Mit Spannungen leben
3. Formen des Zusammenlebens in Schrift, Bekenntnis und gegenwärtiger Lehre
Die reformatorischen Bekenntnisse nehmen zum Thema "Homosexualität" nirgends explizit Stellung,6) wohl aber zu den Formen, in denen Menschen in umfassender, also auch die Sexualität umfassender Weise (zusammen-)leben. Sie tun dies im Rückgriff auf die einschlägigen Aussagen der Schrift, insbesondere auf Gen 1,26-28 und 2,18-25; Mk 10,1-12 par. und Eph 5,21-33. Daneben müssen aber auch die Aussagen herangezogen werden, die ein distanzierteres Verhältnis zu Ehe und Familie erkennen lassen. 3.1 Familie, Ehe und Ehelosigkeit im Horizont der christlichen Botschaft
3.1.1 Die Botschaft des Neuen Testaments und die Formen des Zusammenlebens
Im Zentrum der Verkündigung Jesu steht die Ansage der nahenden Gottesherrschaft (Mk 1,15 parr.), die als heilvolle, rettende Gegenwart der Liebe Gottes zu verstehen ist. Mehr noch: In Jesu Wirken bricht diese Gottesherrschaft bereits an (Mk 3,22-27; Mt 11,5f.; Lk 7,22 sowie vor allem Mt 12,28 par. Lk 11,20 und Lk 17,20f.). Im Konfliktfall gebührt ihr sogar der Vorrang vor Ehe und Familie: für Jesus selbst, der diejenigen zu seinen wahren Verwandten erklärte, die den Willen Gottes tun (Mk 3,31-35 parr. in Verbindung mit Mk 3,20f.); aber auch für die Menschen, die ihm nachfolgen wollen (Mt 10,34-39; Lk 14,25-33). Die Gottesherrschaft begegnet mit der Ausschließlichkeit und Radikalität des 1. Gebots, das den Menschen dafür gewinnen will, Gott über alle Dinge zu fürchten, zu lieben und zu vertrauen. Diese Sicht ist auch dort festgehalten, wo die durch die Taufe begründete neue Existenz und die Zugehörigkeit zu Christus und zur christlichen Gemeinde (dem "Leib Christi") als die für Christen grundlegende Lebensform verstanden wird (Röm 6,3-11; I Kor 12,13; Gal 3,26-28; Eph 4,11-16).
Die damit gegebene Vorrangstellung der Nachfolge Jesu Christi auch vor Ehe und Familie meint aber weder in der Verkündigung Jesu noch in der Urchristenheit eine Entwertung dieser Formen des Zusammenlebens. Die Beziehung zwischen Mann und Frau kann sogar eine (nicht unproblematische) Aufwertung erfahren, indem sie in Analogie zur Beziehung Christus-Gemeinde gesetzt wird (Eph 5,21-33). Die bleibende Geltung und Bedeutung der schöpfungsgemäßen Formen des Zusammenlebens wird insbesondere an den neutestamentlichen Aussagen zu Ehe und Ehescheidung deutlich, die sich rückbeziehen auf Gen 1,27 und 2,24, nämlich Mk 10,6-9 par. Mt 19,4-6 (vgl. auch Mt 5,32 par. Lk 16,18 sowie I Kor 7,10f). In der Verkündigung Jesu werden die alttestamentlichen Schöpfungsaussagen gedeutet als Begründung der Ehe und des Verbots der Ehescheidung: "Von Anbeginn der Schöpfung hat Gott sie geschaffen als Mann und Weib. Darum wird der Mensch seinen Vater und seine Mutter verlassen (und wird seinem Weibe anhangen) und werden die zwei ein Fleisch sein. So sind sie nun nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. Was denn Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden" (Mk 10,6-9 Luther-Übersetzung 1976).
