„Warum die Kirche mit an Bord ist – Zum kirchlichen Einsatz für zivile Seenotrettung“
Vortrag von Sabine Dreßler, Oberkirchenrätin, Referat für Menschenrechte, Migration und Integration der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), am 7.7. in der Kirche am Markt, Ev. Kirchengemeinde Kettwig (Essen), zum Themenabend „Wir schicken ein Schiff“.
Es gilt das gesprochene Wort
Das Bündnis United4rescue – Gemeinsam retten e.V. hat seit seiner Gründung eine ungeahnte und überaus breite Unterstützung erfahren – mit inzwischen 782 Bündnispartnern und 668 Fördermitgliedern, tausenden Spender*innen und zwei Bündnisschiffen. Die Mitglieder reichen vom Milchhof Mahnke über Landeskirchen, Diakonie und Caritas, DGB und AWO, Revolverheld bis Fritz-kola.
„Die Kirche“ ist dabei ein Bündnispartner unter anderen – und dafür wird sie geliebt und gescholten. Im Folgenden einige Gedanken dazu, was dieser Einsatz nicht nur für in Seenot Geratene bedeutet, sondern für die Kirche selbst, wenn sie mit an Bord geht, um die Menschenwürde zu verteidigen.
I. Zunächst zum aktuellen Stand
Durch den Einsatz der Rettungsschiffe Sea-Watch 4 und Sea-Eye konnten bisher über 1000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet werden (SW4 1. Einsatz 353 Menschen, 2. Einsatz 456 Menschen & SEA-EYE 4 erster Einsatz 408 Menschen), alle Rettungen fanden in der Such- und Rettungszone vor Libyen statt (wo niemand sonst rettet, sondern die Boote von der sog. libyschen Küstenwache maximal zurückgeholt werden).
Obwohl Rettung aus Seenot völkerrechtliche Pflicht ist, gibt es keine staatliche Seenotrettung mehr. Schon 2014 hat die EU diese eingestellt („Mare Nostrum“), stattdessen intensiv in den europäischen Grenzschutz investiert. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) haben im Jahr 2020 mehr als 33.000 Menschen versucht über das Mittelmeer nach Europa zu kommen, da legale Einreisewege (z.B. auch Resettlementprogramme, also die Neuansiedlung von besonders Schutzbedürftigen) auf ein Minimum eingeschränkt worden sind.
Laut IOM sind in diesem Jahr bereits mindestens 866 Menschen im Mittelmeer ertrunken, davon 673 auf der zentralen Route vor der Küste Libyens, wo auch die großen Rettungsschiffe im Einsatz sind. Seit 2014 sind mehr als 20.000 Menschen ertrunken.
Nach aktuellen Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerk sind derzeit über 82,4 Millionen Menschen auf der Flucht; 26,4 Millionen von ihnen haben die Grenze ihres Herkunftslandes überschritten, davon sind 4,2 Mio. Asylsuchende, 3,6 Mio aus Venezuela Vertriebene; alle anderen Menschen sind sog. Binnenvertriebene, die innerhalb ihres Herkunftslandes Schutz suchen. Etwa 86 Prozent der Flüchtlinge leben in Ländern des Globalen Südens bzw. in Nachbarländern ihrer Herkunftsländer.
Das sind einfach nur nüchterne Fakten.
II. Was nun tut „die Kirche“, also wir?
Seit Jahrzehnten engagieren sich Kirchen und kirchliche Hilfswerke in der Entwicklungszusammenarbeit bzw. mit ihren Partnern und weltweit operierenden kirchlichen Bünden jeweils vor Ort. Menschen sollen ein sicheres Leben und Auskommen haben und weit mehr als das: sie sollen als Gottes Ebenbilder in Würde leben können. Das ist so gut wie selbstverständlich.
Aber aller Einsatz genügt einfach nicht, weil er nicht ankommt gegen die vielfältigen Ursachen für Flucht und Vertreibung, seien es Kriege, gewaltsame Auseinandersetzungen, sei es aufgrund von Dürre, Tyrannei, Verfolgung – mit all den jeweiligen Folgen.
