Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung
1. Die Umweltkrise und ihre Ursachen
1.1 Die verbreitete Sorge um die Umwelt
- Die Fortschrittsgläubigkeit und die unbekümmert anspruchsvolle Lebenseinstellung, die in den sechzigerjahren vorherrschten, sind seit etwa zwei Jahrzehnten sichtlich im Schwinden begriffen. Keiner von uns kann der Erkenntnis heute noch bewußt ausweichen, daß wir durch Umweltzerstörungen bedroht sind, die einen regionalen oder globalen Kollaps herbeiführen könnten. Die Gefahr erscheint vielen bedrohlicher als je zuvor. Zwar haben Staat und Gesellschaft mit ihren Bemühungen durchaus erste Erfolge darin erzielt, die akuten Gefährdungen in den Griff zu bekommen. Zwar sind die Anstrengungen der Wirtschaft, die Schadstoffbelastungen der Umwelt drastisch zu reduzieren, eindrucksvoll. Zwar haben viele Alarm geschlagen: Wissenschaftler und Publizisten, Bürgerinitiativen und Projektgruppen, Verbände und politische Parteien, eine Reihe von anderen Organisationen und Institutionen, nicht zuletzt einzelne einsatzfreudige Mitbürger. Aber dennoch nimmt die Schadensentwicklung ihren Fortgang.
- Grundprobleme der Umweltkrise, für die die privaten Verbraucher ebenso verantwortlich sind wie Staat und Wirtschaft, bleiben weiterhin ungelöst: Lärmbelästigung, Belastung von Luft und Wasser, giftige Nebenprodukte in verschiedenen Industriezweigen, ihre Ablagerung im Boden, Giftstoffe selbst in biologisch erzeugten Nahrungsmitteln, die Gefährdung pflanzlichen wie tierischen Artenreichtums, unnötiges Leiden von Tieren in Forschung und Massentierhaltung, Vergeuden von Rohstoffen und Energievorräten ohne Sinn für sparsames Wirtschaften. Augenfälliges Warnzeichen einer unheilvollen Entwicklung ist das Baumsterben.
Die Länder der Dritten Welt sind von der Umweltkrise nicht ausgenommen: Die Ausbreitung der Wüsten in Afrika, der rasche Rückgang der Waldbestände in Nepal und Indien mit der Folge starker Bodenerosion und die konzentrierte Anwendung von Pflanzenschutzmitteln in der Plantagenwirtschaft sind besonders in den letzten zehn Jahren in ihren quantitativen und qualitativen Folgen erkennbar geworden. Es gibt vielfältige Beziehungen zwischen den Belastungen der Umwelt in Europa und der Dritten Welt, ihre Wechselwirkungen verschärfen die Gesamtsituation erheblich.
- Die gegenwärtig auftretenden Belastungen und Schäden lassen sich etwa so kennzeichnen:
- Kaum oder überhaupt nicht regenerierbare Naturgüter werden vergeudet;
- natürliche Lebensgrundlagen werden zum Schaden der Gesundheit beeinflußt, ökologische Zusammenhänge werden durch (nur scheinbar) begrenzte Eingriffe zerstört;
- die Industriegesellschaft begünstigt das Entstehen äußerst labiler und damit auch politisch instabiler Räume unterschiedlicher Lebensqualität in regionalem, nationalem und globalem Ausmaß: Industrieländer und Rohstoffländer, industrielle Ballungsräume einerseits und agrarische Vorranggebiete wie Schonräume andererseits.
- Umweltbelastungen und auch Umweltkatastrophen hat es zwar schon immer gegeben, doch bestehen zwischen der jetzigen Entwicklung und früheren Phasen entscheidende Unterschiede:
- Ausmaß und Intensität der Eingriffe in natürliche Wirkungszusammenhänge sind bedrohlich angestiegen;
- die dadurch ausgelösten Prozesse gewinnen rasant an Schnelligkeit;
- Anzahl und Konzentration von Giftstoffen nimmt ständig zu;
- der Entscheidungsspielraum für ökologisches Handeln wird immer enger eingegrenzt.
In der Konsequenz ist die Existenzgrundlage jeglicher Kreatur bedroht.