3.1.2 Die reformatorischen Bekenntnisse und die Formen des Zusammenlebens
Diese Argumentation wird in den Bekenntnissen der reformatorischen Kirchen aufgenommen, wenn es im Großen Katechismus Luthers heißt: Gott will den Ehestand "von uns geehret, gehalten und gefuhret haben als einen göttlichen, seligen Stand, weil er ihn erstlich vor allen andern eingesetzt hat und darümb unterschiedlich Mann und Weib geschaffen (wie fur Augen) nicht zur Buberei, sondern daß sie sich zusammen halten, fruchtbar seien, Kinder zeugen, nähren und aufziehen zu Gottes Ehren"7). Gleichzeitig gilt aber, daß "die Hochzeit und Ehestand ein weltlich Geschäft ist"8), also zum weltlichen Regiment Gottes gehört und keinen sakramentalen Charakter hat.9)
Beachtenswert ist dabei, in wie starkem Maß die Ehe von ihrer Offenheit für Kinder und damit von ihrer Bezogenheit auf die Familie und auf die Erziehungsaufgabe her verstanden wird. Ja, Luther kann im Anschluß an die oben zitierte Stelle aus dem Großen Katechismus die Stiftung und den Wert der Ehe damit begründen, daß es Gott vor allem darauf ankomme, daß man Menschen aufziehe, "die der Welt dienen und helfen zu Gottes Erkenntnis"10).
Aber weder das Neue Testament noch die reformatorischen Bekenntnisschriften verlieren dabei aus dem Blick, daß es neben Ehe und Familie die verschiedenen Formen der Ehelosigkeit gibt, die ihr eigenes Recht und ihre eigene Würde besitzen. Abgesehen von den Heranwachsenden, die noch nicht verheiratet sind, und von denen, in deren Leben es sich nicht ergab zu heiraten, taucht Ehelosigkeit im Neuen Testament in wenigstens drei Gestalten auf:
- als bewußter Verzicht auf die Ehe, z.B. um einer bestimmten Lebensaufgabe willen (I Kor 7,7f.);
- als Unfähigkeit zur Ehe, sei es von Geburt an, durch den Einfluß oder Eingriff anderer Menschen oder durch eigenen Eingriff "um des Himmelreichs willen" (Mt 19,12);
- als Alleinleben nach dem Verlust des Ehepartners, sei es durch Scheidung (I Kor 7,11; vgl. auch Mt 5,32) oder durch Tod (I Kor 7,8; I Tim 5,3-5). In diesem Zusammenhang wird auch die Situation alleinerziehender Witwen erwähnt (I Tim 5,4).
Die Unterscheidung zwischen Ehelosigkeit aufgrund eines bewußten Verzichtes oder aufgrund von Unfähigkeit zur Ehe kehrt auch in den reformatorischen Bekenntnissen wieder. So heißt es im Großen Katechismus, daß die Ehe von Gott als Stand für diejenigen geboten sei, "so dazu geschaffen sind, ... doch etliche (wiewohl wenig) ausgenommen, welche Gott sonderlich ausgezogen [d.h. ausgenommen hat], daß sie zum ehelichen Stand nicht tüchtig sind, oder durch hohe, übernatürliche Gabe befreiet hat, daß sie außer dem Stande Keuschheit halten können".11) Diese Aussage ist insofern für die vorliegende Fragestellung wichtig, als homosexuell geprägte Menschen, sofern ihre Prägung nicht korrigierbar ist, zweifellos zu den "Wenigen" gehören, die nicht zur Ehe "geschaffen" sind, ohne daß deswegen schon gesagt werden könnte, ihnen sei die besondere Gabe zuteil, sexuell enthaltsam leben zu können. Dieser Ansatz muß noch weiter auf seine Tragfähigkeit und seine ethischen Konsequenzen hin bedacht werden (s.u. Abschn. 3.5).
