Kompetenzen und Standards für den evangelischen Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen
Ein Orientierungsrahmen
3. Die Schülerinnen und Schüler in berufsbildenden Schulen
Schülerinnen und Schüler an berufsbildenden Schulen sind vor allem eines: verschieden. Sie zeigen eine hohe Altersstreuung, auch innerhalb derselben Klasse; sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer sozialen und kulturellen Herkunft, ihrer Religionszugehörigkeit und Religiosität, ihrer Schulbiographie, ihrer Motivation und Bildungsambition und vieler anderer Merkmale. Ein „Typus“ des Schülers oder der Schülerin einer berufsbildenden Schule lässt sich daher schwerlich bestimmen; das ergibt sich schon aus der Beschreibung der Heterogenität des berufsbildenden Schulsystems. Allenfalls im Blick auf spezifische Klassen sind Typisierungen sinnvoll, vor allem durch die Homogenisierungseffekte, die sich durch Bildungsabschlüsse als Zugangsvoraussetzungen oder aufgrund geschlechtsbezogener Präferenzen bei der Berufswahl einstellen.
Am evangelischen Religionsunterricht in der Berufsschule nehmen auch viele Schülerinnen und Schüler teil, die einer anderen oder keiner Religion angehören. Insbesondere muslimische Schülerinnen und Schüler scheinen zu schätzen, dass sie durch die Thematisierung auch ihrer Religion im BRU Anerkennung erfahren. Ebenso sind Schülerinnen und Schüler ohne Religionszugehörigkeit offensichtlich daran interessiert, mit christlichen Lehrkräften und der Lerngruppe in ein Gespräch über religiöse Fragen zu treten und so authentische Informationen über das Christentum zu erhalten.
Schülerinnen und Schüler in berufsbildenden Schulen sind in der Regel Jugendliche in der Adoleszenz, häufig aber auch schon junge Erwachsene. Dem Streben nach Unabhängigkeit entspricht die bei vielen Schülerinnen und Schülern schon vollzogene soziale Ablösung von der Herkunftsfamilie und ein Leben in neuen Beziehungen bei nicht selten räumlicher Trennung von den Eltern. Der damit einhergehende Freiheitsgewinn wird ambivalent erfahren: Einerseits als Belastung durch die Notwendigkeit zur Selbständigkeit, durch Abhängigkeitsverhältnisse in Ausbildungsbetrieben und durch krisenhafte Momente wie Ausbildungsabbrüche und soziale Problemlagen; andererseits als Bereicherung, wenn sich neue Lebenschancen eröffnen, wenn sozialer Aufstieg gelingt und sich die Räume für die Übernahme von Verantwortung erweitern. Soziale Verwerfungen und Problemlagen der Gegenwart, die unsere Gesellschaft insgesamt betreffen, ragen insbesondere in die berufsbildenden Schulen hinein. Dabei ist vor allem an Schularten des Übergangssystems zu denken.
Religionssoziologische Beschreibungen des jungen Erwachsenenalters zeigen Distanzierungstendenzen gegenüber der Institution Kirche genauso wie Offenheit und Neugier für religiöse Fragen. Die Jugendlichen erleben Kirche als gesellschaftliche Kraft. Auch wenn ihnen religiöse Traditionen familiär nicht vermittelt worden sind, so kennen sie doch in der Regel religiös geprägte Menschen in ihrem sozialen Umfeld. Ihre mediale Umgebung ist voller religiöser Bezüge und auch dort, wo Berufsschülerinnen und -schüler sich über Werte, ihre Überzeugungen, über Krisen und Glück verständigen, tun sie das oft in Formen, die zumindest implizit religiös sind. Damit einher gehen häufig auch individuelle Adaptionen institutionalisierter Religion. Der – auch empirisch belegte – Zuspruch, den der BRU bei den Schülerinnen und Schülern findet, sowie die Erfahrungen der Unterrichtenden im BRU zeigen, dass der Religionsunterricht dann gelingt, wenn er an die lebensweltlichen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler anknüpft. Im Mittelpunkt stehen die durchaus auch provozierenden Fragen der Berufsschülerinnen und -schüler.
Die berufliche Orientierung steht an den berufsbildenden Schulen im Vordergrund. Gerade deshalb erfahren Berufsschülerinnen und -schüler den BRU oft als den Raum des „ganz Anderen“, der sich von der Welt der Arbeit, Ausbildung und schulischer Qualifikation abhebt. Hier findet ihre Suche nach Orientierung in den unterschiedlichen Lebensbereichen einen Ort, hier können sie ihre oft auch existentiellen Fragen einbringen. Häufig entzünden sich im BRU intensive Verständigungsprozesse an Problemen der Lebensführung und an herausfordernden Entscheidungssituationen, mit denen Jugendliche und junge Erwachsene in der Phase des Übergangs in die Beruflichkeit konfrontiert werden. Aktuell gibt es im Blick auf die Integration von anerkannten Geflüchteten an zahlreichen Orten besondere Klassen mit dem Ziel der sprachlichen Förderung und Integration, in denen diese Fragen und Prozesse in besonderer Weise virulent sind.