- (5) Die Gefahr, daß der Mensch selbst schließlich Opfer der unheilvollen Entwicklung wird, ist nicht länger zu übersehen. Er selbst hat den Schadenskreislauf durch einen zuerst naiven, dann rücksichtslosen Umgang mit der Natur, durch kurzsichtige Interessen und unbesonnenes technisches Verhalten in Gang gesetzt, jetzt muß der Mensch sich selbst als Urheber und Betroffener in einem erkennen. Der Preis, den die Mehrheit für die Erfolge des Fortschritts zuzahlen hat, ist zu hoch geworden.
1.2 Auf der Suche nach Ursachen und Verantwortlichen
- Es ist keineswegs einfach, sich ein zutreffendes Bild aller Belastungen und Schädigungen der Natur zu verschaffen. Einerseits liegen sie offen zutage, andererseits werden tiefgreifende Beeinträchtigungen verdrängt oder übersehen; manche Umweltprobleme mögen dagegen bewußt überzeichnet werden. Deshalb ist es entsprechend schwierig, Ursachen und Verantwortliche zu benennen. Zudem ist die Diskussion in diesem Problemfeld vorbelastet durch Unsachlichkeit, durch überzogene Polemik ideologische Fixierung, Verharmlosung und Intoleranz.
Als Gründe der Problematik lassen sich vor allem weltanschauliche, strukturelle, konzeptionelle, sozialpsychologische und moralische Ursachen benennen. Eine derartige Aufzählung enthält keine Rang- und Reihenfolge. jeder mag selbst beurteilen, wie weit er für die Ursachen mitverantwortlich ist.
1.2.1 Weltanschauliche Ursachen
Ursache menschlichen Versagens in der Umweltkrise dürften vor allem unzureichende Grundeinsichten sein, so z. B.
- ein Naturverständnis, das den Menschen in falscher Weise in den Mittelpunkt stellt, die Natur bloß als Objekt betrachtet, menschliche Fähigkeiten zur Erhaltung natürlichen Lebens überschätzt und den Eigenwert der Natur nicht wahrnimmt;
- ein Verständnis von der Technik, die mit mechanistischen Vorstellungen in die Natur eingreift und die Nebenwirkungen nicht beachtet; zugleich auch eine generelle Technikfeindlichkeit, die auch naturnahe technische Möglichkeiten verkennt und angepaßte technische Lösungen behindert;
- eine Fortschrittsgläubigkeit, die auf die Lösbarkeit eines jeden Problems vertraut, den Zielkonflikt zwischen technischem Fortschritt und bewahrender Naturnähe aber nicht wahrnimmt, und ökologische Schäden zugunsten ökonomischen Wirtschaftens und industriellen Wachstums bedenkenlos in Kauf nimmt;
- eine ethische Verunsicherung, aufgrund deren Ehrfurcht vor allem Lebenden, Demut, Rücksichtnahme und Problembewußtsein nicht mehr den ihnen gebührenden Rang einnehmen.
1.2.2 Strukturelle Ursachen
- Umweltschäden gehen auch auf strukturelle Unzulänglichkeiten zurück. Nicht nur jeder einzelne, auch Verantwortliche in Politik und Wirtschaft, Instanzen und Organisationen stoßen oft genug auf eng begrenzte Handlungsmöglichkeiten.
Hier sind besonders zu nennen:
- Die Komplexität der Probleme, die es meist nur interdisziplinär versierten Fachleuten bei internationaler Zusammenarbeit ermöglicht, die Zusammenhänge zu erfassen;
- der Zwang der Verantwortlichen in einer repräsentativen Demokratie zu raschem Erfolg und politischem Pragmatismus;
- die eng begrenzten Zuständigkeiten in Politik und Verwaltung; sie führen zu unkoordiniertem Umgang mit unterschiedlichen Naturütern bei zugleich verstärkt miteinander konkurrierenden Nutzungsinteresen;
- die oft unzureichenden finanziellen Möglichkeiten für die notwendigen, außerordentlich hohen Investitionen für Ausweichtechnologien;
- die Kollision mit anderen dringenden gesellschaftlichen Erfordernissen, die hohe Investitionen und erhebliche Anstrengungen notwendig machen, wie etwa die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit.