3.2 Die Pluralität von Formen des Zusammenlebens in der gegenwärtigen Gesellschaft
3.2.1 Unterschiede gegenüber früheren gesellschaftlichen Situationen
Auch wenn bereits in Bibel und Bekenntnis eine Vielfalt von Formen des Zusammenlebens im Blick ist, so bestehen zwischen der damaligen und der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation doch erhebliche Unterschiede, die sich wenigstens an drei Punkten verdeutlichen lassen:
a) Die Veränderung der früheren Formen des Zusammenlebens
Die oben genannten, aus der Geschichte bekannten Formen des Zusammenlebens haben sich teilweise erheblich verändert, z.B.,
- indem die Kleinfamilie zum Regelfall wurde - jedenfalls im industriell-städtisch geprägten Umfeld;
- indem die durchschnittliche Kinderzahl erheblich sank, weil Kinder in ökonomischer Hinsicht nicht mehr, wie früher, einen Vorteil (z.B. durch Mitarbeit und für die Alterssicherung) darstellten, sondern eine wirtschaftliche Belastung bildeten;
- indem die Versorgung der Familie nicht mehr allein durch die Erwerbsarbeit des Mannes gesichert wird;
- indem mit der steigenden Lebenserwartung auch die Dauer (und damit auch die mögliche Gefährdung) einer auf Lebenszeit geschlossenen Ehe zunahm;
- indem die Ehe (und in ihrem Gefolge auch die Familie) mit Liebes-, Glücks- und Geborgenheitserwartungen verbunden wurde, denen sie in vielen Fällen nicht gerecht werden konnte.
b) Die Entstehung neuer Formen des Zusammenlebens
Zusätzlich zu den erwähnten "klassischen" Formen des Zusammenlebens sind vielfältige neue Formen entstanden, die sich mit bislang zunehmender Tendenz in der Gesellschaft eingebürgert haben. Es gibt z.B.
- Alleinlebende ("Singles"), die aber deswegen nicht auf ein Sexualleben verzichten, sondern es nach ihren individuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten gestalten;
- Alleinerziehende, die nie verheiratet waren und es möglicherweise auch nicht sein wollten;
- Paare, die ohne oder mit Kinder(n) zusammenleben, aber nicht miteinander verheiratet sind;
- gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften von Männern und Frauen;
- Ehepaare, die bewußt - etwa um ihrer beruflichen Aufgaben und Möglichkeiten willen - kinderlos bleiben;
- Wohngemeinschaften, die auch den Charakter von Pflegegemeinschaften haben können und in die verschiedene Formen von Zweierbeziehungen integriert sein können.
c) Die gesellschaftliche Akzeptanz sexueller Freizügigkeit
Die vermutlich wichtigste Differenz zu früheren Situationen dürfte jedoch darin bestehen, daß es gesellschaftlich toleriert oder akzeptiert wird, wenn die Praktizierung von Sexualität nicht (mehr) auf die Ehe beschränkt ist. Im allgemeinen gesellschaftlichen Bewußtsein gilt die Alternative: Ehe oder sexuelle Enthaltsamkeit nicht (mehr). Und das ist so, obwohl Ehe und Familie nicht nur "unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung stehen" (GG Art. 6.1), sondern auch in der Gesellschaft hohe Wertschätzung und großes Ansehen genießen.
3.2.2 Die theologisch-ethische Relevanz der veränderten Situation
a) Die These von der ethischen Gleichrangigkeit aller Formen des Zusammenlebens
Von verschiedenen Gruppierungen außerhalb und innerhalb der evangelischen Kirchen wird unter Bezugnahme auf den unter 3.2.1 skizzierten Befund die These vertreten, alle diese Formen des Zusammenlebens müßten als gleichrangig beurteilt werden, es dürften also zwischen ihnen keine qualitativen Unterschiede behauptet werden.12) Diese These wird vor allem durch folgende Argumente untermauert:
- Die neuzeitlichen Emanzipationsbewegungen und damit auch die sexuelle Emanzipation sind Teile einer Befreiungsgeschichte, die jedenfalls auch aus dem befreienden Charakter des Evangeliums resultiert, und sie sind darum grundsätzlich zu bejahen.
