Kirche als Erfahrungsraum – jenseits der Organisierbarkeit
Vortrag von Sabrina Müller zum Zukunftsforum 2020
Für Pfarrerin Dr. Sabrina Müller, Theologische Geschäftsführerin des Zentrums für Kirchenentwicklung der Universität Zürich, hat Kirche das Potenzial einer Kirche der Zukunft, wenn sie zu einem Ort wird, wo religiöse Erfahrungen verstanden, diskutiert und gedeutet werden. Dieser Ort muss nicht mehr zwingend, kann aber geographischer Natur sein. Naheliegend ist es vielmehr Kirche als Netzwerk zu verstehen, in dem auch Ortsgemeinde einen Platz hat. Aber eben einen Platz unter anderen und nicht den einzigen Platz und die Deutungsmacht.
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Eine pluralisierte und individualisierte Gesellschaft bringt Lebensentwürfe hervor, die vielfältiger, individueller, spontaner, aber auch erfahrungsorientierter geworden sind.
Die eigene Erfahrung ist die ausschlaggebende Instanz für die Deutung des Lebens, auch für die religiöse. Sabrina Müller verwendet das Wort «Gelebte Theologie» für eine erfahrene, dann aber auch reflektierte alltägliche Glaubenspraxis, die ein kritisches Moment des Zweifelns und Fragens beinhaltet.
Beharrliche Stimme in der Öffentlichkeit
Auch individualisierte Lebensentwürfe verlangen für die Selbstvergewisserung und um zu reflektiertem Ausdruck der persönlichen und religiösen Erfahrungen zu gelangen nach einem Gegenüber, sei dies in einer Kirchengemeinde, in Freundschaften oder in virtuellen Diskursräumen. Das alles hat Konsequenzen, wie eine Kirche der Zukunft gedacht und organisiert werden muss.
Will Kirche Teil der Gesellschaft sein, kann sie das immer nur vielfältig und netzwerkartig. Das schließt ebenso die kirchliche Institution ein, die eine beharrliche kritische Stimme in der Öffentlichkeit darstellt. Gleichermassen braucht es die Ortsgemeinden, die engagiert vor Ort, in Dörfern, im kirchlichen Unterricht, bei Beerdigungen und Taufen verlässlich präsent sind. Es braucht eine «kirchliche Biodiversität», in der alle Ausdrucksformen von Kirche gleich viel wert sind.
Vielfalt und Veränderung
Diese vielfältige Kirche ist vor Ort, in der Region aber auch in Netzwerken, Peer-Groups, online, inmitten und am Rande der Gesellschaft präsent. Sie ist nahbar und erfahrbar für verschiedenste Menschen, weil sie in den Kontext inkarniert.
In ihr lebt das Allgemeine Priestertum. Das umfasst genuin auch ausgebildete, ordinierte Theolog*innen. Gebraucht werden Pfarrpersonen und Kirchenleitende, die sehr gut in der Lage sind zwischen Theologie, Tradition und Kontext zu vermitteln. Sie sind in erster Linie theologische Coaches und Ermöglicher*innen für eine sich verändernde und auch immer wieder kontextuell entstehende kirchliche Praxis.
Müller: Kirche-Sein ein Suchprozess
Freiwilligenarbeit in der Kirche wird als geistliches Moment verstanden werden. Allgemeines Priestertum bedeutet, diese Berufung im Alltag, analog und digital und in vielfältigen Ausdrucksformen von Kirche zu leben. Die Kernaufgabe kirchlicher Institution und der Pfarrer*innen ist nicht die Kommunikation des Evangeliums selbst, sondern die Förderung der Kommunikation des Evangeliums, die Menschen zu befähigen, theologisch sprach- und ausdrucksfähig zu werden und dazu anzuregen weiterzudenken.
Kirche-Sein in diesem Denkhorizont ist vielfach ein Suchprozess. Es wird gesucht, ausprobiert, Risiken werden eingegangen und es werden Fehler gemacht. Diese Kultur muss aktiv gefördert werden - und zwar auf allen Leitungsebenen.