Kirchen Ost und West: Dankbar vereint, unterschiedlich geprägt
Ökumene-Experte Martin Bräuer vom Konfessionskundlichen Institut über das Zusammenwachsen der Kirchen nach dem Mauerfall
Bensheim (epd). Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall wirken nach Ansicht des Ökumene-Experten Martin Bräuer weiterhin unterschiedliche Prägungen der Kirchen in Ost und West nach. „Strukturell und institutionell ist der Vereinigungsprozess abgeschlossen. Dennoch existieren unterschiedliche Mentalitäten in Ost und West“, sagte der Catholica-Referent des Konfessionskundlichen Instituts der evangelischen Kirche im südhessischen Bensheim dem Evangelischen Pressedienst (epd). Streitpunkte waren lange die Militärseelsorge, der staatliche Religionsunterricht sowie die Stasi-Belastung kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Rund zwei Jahre nach dem Mauerfall vor 30 Jahren trat die rechtliche Einheit der evangelischen Kirchen in Ost und West Ende Juni 1991 wieder in Kraft. Heute scheint das kirchliche Zusammenwachsen als Selbstverständlichkeit wahrgenommen zu werden. War das damals wirklich so reibungslos?
Martin Bräuer: Man muss sich vergegenwärtigen, dass seit dem Mauerbau 1961 keine gemeinsame Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) mehr getagt hatte. Auch wenn die „DDR-Kirchen“ formal noch bis 1969 zur EKD gehörten, schlossen sich dann vor 50 Jahren die acht Landeskirchen in der DDR zu ihrem Kirchenbund zusammen. Dennoch bestand weiterhin quer durch den eisernen Vorhang ein dichtes Netz an Kontakten zwischen Christen in Ost und West, zwischen Gemeinden und Landeskirchen. Die Brücke blieb stabil, auch wenn sich der kirchliche Alltag deutlich unterschied: In der Bundesrepublik war die protestantische Volkskirche vielfältig eingebunden in die Strukturen der Demokratie. In der DDR dagegen wuchs die staatliche Repression, die die Protestanten an den Rand der Gesellschaft drängte. Die Kirche bot Schutzraum für Gläubige – und für die Opposition, was letztlich zum Ende der DDR beitrug.
Gab es auch Kritik an der raschen Vereinigung der beiden Kirchen?
Bräuer: Bald nach dem Mauerfall im November 1989 hatte die evangelische Kirche auf die Einheit zugearbeitet. Schon im Januar 1990 trafen sich in der Evangelischen Akademie Loccum bei Hannover Beauftragte von EKD und Kirchenbund. „Die besondere Gemeinschaft der evangelischen Christenheit in Deutschland ist trotz der Spaltung des Landes und der organisatorischen Trennung der Kirche lebendig geblieben“, hieß es in ihrer Loccumer Erklärung, in der sie zur raschen Überwindung sowohl der kirchlichen als auch der staatlichen Teilung aufriefen. Die Teilnehmer des Treffens in Loccum beteuerten, mit den „während der Zeit der Trennung gewachsenen Erfahrungen und Unterschieden“ sorgsam umgehen zu wollen.
Ihr klares Votum zur raschen Vereinigung blieb nicht unwidersprochen: In einer Berliner Erklärung äußerten prominente Theologen im Februar 1990 Bedenken, und im November 1990 stritt die westdeutsche EKD-Synode in Timmendorfer Strand noch einmal über das Für und Wider. Doch die Dynamik der Geschichte beeinflusste auch die Protestanten: Seit Juli 1990 gab es bereits eine gemeinsame Währung, seit dem 3. Oktober nur noch einen Staat.
Wie war damals die Stimmung?
Bräuer: Im Februar 1991 tagten die beiden Kirchenparlamente letztmalig getrennt in Berlin: die EKD in Spandau, der Kirchenbund in Weißensee. Im Osten kochten noch einmal Emotionen hoch: Von „Eingliederung und Anschluss“ war die Rede. Letztlich stimmten aber beide Synoden mit großer Mehrheit für das Kirchengesetz zur Vereinigung. Nach der Ratifizierung durch die östlichen Landessynoden trat im Juni in Coburg die neue EKD-Synode gesamtdeutsch zusammen – „nüchtern und dankbar“ vereint, wie ihr Vorsitzender Jürgen Schmude resümierte. Bekannt wurde der Satz, den Pfarrer Axel Noack, der spätere Bischof in Magdeburg, im Jahr 2016 in der Zeitschrift „zeitzeichen“ äußerte: „Wir aus dem Osten haben auf manche im Westen ja exotisch gewirkt. Wir sind politisch-ethisch oft links und zugleich fromm gewesen.“ Die EKD wuchs 1991 von 16 auf 24 Landeskirchen mit 29,2 Millionen Mitgliedern an und sie veränderte sich auch.