1.2.3 Konzeptionelle Ursachen
- Paradoxerweise ist es nicht immer nur die Verantwortungslosigkeit, sondern oft gerade der bewußte Wille zu größerer Verantwortung und raschen Handlungserfolgen, der einer Lösung oder zumindest Minimierung von Umweltproblemen entgegensteht. Die Hände der Verantwortlichen scheinen gebunden. Hier sind besonders zu nennen:
- Zielkonflikte, z. B. zwischen Arbeitslosigkeit und Umweltschonung und einseitige Prioritätensetzungen;
- unterschiedliche Interessen und Verpflichtungen, so der Zweck der Betriebe, Erträge zu erwirtschaften und die Wettbewerbsfähigkeit am Markt um jeden Preis zu erhalten und andererseits die unausweichlich notwendige Umweltvorsorge;
- das konsequente Festhalten an mancher umweltpolitischen Strategie, das sich nicht selten erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung als Fehlleistung erweist, die ihrerseits neue Umweltprobleme verursacht.
1.2.4 Sozialpsychologische und moralische Ursachen
- (10) Nicht nur Unwissenheit und Überforderung spielen eine ursächliche Rolle beim Zustandekommen von Umweltproblemen. Wir müssen davon ausgehen, daß sich Menschen auch willentlich (wenn auch nicht immer wissentlich) ihrer Verantwortung entziehen und notwendigen Lösungen verweigern. Hier sind zu nennen:
- Eine kollektive Verdrängung der Umweltprobleme aus dem Bewußtsein, die von Verharmlosung, Nicht-Wahrhaben-Wollen und Nicht-Verstehen-Wollen gekennzeichnet ist;
- ein Anspruchsdenken, das an Lebensgewohnheiten und Standards als "Besitzständen" festhält und einseitig auf Lustgewinn angelegt ist;
- eine Trägheit und Bequemlichkeit, die Lernbereitschaft und alternative Lebensmöglichkeiten ausschließt und bei der Problemlösung den Weg des geringsten Widerstands und der "billigsten" sowie der spätesten Lösung geht;
- Machtmißbrauch, politische Konflikte, die die Lösung von Umweltproblemen verhindern, oder militärische Konflikte, die in bewaffneten Auseinandersetzungen zu größten Umweltzerstörungen führen;
- kriminelle Umweltdelikte, die entsprechend verfolgt und geahndet werden müssen.
1.3 Ein gemeinsames Wort der Kirchen
- Diese Einsichten und Erfahrungen sollten für uns alle Anstoß genug sein, das Verhältnis von Mensch und Natur von Grund auf zu überdenken und nach einem verantwortlichen Umgang mit unserer Umwelt zu fragen. Bloße Kurskorrekturen reichen längst nicht mehr aus. Wir müssen einsehen lernen, daß hinter der Umweltkrise letztlich unsere eigene Krise und unsere Unfähigkeit steht, in rechter Weise Verantwortung zu übernehmen.
Die Bemühungen um technische Lösungen haben die anstehenden Probleme nicht bewältigt. Unser technisches Potential ist gigantisch, aber unsere Fähigkeiten auf moralischem, kulturellem und geistigem Gebiet sind ungleich geringer. Wir haben die Produkte, die Herstellungsverfahren, die Erträge, die Getreidesorten und Zuchttiere "verbessert". Aber haben wir auch uns selbst verbessert? Wir verfügen über große Möglichkeiten, und dennoch gehen wir schweren Gefährdungen entgegen, wenn wir uns im Umgang mit der Natur nicht selbst ändern.
- In dieser Krise wird deutlich, wie sehr wir es versäumten, die Natur als Haushalter Gottes zu verwalten. Deshalb steht die Kirche vor der Aufgabe, unsere Verantwortlichkeit vor Gott deutlich auszusprechen und an das biblische Verständnis vom Menschen und der Schöpfung zu erinnern. Auch die Kirchen verfügen nicht über Patentlösungen und beanspruchen in fachlichen Fragen keine spezielle Kompetenz. Aber sie vermögen zu grundlegenden anthropologischen und religiösen Aspekten im Umgang mit der Natur Stellung zu nehmen und unsere menschliche Verantwortung deutlich zu machen. Sie können die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Umorientierung aufzeigen, dafür Beurteilungsmaßstäbe benennen und so ihren Teil zu einer Besserung der gegenwärtigen kritischen Situation beitragen. Sie können außerem deutlich machen, daß die Lösung der Umweltprobleme eine gemeinsame Aufgabe ist, zu der alle Kräfte der Gesellschaft kooperativ beitragen müssen. Die harten Auseinandersetzungen um strittige Umweltfragen machen den Dienst der Versöhnung und Vermittlung nötig.