Wenn wir auf die Herkunftsländer der größten Gruppe von Vertriebenen weltweit sehen, dann brauchen wir nicht mehr zu fragen, wieso das so ist, worin also das Scheitern begründet ist: Syrien, Afghanistan, Südsudan, Venezuela und Myanmar sind die Haupt-Herkunftsländer von Geflüchteten, die außerhalb ihres Landes leben (68%).
Was als „Flüchtlingskrise“ bezeichnet wird, ist eine Krise, nein, der Ausfall von Politik weltweit, die nicht in der Lage ist, in ihrem Verantwortungsbereich das Dasein von Menschen so zu schützen, dass millionenfaches Leid vermieden wird und vielmehr eine gerechtere Verteilung von und der Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen ermöglicht wird.
Ein Schritt unter vielen dazu wäre schon mit der Beendigung von Kriegen und der dafür notwendigen Begrenzung bzw. Einstellung von Waffenlieferungen und Rüstungsgütern in Krisengebiete gegeben – auch dies findet keine Mehrheiten.
Die Feststellung einer verfehlten Politik gilt, auf das Mittelmeer bezogen, auch für die Situation in Europa, wo sich die Staatengemeinschaft nicht auf die gemeinsame Übernahme von Verantwortung und eine faire Verteilung zur Aufnahme von Geflüchteten bzw. Geretteten einigen kann.
Wir dürfen nicht vergessen, warum es zivile Seenotrettung gibt: aus dem einfachen Grund, dass die Staatengemeinschaft Europas ihren Aufgaben nicht nachkommt. Indem Kirchen diesen aktiven Einsatz für Menschenrechte und Menschenwürde unterstützen, erinnern sie die Staatengemeinschaft an ihre Pflicht und ihre eigenen Grundüberzeugungen:
So heißt es im EU-Vertrag von 1992, indem die EU ihre Grundwerte festschreibt: Präambel EU - dejure.org
Art 2: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.“
Art 3: „In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte und Interessen und trägt zum Schutz ihrer Bürgerinnen und Bürger bei. Sie leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, zu freiem und gerechtem Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen.“ Art. 3 EU - (ex-Artikel 2 EUV) - dejure.org
Was an Europas Außengrenzen jedoch geschieht, was längst nicht mehr nur zugelassen oder billigend in Kauf genommen, sondern aktiv unterstützt wird seitens der EU, wie es die Rolle der Agentur „Frontex“ mit sog. Push Backs, unterlassener Hilfeleistung und der Auslagerung von Schutzverantwortung an andere Akteure (z.B. Libyen) zeigt, das alles ist mit diesen ihren eigenen Werten nicht mehr vereinbar.
(Seit Monaten die Rolle von Frontex – ob in Griechenland, Bosnien oder dem Mittelmeer – immer offensichtlicher: Grenzschutz bedeutet in allererster Linie Flüchtlingsabwehr, nicht selten mit völkerrechtswidrigen Mitteln. Über dem Mittelmeer spürt Frontex mit Flugzeugen Flüchtlingsboote auf und gibt die Informationen nach Libyen weiter, wodurch die sog. libysche Küstenwache in großer Zahl fliehende Menschen zurück nach Libyen bringen kann. Europarechtlich ist das mehr als fragwürdig, die Völkerrechtlerin Prof. Nora Markard (Münster), spricht von „Beihilfe zu schwersten Menschenrechtsverletzungen." www.tagesschau.de/investigativ/monitor/frontex-rueckfuehrungen-libyen-101.html)
Und mehr noch: es hat massive Auswirkungen auch auf den europäischen Rechtsraum. Neben Frontex verstoßen auch staatliche Behörden – die griechische, italienische, maltesische Küstenwache oder auch kroatische Polizisten – gegen geltende Gesetze; die Pressefreiheit gerät unter Druck, wenn in Griechenland ein „Verschwiegenheitsgesetz“ die freie, kritische Berichterstattung über die katastrophale Situation in den Lagern einschränkt, Zeugenschaft soll verhindert werden (durch Flugverbote für die Aufklärungsflugzeuge).
Das bedeutet: durch das Zulassen oder die aktive Unterstützung von Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen durch die EU verändern wir die Menschenrechtslage auch innerhalb Europas und schädigen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Damit geht es auch um uns und darum, wie wir leben wollen und welche Gesellschaft wir sein wollen.
