einen Beitrag zu einer grundlegenden Wertorientierung, indem sie bei den Kindern Selbst- und Welterkenntnis anbahnt, sie schrittweise zu Urteilsfähigkeit und zu selbständigem und verantwortungsbewusstem Handeln hinführt. Sie soll den Schülerinnen und Schülern helfen, eigene Standpunkte und Werthaltungen zu gewinnen, die für die Persönlichkeitsentwicklung und für eine verantwortliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erforderlich sind."
Die Bundesländer haben in unterschiedlicher Weise damit begonnen, die Empfehlungen der KMK umzusetzen. Auf diesem Hintergrund entwickeln Grundschulen - im Interesse der unterschiedlich begabten und sozialisierten Kinder und in Aufnahme ihrer Lebenswirklichkeit - rhythmisierte Formen des Lebens und Lernens, des Spielens und Arbeitens, der Anstrengung und Entspannung. Sie stellen sich durch ein vielfältiges Angebot differenzierter Lernchancen der Herausforderung, die kindliche Lernfreude zu entwickeln, Neugier auf Wissen und Erfahrung zu stützen, die individuelle und soziale Identität zu stärken sowie normative Orientierungen zu ermöglichen und Kompetenzen zu vermitteln. Viele Schulen integrieren Kinder mit Behinderungen. Eine Herausforderung sind Entwicklungen wie die familien- und bildungspolitisch gewollte "verlässliche Grundschule", "volle Halbtagsschule", "Schule von acht bis eins" oder auch Ganztagsschulen.
Die pädagogische Arbeit ist geprägt von Lernansätzen, in denen sich traditionelle Schulfächer zugunsten von Lernfeldern bzw. Lernbereichen öffnen und reformpädagogische Methoden an Gewicht gewinnen. Die Integration von Kindern unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft und die Differenzierung der Lernangebote sind leitende Prinzipien der Arbeit an Bildung und Erziehung in der Grundschule.
Nahezu alle Bundesländer erweitern den Gestaltungsspielraum der einzelnen Schule durch die Möglichkeit, in einem bestimmten Rahmen individuelle Schulprogramme zu erstellen. Jede Schule entwickelt auf diese Weise ein orts- und situationsspezifisches pädagogisches Konzept und realisiert es verantwortlich. Diese Profilierung und ihre Darstellung im Schulprogramm wird die Unterschiede zwischen den Schulen verstärken, aber auch transparenter und nachvollziehbarer machen.
1.2 Religion als Dimension des Lernens und Lebens
Die KMK skizziert in ihren Empfehlungen von 1994 Lernbereiche, die neben und mit den traditionellen Fächern den Unterricht strukturieren sollen (Spracherziehung, Mathematische Erziehung, Medienerziehung, Ästhetische Erziehung, Umgang mit Technik, Bewegungserziehung, Fremdsprachenbegegnung, Umwelt und Gesundheit, Heimatverbundenheit und Weltoffenheit). Obwohl der Religionsunterricht als Fach benannt wird, findet er sich in den Lernbereichen nicht ausdrücklich wieder - wohl auch deswegen, um in die Kompetenzen der Religionsgemeinschaften bei der Ausgestaltung des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG nicht einzugreifen.
Religion ist ein impulsgebender, integrierender und komplementärer Bereich schulischer Bildung und Erziehung:
- Religiöse Bildung gibt den nicht-ersetzbaren, grundlegenden Impuls, die beiden aufeinander bezogenen substantiellen Aufgaben der Grundschule wie jeder Schule, die Einführung in die Kultur und die Bildung der Person, zu vertiefen. Sie hilft den Kindern, sich in der pluralen Vielfalt möglicher Lebensentwürfe zurechtzufinden und eine eigene Identität zu entwickeln, die religiöse Orientierung und ethische Urteilsfähigkeit einschließt.