- Unterschiedliche Beurteilungen von Formen des Zusammenlebens treffen immer auch die Menschen, die in ihnen leben. Werurteile über Menschen sind aber mit dem Liebesgebot und mit der Achtung vor der Menschenwürde nicht vereinbar.
- Wer Ehe und Familie anderen Formen des Zusammenlebens gegenüber höherwertet, geht dabei in der Regel von einem unrealistischen Idealbild aus und übersieht, daß in anderen Lebensformen teilweise ethisch verantwortlicher und sozial vorbildlicher gelebt wird als in vielen Ehen und Familien.
b) Auseinandersetzung mit der Gleichrangigkeitsthese
Die Argumente für die unter a) genannte These sollen nun überprüft werden, so daß sich von daher ein zustimmendes oder ablehnendes Votum zu dieser These ergibt.
- Neben anderen Wurzeln (z.B. Einflüssen aus der Stoa, dem Humanismus und der Aufklärung) ist tatsächlich die neutestamentliche und reformatorische Lehre der durch Christus begründeten Freiheit, wie sie exemplarisch in Joh 8,30-36; Gal 4f. sowie in Luthers Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen" zum Ausdruck kommt, ein Motiv der verschiedenen neuzeitlichen Emanzipationsbewegungen. Und es darf auch nicht verkannt oder geringgeschätzt werden, was von daher gerade im Blick auf die Sexualität an echter Befreiung möglich geworden ist. Aber schon ein oberflächlicher Blick in die oben genannten "klassischen" Texte zeigt, daß Entscheidendes verlorengeht, wenn Freiheit als Beliebigkeit oder als sozialethische Indifferenz verstanden wird. Das biblisch-reformatorische Freiheitsverständnis schließt als notwendiges Element die Übernahme von Verantwortung und die Bereitschaft zum Dienst für andere ein. Daran müssen alle Formen des Zusammenlebens gemessen werden. Deshalb läßt sich aus der Berufung auf das biblisch-reformatorische Freiheitsverständnis nicht ihre Gleichrangigkeit ableiten.
- Daß sich von der Beurteilung von Formen des Zusammenlebens häufig auch die Menschen getroffen fühlen, die diese Formen des Zusammenlebens für sich gewählt haben, muß ernstgenommen und bedacht werden. Sofern dies tatsächlich die Intention der Beurteilung ist, muß dies kritisiert, ja abgelehnt werden. Ein ethisches Urteil über Menschen steht nur dem zu, der "die Herzen erforscht" und darum "weiß, worauf der Sinn des Geistes gerichtet ist" (Röm 8,27). Anders ist es aber mit der Urteilsbildung über eine Form des Zusammenlebens, die daraufhin zu prüfen ist, ob und inwieweit sie mit dem christlichen Menschenbild vereinbar ist und ihm entspricht. Sofern die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Person und Form des Zusammenlebens bzw. allgemeiner: zwischen Person und Werk verlorengegangen sein sollte, muß sie um der biblisch-reformatorischen Botschaft willen wiedergewonnen werden.13)
- Auch das dritte Argument für die Gleichrangigkeitsthese weist auf etwas Bedenkenswertes hin. Tatsächlich gibt es Fälle, wo Menschen unter schwierigen oder eingeschränkten Lebensbedingungen in beeindruckendem Maß ein Zusammenleben als Partner oder mit Kindern gelingt. Und es gibt Beispiele für Ehen und Familien, die weit dahinter zurückbleiben. Insbesondere leisten viele Alleinerziehende Beachtliches und verdienen deshalb Anerkennung und Unterstützung. Aber diese Tatsache sagt nur, daß auch unter schwierigen Bedingungen gelingende menschliche Beziehungen möglich sind. Sie sagt nichts über die Qualität der unterschiedlichen Formen des Zusammenlebens. Um darüber ein verantwortbares Urteil zu gewinnen, muß man schwierige Ehen mit schwierigen anderen partnerschaftlichen Formen des Zusammenlebens und gelingende Familien mit gelingenden anderen familialen Formen des Zusammenlebens vergleichen.