Wurden ostdeutsche Themen ausreichend berücksichtigt?
Bräuer: Vor allem über die Militärseelsorge, den staatlichen Religionsunterricht sowie die Stasi-Belastung kirchlicher Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wurde gestritten. Das heißeste Eisen war sicher die Militärseelsorge. Die Kirchen der DDR wollten nicht, dass die Pfarrer für die Zeit ihrer Militärseelsorge wie im Westen Beamte des Staates werden. Dahinter stand das in 40 Jahren gewachsene tiefsitzende Misstrauen gegen alle enge Verbundenheit mit dem Staat. Schließlich fand sich ein Kompromiss. In Ostdeutschland blieb es für eine Übergangszeit bis 2003 möglich, dass Militärseelsorger Pfarrer ihrer Landeskirche bleiben. Seitdem gilt im Osten das westdeutsche Modell. Ende Juni 1991 kam nach langen Verhandlungen seit 1961 erstmals auch wieder eine gesamtdeutsche Synode zusammen, der Kirchenvertreter aus damals allen 24 evangelischen Landeskirchen angehörten.
Ist der Vereinigungsprozess der Evangelischen Kirche in Deutschland heute abgeschlossen?
Bräuer: Strukturell und institutionell ist der Vereinigungsprozess abgeschlossen. Dennoch existieren unterschiedliche Mentalitäten in Ost und West.
War der Vereinigungsprozess bei den katholischen Christen einfacher?
Bräuer: Bei den katholischen Christen war die Situation etwas anders. Formal gehörten die Gebiete der heutigen Bistümer Erfurt und Magdeburg sowie die heute zum Erzbistum Hamburg zählende Region Mecklenburg auch zu DDR-Zeiten zu westdeutschen Diözesen – und zwar zu Osnabrück, Paderborn, Fulda und Würzburg. Allerdings wurde es für die in der Bundesrepublik residierenden Bischöfe im Laufe der Jahre immer schwieriger, ihre Gläubigen auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs zu erreichen. Deshalb errichtete der Vatikan 1973 in Erfurt, Magdeburg und Schwerin Bischöfliche Ämter mit einem Apostolischen Administrator an der Spitze. Zwar blieben die drei Regionen damit offiziell Bestandteil ihrer westdeutschen „Mutterbistümer“, allerdings entwickelten sie mit der Zeit eine immer größere Eigenständigkeit.
Ähnlich war auch die Entwicklung in Görlitz: Die Stadt an der Neiße bildete des Zentrum des nach 1945 auf deutscher Seite liegenden Gebiets des Erzbistums Breslau. Da eine Wiedervereinigung mit dem polnischen Teil nicht möglich war, erhob der Vatikan den deutschen Teil schon 1972 ebenfalls zu einem Bischöflichen Amt mit einem Apostolischen Administrator als oberstem Repräsentanten. Neben den eigenständigen Bistümern Berlin (1930 gegründet) und Meißen (1921 wiedergegründet) gab es damit ab Mitte der 1970er Jahre in der DDR vier bistumsähnliche Regionen: Erfurt, Görlitz, Magdeburg und Schwerin. Und genau diese Struktur bildete nach der Wiedervereinigung die Grundlage für die Neuordnung der Bistumslandschaft in den fünf neuen Bundesländern.
Wie wurde diese katholische Neuordnung rechtlich geregelt?
Bräuer: Dass zur Errichtung der Bistümer Verträge mit dem Staat geschlossen werden mussten, lag dabei am 1933 zwischen dem Deutschen Reich und dem Heiligen Stuhl geschlossenen Reichskonkordat. In Artikel 11 des Vertrags heißt es: „Eine in Zukunft etwa erforderlich erscheinende Neueinrichtung eines Bistums oder einer Kirchenprovinz oder sonstige Änderungen der Diözesanzirkumskription bleiben, soweit es sich um Neubildungen innerhalb der Grenzen eines deutschen Landes handelt, der Vereinbarung mit der zuständigen Landesregierung vorbehalten.“ Unter Juristen war zwar umstritten, ob das Konkordat in der DDR überhaupt Gültigkeit besessen hatte. Trotzdem wurde die Notwendigkeit einer Übereinkunft zwischen Kirche und Staat nicht infrage gestellt.
Interview: Stephan Cezanne (epd)