- Religiöse Bildung trägt zur Integration von Schule und Lebenswelt bei, indem sie die sozialen Umgangsformen und menschlichen Beziehungen innerhalb der Schule sowie zwischen der Schule und der Welt der Erwachsenen in das Licht religiöser Traditionen rückt, zum Beispiel durch religiöse Feste, Feiern und Rituale.
- Religiöse Bildung ergänzt komplementär zu Sichtweisen aus anderen Fächern oder Lernbereichen die Erschließung der Lebenswirklichkeit im Zeitfluss von der Vergangenheit über die Gegenwart zur Zukunft. Bei einem christlich-konfessionellen Religionsunterricht ergeben sich die komplementären und integrierenden Wirkungen, weil sich die Gegenstände des evangelischen und katholischen Religionsunterrichts ohnehin weitgehend überschneiden und weil auch die Verbindungen zu anderen Fächern nahe liegen, sofern Religion und Leben, christlicher Glaube und Alltag, Kirche und Gesellschaft aufeinander verweisen.
Dieser dreifache Beitrag der religiösen Bildung zum "Haus des Lebens und Lernens" gehört in das Schulprogramm jeder einzelnen Schule. Die verantwortliche Gestaltung des schulischen Miteinanders ist eine grundlegende Voraussetzung demokratischer Systeme. Bestimmte Formen des Schullebens können durch die religiöse Dimension auf einen Begründungszusammenhang zurückgeführt werden, der sich selbst wiederum in konkreten pädagogischen Konzepten und Formen niederschlägt.
Die Kultur, die unsere Lebenssituation prägt, verdankt sich mit ihren freiheitlichen Überzeugungen wie ihrem sozialen, diakonischen Verantwortungsbewusstsein gerade auch christlich begründeten Überzeugungen. Es ist darum unverzichtbar, die in unserem Kulturkreis wirksame biblisch-christliche Tradition in der Grundschule schwerpunktmäßig zu thematisieren. Diese Aufgabe ist mit der Behandlung von Inhalten anderer Religionen und Kulturen zu verbinden. Interreligiöses Lernen hat Respekt vor dem Andersartigen einzuüben sowie Gemeinsames und Unterscheidendes zu verdeutlichen.
Auf der Grundlage der beschriebenen Aufgaben verfolgt die evangelische religionspädagogische Arbeit an der Grundschule folgende Ziele:
- Die Kinder sollen biblisch-theologisches Grundwissen erwerben und die Tradition und Sprache des christlichen Glaubens kennen lernen;
- sie sollen erkennen, wie die Religion ihre Lebenssituationen, -aufgaben und -probleme betrifft, und lernen, Unterschiede religiöser Herkunft wahrzunehmen und zu respektieren;
- ihnen soll ein Raum der Besinnung gegeben werden, in welchem sie nach Sinn und Bedeutung fragen, Leid, Angst und Trauer äußern sowie Sehnsucht und Hoffnung ausdrücken können, um so die spirituelle Dimension des Lebens zu spüren;
- der Religionsunterricht soll die religiöse Urteilsfähigkeit der Kinder entwickeln und Handlungs- und Wertorientierungen vermitteln.
Um das umfassende Aufgabenfeld religiöser Bildung in der Grundschule wahrzunehmen, ist ein hohes Maß an kollegialer Kommunikation und Kooperation im Schulalltag notwendig. Die religionspädagogischen Fachkräfte sind daran interessiert, im Schulleben präsent zu sein, sich an der Entwicklung der pädagogischen und kommunikativen Kultur einer Schule aktiv zu beteiligen und die religiöse Dimension schulischer Bildung praktisch in den Allgemeinbildungsauftrag zu integrieren (vgl. 2.2 und 2.5).