Als Ergebnis läßt sich festhalten, daß alle drei Argumente berechtigte Anliegen enthalten und zur Geltung bringen, daß sie aber nicht in der Lage sind, die These von der Gleichrangkeit aller Formen des Zusammenlebens zu begründen. Gegen diese These spricht aber, daß sie entweder, wenn sie wörtlich genommen wird, pauschal alles rechtfertigt, was es je an (sei es auch ausbeuterischen, unterdrückenden oder entwürdigenden) Formen des Zusammenlebens gegeben hat, gibt oder geben wird; oder, wenn sie in einem eingeschränkten Sinn nur auf alle gesellschaftlich anerkannten Formen des Zusammenlebens begrenzt wird, damit die gesellschaftliche Akzeptanz zum letztgültigen Beurteilungsmaßstab für Formen des Zusammenlebens macht. Beides ist mit der Aufgabe sozialethischer Urteilsbildung (aus der Sicht des christlichen Glaubens) unvereinbar. Daher ist die These von der Gleichrangigkeit aller Formen des Zusammenlebens abzulehnen.
3.3 Sinn und Bedeutung von Formen des Zusammenlebens
Wenn nicht alle Formen des Zusammenlebens gleichrangig sind, stellt sich die Frage nach den Kriterien, an denen diese Formen zu messen sind, um gegebenenfalls Unterschiede zwischen ihnen feststellen zu können. Sollen solche Kriterien nicht willkürlich eingeführt oder festgelegt werden, so ist zu fragen, welchen Sinn und welche Bedeutung Formen des Zusammenlebens überhaupt haben.
Solche Formen geben dem menschlichen Zusammenleben (relative) Stabilität und damit (relative) Erwartungssicherheit. Damit wird das Leben nicht nur überschaubarer, sondern es entstehen durch die damit gegebene Entlastung auch neue Räume für Muße, Kreativität und Entfaltung der Persönlichkeit. Aber all dies kostet seinen Preis; denn die Formen des Zusammenlebens "funktionieren" nur, wenn die an ihnen Beteiligten Regeln einhalten und damit ihren Entscheidungs- und Handlungsspielraum einschränken. Deshalb kann man sich fragen, ob solche Formen des Zusammenlebens sich für den einzelnen "rentieren" oder ob er nicht eher "auf seine Kosten kommt", wenn er jeweils spontan entscheidet, welche Beziehungen er (mit welchem Grad an Verbindlichkeit und Dauer) eingehen will und welche nicht.
Diese Argumentation geht aus von der Situation eines äußerlich und innerlich weitgehend unabhängigen Menschen, der sich an seinen Bedürfnissen, Wünschen und Neigungen orientiert. Schon dieser selbstbezogene Ausgangspunkt ist aus christlicher Sicht als gefährlich zu beurteilen. Die Argumentation ist aber auch insofern problematisch, als sie davon abstrahiert, daß wir alle nicht als solche unabhängige Persönlichkeiten zur Welt kommen, sondern im Gegenteil: als Wesen, die vollständig abhängig und deshalb auf Versorgung, Pflege und Zuwendung angewiesen sind. Und ein ähnlicher Zustand erwartet viele Menschen immer wieder in Krisenzeiten ihres Lebens sowie an ihrem Lebensende. Von daher wird erkennbar, worin der unverzichtbare Sinn und die lebensnotwendige Bedeutung von (stabilen) Formen des Zusammenlebens liegt: Sie dienen dem Schutz, ja der Lebensmöglichkeit der Schwachen, insbesondere der Kinder, ohne deren Existenz menschliches Leben nach wenigen Jahrzehnten aussterben würde. Darum ist die Lebensdienlichkeit im Blick auf die nachwachsenden Generationen sowie im Blick auf Alte, Kranke und Behinderte das zentrale Kriterium für die Bewertung von Formen des Zusammenlebens.