III. Was bedeutet das für uns als Kirche?
Wir können sagen: Wir tun doch schon so viel und werden weiterhin viel dafür tun, um zu helfen, Fluchtursachen zu bekämpfen, indem wir unsere Möglichkeiten als Kirche in der internationalen Partnerschaft und Ökumene nutzen. Und: wir kümmern uns um diejenigen, die bis zu uns gelangt sind, indem wir mit unseren vielen Einrichtungen Menschen bei der Integration helfen, sie beraten, begleiten.
Das ist absolut notwendig und hier haben wir als Kirche durch jahrzehntelange Arbeit viele Möglichkeiten, Kompetenzen und Erfolge erworben. Gerade die Jahre 2015/16 mit der Ankunft so vieler Schutzsuchender in Deutschland haben gezeigt, wie wichtig und nachhaltig der Einsatz der Kirchen und insbesondere der vielen Ehrenamtlichen für die Ankommenden, aber auch insgesamt für das Miteinander einer vielfältigen Gesellschaft war und ist.
Und doch entbindet uns dieses Engagement nicht davon, hinzusehen, wo andere wegschauen, und erlaubt uns nicht, zuzusehen, wie andere Menschen unbeachtet aus dem Blickfeld der Welt verschwinden und wir uns daran gewöhnen, dass das Mittelmeer längst zu einem Massengrab geworden ist.
Warum?
Weil wir Kirche sind – eine Gemeinschaft von Menschen, die glauben, dass jedes Leben seinen unverbrüchlichen Wert hat und niemandes Leben egal ist, nicht das der somalischen Frau, nicht das des syrischen Kindes, nicht das des afghanischen Mannes.
Weil wir an den glauben, der uns ins Angesicht sagt: „Was ihr einem meiner geringsten Geschwister getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40) – oder eben auch nicht getan.
Weil wir an den Christus glauben, der noch als Baby mit den Eltern in den nicht befreundeten Nachbarstaat Ägypten fliehen muss – und dort Aufnahme erfährt! –, und der die Not der vielen Kinder von heute teilt. Und der seinen Jüngern später klarmachen wird, welchen Preis es hat, ihm nachzufolgen, wenn er sagt: „Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.“ (Mt 8,20)
Weil wir uns erinnern lassen von den wieder und wieder mahnenden Worten Gottes, die eingeschrieben sind in die Gebote der Gerechtigkeit und der Nächstenliebe, und die damit auch uns eingeschrieben sind in unsere Glaubensgeschichte und in die Worte zum Leben durch die Erfahrungen derer, die vor uns auf diesen befreienden Gott vertraut haben: „Einen Fremden sollst Du nicht quälen. Ihr wisst ja selbst, wie dem Fremden zumute ist. Denn ihr seid in Ägypten Fremde gewesen.“ (Ex 22,9)
Weil wir Sonntag für Sonntag aus dem Buch der Psalmen hören, singen, beten – mit Worten von Menschen, die vor Verfolgung, Hunger oder Schwert fliehen und auch den Tod durch Ertrinken vor Augen haben: „Gott, hilf mir! Denn das Wasser geht mir bis an die Kehle. Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist; ich bin in tiefe Wasser geraten, und die Flut will mich ersäufen.“ (Ps 69,1-3)
Weil wir uns berühren lassen von Worten der Mitleidenschaft, mit denen Geflüchtete und Migrantinnen sich gegenseitig Schutz in der Ungeborgenheit geben: „Wo du hingehst, da will auch ich hingehen.“ (Ruth 1,16)
Weil wir uns auf das Wort Gottes berufen und auf seine heiligen Schriften, durch die sich durch Jahrtausende wie ein roter Faden die mannigfaltigen Erfahrungen von Flucht und Exil, von Vertreibung und Lebensgefahr, aber eben auch die von Ankommen und Aufgenommen werden, ziehen.
Das allein wären schon der Gründe genug, Menschen auf der Flucht nicht ertrinken zu lassen.
Aber mehr noch: Wir tun gut daran, uns als Kirche um unserer selbst willen einzumischen, wo Unrecht und Leid und Tatenlosigkeit zum Himmel schreien.
Weil sich am Umgang mit den Entwurzelten und Schutzsuchenden nicht nur die Frage stellt, was das für die Geflüchteten bedeutet, sondern weil sich an dem, was wir tun oder lassen, auch die Frage nach unserer eigenen Existenz stellt: wer wir sind und wozu wir berufen sind, mithin, was es bedeutet, Kirche in der Welt zu sein.
