Kirsten Fehrs zum Schutz der Menschenrechte und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt

Hamburg, Frankfurt a.M. (epd). Im November stellt sich die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs zur Wahl für den Ratsvorsitz der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Im Interview erzählt sie, wie die Kirche den Schutz der Menschenrechte stärken kann und wie die EKD bei der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt vorankommt.

epd: Unsere Nachrichten sind aktuell von Gewalt, Hass und auch von der Klimakrise geprägt. Leben wir in einer gottlosen Welt?

Fehrs: Das sicher nicht. Aber wir leben in einer Welt, in der Menschen manchmal die Demut zum Leben fehlt. Das sehe ich jedoch als Ansporn für uns als evangelische Kirche und als Christenmenschen, nicht nachzulassen, den Schutz des Lebens und die Würde jedes Einzelnen zu betonen.

Wenn man auf die Migrationsdebatte schaut, scheint der Schutz des Lebens nicht an erster Stelle zu stehen. Wie sehen Sie das?

Ich betrachte die aktuelle Debatte um Flucht und Migration mit Sorge. Es scheint, dass der Ruf nach Abschottung gewinnt und der Schutz der Grenzen wichtiger ist als der der Menschenwürde. In dieser Debatte erheben wir als Kirche unsere Stimme und sagen ganz klar: Wir stehen für Menschenrechte und einen fairen Umgang mit Geflüchteten ein. Mitgefühl, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sind zentrale Werte des Christentums, und wir werden diese weiterhin in die politische Debatte einbringen.

Das Kirchenasyl ist im vergangenen Jahr zunehmend unter Druck geraten. Haben Sie Sorge, dass diese Institution künftig an politischer Akzeptanz verlieren könnte?

Ja, das macht mir Sorgen. In den letzten Monaten wurden bundesweit mehrere Kirchenasyle von den Behörden beendet. Kirchenasyl bleibt oft die letzte Hoffnung für Geflüchtete. Dabei handelt es sich wohlgemerkt um besondere Härtefälle, in denen beispielsweise schwerkranke Menschen in Länder abgeschoben werden sollen, in denen sie keine angemessene medizinische Versorgung erhalten. Es geht nicht darum, Gesetze zu umgehen, sondern darum, dass Behördenentscheidungen nach genauer Abwägung und Prüfung kritisch hinterfragt werden können. Das ist legitim - und es macht eine Gesellschaft menschlicher.

Die katholische Kirche hat sich klar gegen völkischen Nationalismus positioniert und dies in kirchliches Arbeitsrecht übertragen. Plant die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) Ähnliches?

Die EKD-Synode hat sich bereits im November 2023 klar positioniert: Völkisch-nationales Gedankengut in Parteien ist mit christlichen Überzeugungen unvereinbar. Dass es in Landeskirchen auch zu Freistellungen von Mitarbeitenden gekommen ist, die sich für Ämter in der AfD zur Verfügung gestellt haben, ist bekannt.

Wenn in einem Arbeitsverhältnis menschenverachtende und gar volksverhetzende Haltungen gezeigt werden, können wir arbeitsrechtlich einschreiten - völlig unabhängig davon, ob jemand sich in der AfD engagiert oder nicht. Dafür braucht es zwar keine weitere rechtliche Regelung. Aber ich halte es für möglich, dass die Synode im November das Thema erneut aufgreift.

Im Januar haben Sie bei der Vorstellung der ForuM-Studie zu sexualisierter Gewalt in der EKD und Diakonie angekündigt, dass Sie Verantwortung übernehmen. Was ist bisher passiert?

Die Studie hat viele Punkte bestätigt, an denen bereits unter permanenter Mitwirkung von Betroffenen aus Kirche und Diakonie gearbeitet wurde, wie etwa an der Anpassung der Anerkennungsleistungen, Änderungen im Disziplinarrecht oder dem Aufbau eines Netzwerks für Betroffene, das just online gegangen ist. Alle Landeskirchen haben die Ergebnisse der Studie zum Beispiel auf ihren Landessynoden aufgenommen und bearbeitet. Im Beteiligungsforum, dem Ort, an dem Betroffene sowie Kirchenvertreterinnen und -vertreter gemeinsam beraten, wurde ein Maßnahmenplan entwickelt, der die 46 Empfehlungen der ForuM-Studie aufnimmt und der im November bei der Synode vorgestellt wird.