Sie ist aber nicht das einzige Kriterium; denn noch in einer anderen Hinsicht ist die Kosten-Nutzen-Argumentation im Blick auf Formen des Zusammenlebens abstrakt: Sie abstrahiert von der Möglichkeit, einen anderen Menschen so zu lieben, daß man das Leben mit ihm teilen möchte. Hier ist es nicht die Angewiesenheit und Schwäche, sondern der Wunsch nach Gemeinsamkeit, Nähe und Begegnung, der zur dauerhaften Form des Zusammenlebens hindrängt. Und dieser Wunsch ist auch dort legitim, wo er nicht verbunden ist mit dem Ziel oder der Möglichkeit, Kinder zu bekommen.
Trotzdem wird man sagen müssen, daß in einer Gesamtbetrachtung die Bedeutung der Formen des Zusammenlebens am eindrücklichsten anhand des Lebensanfangs und -endes, die jeder Mensch in irgendeiner Form zu bestehen hat, verdeutlicht werden kann. An ihnen müssen sich die Formen des Zusammenlebens messen lassen und bewähren, die in der Gesellschaft die Funktion von Leitbildern übernehmen sollen.
3.4 Ehe und Familie als soziale Leitbilder
Aus der Sicht des christlichen Glaubens sind Ehe und Familie die sozialen Leitbilder für das Zusammenleben von Menschen unter dem Aspekt der Sexualität und Generativität. 14) Deshalb ist es zu begrüßen, daß Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen. Die Aussagen über Ehe und Familie als Leitbilder für das Zusammenleben von Frau und Mann (mit Kindern) werden jedoch mißverständlich und gefährlich,
- wenn sie nicht ernstnehmen, daß die Begriffe "Ehe" und "Familie" in Vergangenheit und Gegenwart eine Vielfalt unterschiedlicher Formen des Zusammenlebens bezeichnen;
- wenn sie sich verbinden mit unrealistischen Liebesforderungen und Glückserwartungen;
- wenn sie außer Acht lassen, wieviel Unglück, Gewalt und Elend es in Ehen und Familien gibt;
- wenn sie die notwendige Offenheit und soziale Einbettung von Ehe und Familie vernachlässigen und
- wenn sie nicht anerkennen, was auch in anderen Formen des Zusammenlebens an gelingendem Leben möglich ist.
Ehe und Familie haben aus der Sicht des christlichen Glaubens insofern Leitbildfunktion, als sie die Formen des Zusammenlebens darstellen, die
- von den Ehepartnern in freiwilliger Zustimmung eingegangen werden und darum Ausdruck von Zuneigung und Liebe sind;
- ganzheitlich sind, also den Menschen als leibseelisches Wesen erfassen;
- verbindlich sind und damit dem menschlichen Bedürfnis nach Verläßlichkeit entsprechen;15)
- auf Dauer angelegt sind und darum auch für "schlechte Tage" gelten;
- partnerschaftlich gestaltet sind und darum Gegenseitigkeit und Gleichberechtigung zwischen den Ehepartnern ermöglichen;
- als Gemeinschaft von Mann und Frau grundsätzlich die Entscheidung für die Geburt von Kindern eröffnen und
- mit alledem einen Lebensraum darstellen, in dem Kinder aufwachsen und sich auf die vielfältigen Herausforderungen, Rollenerwartungen und Aufgaben des Lebens vorbereiten können.
Die Fülle dieser für das menschliche Leben wesentlichen Funktionen ist so nur in Ehe und Familie möglich. Das zeichnet sie als Leitbilder aus.
Wichtige Elemente, die in dieser Weise ethisch begründet sind, lassen sich jedoch auch in anderen Formen des Zusammenlebens verwirklichen. Insofern verdienen auch sie Anerkennung, Achtung und Schutz. Vom christlichen Menschenbild her können jedoch Formen des Zusammenlebens mit wechselnden Sexualpartnern nicht hierzu gerechnet werden.