Die Situation an ostdeutschen Grundschulen fordert besonders heraus. Dass Religion eine Dimension des schulischen Lernens und Lebens ist, trifft dort verstärkt auf Unverständnis. Zwischen den Kirchen und den Konfessionslosen stehen hohe sprachliche, kulturelle und auch emotionale Barrieren, die religionspädagogisch bedacht werden müssen. Wenn Religion in der Schule thematisiert wird, geschieht das meist ausschließlich im Religionsunterricht und eventuell im Ethikunterricht. Dabei richten sich an den Religionsunterricht divergierende Erwartungen. Er soll einerseits konfessionell beheimaten und andererseits religionskundlich informieren und kulturell bilden. Daher müssen Konzepte entwickelt werden, die
- eine pointierte Aufgabenteilung zwischen den gewachsenen Formen kirchlicher Arbeit mit Kindern (u. a. Christenlehre) und dem schulischen Bildungsauftrag des Religionsunterrichts ermöglichen,
- eine Situation der Konfessionslosigkeit reflektieren, die sich bereits über mehrere Generationen erstreckt,
- über den Religionsunterricht Schülerinnen, Schüler und Eltern einladen, Urteile und Vorurteile über Religion und christlichen Glauben zu prüfen, die durch die bis heute fortwirkenden DDR-Ideologien geprägt worden sind.
1.3 Religiöses Interesse der Kinder
Die religionspädagogische Arbeit in der Schule nimmt Mädchen und Jungen als Subjekte des Lernens ernst. Kinder haben ein religiöses Interesse, über das sie anders als Erwachsene ganz unbefangen kommunizieren wollen. Das zeigt sich in der Beliebtheit des Religionsunterrichts in der Grundschule bei den Schülerinnen und Schülern, die empirische Untersuchungen nachweisen. Während der ersten Schuljahre werden Geschichten und Symbole für die Orientierung des Kindes wichtig. Die Kinder sind dabei offen für viele biblische und religiöse Geschichten, die sie gern hören oder sehen, nachspielen und mitvollziehen. Mythologische Aussagen werden noch nicht zum intellektuellen Problem, sie gehören zum faszinierenden Material der Geschichten und werden in der Regel wörtlich und direkt verstanden. Wenn Kinder religiös denken, entwickeln sie oft eine Weltsicht, in der alles noch miteinander zusammenhängt.
Wenn Kinder vom Leiden auf dieser Welt erfahren oder wenn sie gar selbst durch schwere Krankheit betroffen sind, stehen sie so wie Erwachsene auch hilflos vor der Frage, warum das so ist und ob Gott helfen kann. Kinder wissen mehr oder weniger, dass man zu Gott betet. Aber: "Woher wissen wir wirklich, wenn wir beten, dass wir zu Gott sprechen?" (eine Grundschülerin). Diese Zweifel berühren das Zentrum des christlichen Glaubens, und sie nehmen vorweg, was später die religiöse Problematik vieler Jugendlicher ausmacht.
Kinder brauchen in der Begegnung mit Erwachsenen einen Freiraum für ihre eigenen Erfahrungen und Deutungen, nicht nur Korrektur oder Belehrung. Erwachsene sollten erkennen, dass die Kinder selbständig ihre eigene Religion entwerfen. Hierbei verwenden sie zwar, was sie vom Christentum beziehungsweise den anderen Religionen sehen und hören, aber nie übernehmen sie einfach nur, um sich damit zu begnügen. Dafür sind sie viel zu sehr aktive Erkunder ihrer sie immer wieder neu überraschenden Welt und eigenständige Entdecker von möglichen Antworten auf die Rätsel, die sich ihnen auftun. Jedes Kind entwickelt gleichsam seine eigene Theologie; dies ist zumindest sehr wahrscheinlich dort der Fall, wo in einer Gesellschaft insgesamt noch von Gott die Rede ist und es Ausdrucksformen von Religion gibt. Darum ist es unerlässlich, dass die Interessen und die Rechte der Kinder auch in diesem Bereich geachtet werden und Religion in die Lerndimensionen der Grundschule einbezogen wird.