In der Ahrensburger Studie von 2014 hieß es bereits, dass Betroffene sexualisierter Gewalt, die Vorwürfe gegen die Kirche erheben, oft als Querulanten oder Nestbeschmutzer abgewertet werden. Zehn Jahre später kommt die ForuM-Studie zu einem ähnlichen Ergebnis. Warum hat die ForuM-Studie dennoch bei einigen Abwehrreaktionen ausgelöst?

Ich habe keine abwehrenden Reflexe nach der Veröffentlichung der ForuM-Studie bemerkt, gerade dort nicht, wo man sich schon intensiv mit dem Thema befasst hat. Im Gegenteil. So hat die Ahrensburger Studie ja nachhaltig etwas verändert. In der Nordkirche hat uns das Gutachten 2014 zur Entwicklung des ersten Präventionsgesetzes geführt. Das mag formal klingen, bedeutet aber, dass jede Gemeinde sich etwa in ihren Schutzkonzepten mit gefährdenden Faktoren im direkten Umfeld auseinandersetzen muss.

Ist das Thema wirklich in jeder Gemeinde angekommen?

Ich behaupte schon, dass seit Längerem ein Bewusstseinswandel stattfindet und es eine höhere Sensibilisierung gibt. Auch wenn das noch nicht überall gleich stark ausgeprägt ist. Wir können nie ausschließen, dass sexualisierte Gewalt noch geschieht, aber insgesamt ist die Kulturveränderung in Gang gebracht. Es braucht einfach seine Zeit, bis alle Pastorinnen und Pastoren und Ehren- wie Hauptamtliche geschult sind und Schutzkonzepte flächendeckend greifen.

Ein weiterer Befund der ForuM-Studie war, dass Fälle sexualisierter Gewalt oft historisiert werden, also der Eindruck erweckt wird, die Fälle lägen alle in der Vergangenheit. Wie stehen Sie dazu?

Eine Historisierung, die zur Relativierung des Leids führt, darf keinesfalls sein. Das ist ganz klar. Zugleich bleibt zu fragen, ob der Zeitpunkt der Taten gar keine Rolle spielt. Von den 511 beschuldigten Pfarrern und Kirchenbeamten in der Studie wurden 500 vor dem Jahr 2000 ordiniert. Solch eine historische Einordnung kann auch ein Hinweis darauf sein, dass sich in einer Institution etwas verändert hat. Dazu könnte möglicherweise der steigende Frauenanteil im Pfarramt beigetragen haben.

Die Richtlinie, die EKD-weit Anerkennungsleistungen für Betroffene vereinheitlichen soll, wird nun anders als angekündigt nicht zur Synode fertig. Die 20 Landeskirchen sollen bis Ende November jetzt noch einmal Stellung nehmen, obwohl sowohl der EKD-Rat als auch die Kirchenkonferenz die Richtlinie bereits gebilligt haben - warum?

Zunächst: Die Anerkennungsrichtlinie muss nicht von der Synode verabschiedet werden. Das Stellungnahmeverfahren ist das übliche Verfahren, das sicherstellen soll, dass die Richtlinie unter bewusster und ausdrücklicher Zustimmung in den Landeskirchen und der Diakonie mit einheitlichen Standards umgesetzt wird. Darauf wird es am Ende ankommen. Denn wir leisten hier als evangelische Kirche mit einem solchen Standard eine Pionierarbeit.

Haben die Landeskirchen ein Vetorecht?

Es geht hier nicht um ein Veto. Die Landeskirchen können Vorschläge machen, um einzelne Aspekte nachzubessern. Aber das grundsätzliche Einvernehmen besteht ja. Es wird bei einer individuellen Leistung bleiben, zu der eine pauschale Leistung kommt, wenn es sich nach heutiger Rechtslage um strafrechtlich relevante Taten handelt. Dabei wird es sich um eine fest definierte Summe handeln, die im Beteiligungsforum zwischen allen Beteiligten lange verhandelt wurde.

Wie hoch wird diese Summe sein?

Das wird Gegenstand des Berichts aus dem Beteiligungsforum auf der Synode sein. Dem möchte ich nicht vorgreifen.

Aber die Landeskirchen können durch das Stellungnahmeverfahren die Summe nicht noch ändern?

Das sehe ich nicht. Die Summe orientiert sich unter anderem an der aktuellen Rechtsprechung. Sie ist nicht einfach aus der Luft gegriffen.

Wann tritt die Richtlinie in Kraft?

Die Rückmeldungen, die aus Diakonie und den Landeskirchen im Stellungnahmeverfahren kommen, werden anschließend im Beteiligungsforum beraten, bis dort Einvernehmen besteht. Danach wird der Rat der EKD die Richtlinie möglichst schon im Frühjahr in Kraft setzen.