3.5 Gleichgeschlechtliche Partnerschaft als Form des Zusammenlebens
Die Institutionen Ehe und Familie kommen nur für heterosexuell ausgerichtete Menschen in Betracht. Für bisexuell empfindende Menschen, die eine Ehe eingehen wollen, bedeutet dies die Entscheidung und die Aufgabe, auf das Ausleben ihrer homosexuellen Anteile zu verzichten und ihre heterosexuellen Anteile bewußt zu entwickeln.
Für Menschen, die eindeutig und unveränderbar homosexuell geprägt sind, sagt das zunächst, daß Ehe und Familie nicht die Leitbilder sind, an denen sie sich persönlich ausrichten können. Es sagt darüber hinaus, daß sie sich an diesen Leitbildern in der eigenen Lebensführung auch nicht ausrichten dürfen. Letzteres ist zu sagen, weil es in Vergangenheit und Gegenwart für homosexuell geprägte Menschen immer wieder die Versuchung gegeben hat, eine Ehe zu schließen, um sich davon "Heilung" bzw. ein "normales" Familienleben zu erhoffen oder um sich darin zu "tarnen". In den beiden ersten Fällen handelt es sich in aller Regel um eine Überforderung der Ehe, vor allem des Ehepartners. Wenn ein Mensch eine Veränderung seiner homosexuellen Prägung anstrebt, dann sollte er sich vor einer Eheschließung einer Therapie stellen. Wo die Ehe hingegen der "Tarnung" (etwa um des beruflichen Fortkommens willen) dient, handelt es sich in aller Regel um eine Täuschung oder einen schlimmen Mißbrauch des Ehepartners.16) Auch wenn die Gründe nachvollziehbar sind, die Menschen in einer homosexualitätsfeindlichen Gesellschaft veranlassen können, einen solchen Schritt zu tun, so kann davon um des Leides willen, das damit anderen Menschen zugefügt wird, doch nur dringend abgeraten werden.
Aber was folgt daraus für homosexuell geprägte Menschen, die aufgrund ihrer Lebensgeschichte und Selbstwahrnehmung zu dem Ergebnis gekommen sind, daß sie ihre homosexuelle Prägung als unveränderbar annehmen müssen und/oder wollen? Die theologische Ethik hat darauf in der Vergangenheit häufig geantwortet: Dann muß auf die Praktizierung dieser Prägung Verzicht geleistet, also sexuell enthaltsam gelebt werden.
Es ist nicht zu bestreiten, daß dies eine ethische Möglichkeit darstellt, und zwar nicht nur für homosexuelle, sondern auch für heterosexuelle Menschen. Ja, es gibt kaum eine Lebensgeschichte, in der nicht für kürzere oder längere Zeit sexuelle Enthaltsamkeit die einzige ethisch verantwortbare Möglichkeit darstellt. Daß die dadurch freiwerdende Triebenergie Beachtliches hervorbringen kann, ist bekannt. Der gesellschaftlich gängigen These, sexuelle Enthaltsamkeit sei unmöglich oder führe notwendigerweise zu schweren Störungen und Persönlichkeitsdeformationen, muß widersprochen werden. Ungezählte Menschen, die ehelos bleiben, Alleinlebende, Diakonissen, Nonnen, Mönche, Priester, aber auch Menschen, denen aufgrund einer Erkrankung oder Behinderung des Ehepartners oder der eigenen Person sexuelle Enthaltsamkeit abverlangt wurde, sind ein Beleg für diese Möglichkeit. Auch sie sind jedoch, wie verheiratete Menschen, nicht frei von Gefährdungen.
Gerade wegen ihrer Gefährdungen darf die Enthaltsamkeit nicht zur ethischen Forderung erhoben werden. Die wichtigsten einschlägigen Texte aus Schrift und Bekenntnis17) sprechen an dieser Stelle einmütig und ausdrücklich von einer besonderen Gabe, die einem Menschen von Gott gegeben sein muß, um sexuell enthaltsam leben zu können. Paulus gebraucht hierfür sogar den Begriff "Charisma", und er fügt an: "Wenn sie sich aber nicht enthalten können, sollen sie heiraten; denn es ist besser, zu heiraten, als sich in Begierde zu verzehren" (I Kor 7,9). Aber dieser "Ausweg" ist für eindeutig und unveränderbar homosexuell geprägte Menschen versperrt, ja er darf ihnen nicht gewiesen und von ihnen nicht begangen werden.18)
An dieser Stelle müssen die in Schrift und Bekenntnis aufgezeigten Linien nicht korrigiert, wohl aber ausgezogen werden, so daß sie auch für eindeutig und unveränderbar homosexuell geprägte Menschen gelten. Das heißt aber: Denjenigen, denen das Charisma sexueller Enthaltsamkeit nicht gegeben ist, ist zu einer vom Liebesgebot her gestalteten und damit ethisch verantworteten gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft zu raten. Die Kriterien, die für sie gelten, sind - mit einer wesentlichen Ausnahme - dieselben, die für die Ehe und Familie gelten: Freiwilligkeit, Ganzheitlichkeit, Verbindlichkeit, Dauer und Partnerschaftlichkeit.
Die eine wesentliche Ausnahme betrifft die Funktion von Ehe und Familie als Lebensraum für die Geburt und Erziehung von Kindern. Daß dieser Punkt nicht marginal, sondern zentral ist, zeigte sich im Abschn. 3.3 bei der Reflexion über Sinn und Bedeutung von Formen des Zusammenlebens. Die damit gegebene Begrenzung wäre auch dadurch nicht aufzuheben, daß gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften das Adoptionsrecht eingeräumt würde. Im Gegenteil: Mit einem solchen Schritt würden für die betroffenen Kinder neue Probleme geschaffen, die ethisch nicht verantwortet werden können.
Die Institution Ehe muß heterosexuellen Paaren vorbehalten bleiben. Im Blick auf die Frage, welche rechtlichen Regelungen für gleichgeschlechtliche Partnerschaften gelten sollten oder geschaffen werden müßten, ist zunächst daran zu erinnern, daß dies eine staatliche Aufgabe ist. Die Kirche hat jedoch die Aufgabe, die staatliche Gesetzgebung kritisch zu begleiten und konstruktiv zu ihr Stellung zu nehmen.
Ob das Modell der "Eingetragenen gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft" akzeptabel ist (und gegebenenfalls in welcher rechtlichen Form und Ausgestaltung), muß erst noch daraufhin geprüft werden, ob es dem Unterschied zur Ehe hinreichend Rechnung trägt und den Besonderheiten homosexueller Partnerschaften gerecht wird. Falls ein solches Rechtsinstitut eingeführt werden sollte, dürfte es jedenfalls nicht die Schaffung einer entsprechenden Institution für nicht-eheliche heterosexuelle Partnerschaften nach sich ziehen; denn Partnern solcher Gemeinschaften steht die Ehe offen.
Die Kirche sollte dafür eintreten, daß der Staat im Blick auf gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften diejenigen Benachteiligungen aufhebt oder vermeidet, für die keine sachlichen Gründe - z.B. zum Schutz der Ehe - bestehen. Solche aufzuhebenden und zu vermeidenden Benachteiligungen gibt es beispielsweise im Erb- und Mietrecht.
In jedem Fall ist jedoch auch kirchlicherseits zu bedenken, daß die rechtlichen Regelungen nicht selbst in der Lage sind, die Bildungsaufgabe zu übernehmen, die sich insbesondere im Blick auf junge Menschen ergibt, wenn gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften eine staatlich geregelte Form des Zusammenlebens darstellen. Dabei handelt es sich über die generelle Bildungsaufgabe im Blick auf Sexualität hinaus um eine Bildungsaufgabe einerseits gegenüber homosexuell geprägten Menschen, die in eine solche Partnerschaft eintreten (wollen), andererseits aber auch gegenüber den in ihrer sexuellen Identitätsfindung noch unsicheren jungen Menschen, von denen nicht wenige in der Pubertät oder Adoleszenz eine homophile oder bisexuelle Phase durchlaufen.