Ich zitiere aus einer Stellungnahme des Ref. Bundes aus dem Jahr 2015:
„Von den in Europa eintreffenden Flüchtenden wird die Kirche unmittelbar auf ihr Wesen und ihre Bestimmung angesprochen. Es handelt sich nicht um eine die Kirche nur von außen treffende ethische Herausforderung. Vielmehr steht in dieser Frage für die Kirche immer auch ihr eigenes Kirchesein auf dem Spiel. Denn die Kirche entdeckt nicht erst in dem Verweis auf die allgemeinen Menschenrechte ihre besondere Verantwortung, sondern sie sieht sich in der Treue zur Wahrnehmung ihrer eigenen Berufung und Sendung zu einem verbindlichen und nachhaltigen Engagement gerufen. Nicht zuletzt erweist sich die Kirche darin lebendig, dass sie immer wieder neu zur Kirche wird.“ (Flucht und Exil. Impulse für eine theologische Vergewisserung, Moderamen des Reformierten Bundes, 2016)
Wir haben es demnach mit einer ethischen und zugleich ekklesiologischen Frage zu tun, anders gesagt: Selbst wenn wir uns das Leid der Welt vermeintlich vom Hals halten wollen, haben wir damit nicht nichts zu tun, sondern es wird Konsequenzen für unser eigenes Selbst haben – als Gemeinde, die sich zu Christus bekennt. Denn „die christliche Kirche ist ihrem Wesen, Auftrag und Ziel nach wanderndes Gottesvolk oder – in zeitgenössischer Sprache – Migrationskirche“- so sagt es der Schweizer Ethiker Frank Mathwig (Frank Mathwig, Kirchenschiffe. Zur biblisch-theologischen Begründung der Seenotrettung aus aktuellem Anlass)
Es geht also nicht um die Frage, was Kirche darf oder nicht – jedes Verhalten zeitigt bestimmte Folgen. Es geht um die Frage, wozu die Kirche berufen ist, weil sie Kirche Jesu Christi ist. Das bedeutet nicht, dass ihr jeweiliges Tun oder Unterlassen schon allein unter Bezug auf Gottes Wort schuldloses Verhalten wäre, das nicht der Begründung und Verantwortung der Welt und der Gesellschaft gegenüber bedürfe.
Es geht gerade nicht darum, den ewigen Graben zwischen vermeintlicher Gesinnungs- und Verantwortungsethik immer wieder aufzumachen.
Umgekehrt ist es richtig: dass die Kirche ihre Motivation und Gründe für ihr Handeln zu vermitteln sucht, dass sie erklärt, warum sie so handelt und sich dafür auch verantwortet, jedoch ohne dass ihr dafür mit der immer gleichen Polemik der Besserwisserei begegnet wird. (Wir kennen die Argumente: „Kirche ist keine Reederei; Kirche mischt sich ein in Aufgaben, die nicht ihre sind, indem sie das tut, verprellt sie noch ihre letzten Mitglieder…“)
Allerdings: Wo das Nicht-Handeln immer noch als die bessere Alternative verstanden wird im Gegensatz zum Aktiv-Werden angesichts des Übermaßes menschlichen Elends – im Wissen darum, dabei auch Fehler machen zu können – ist das nicht leicht. Aber das hat uns auch niemand versprochen.
Ein Trost liegt möglicherweise in der Feststellung des bereits erwähnten Frank Mathwigs: „Vertreibung, Flucht und Heimatlosigkeit bilden den Normalfall der biblischen Lebensverhältnisse und werden zu Kennzeichen von Gottesgehorsam und Christusnachfolge. Aus biblischer Sicht begründungspflichtig ist nicht das Engagement für Flüchtlinge und Asylsuchende, sondern umgekehrt jede reservierte oder abweisende Haltung gegenüber Menschen in Not.“ (aaO)
Die Frage also, ob und was Kirche darf oder was nicht, stellt sich auch vor dem Hintergrund ihrer eigenen Geschichte – als eine Kirche der vielen, die von Anbeginn die Erfahrungen des erzwungenen Unterwegsseins kennt und als Gemeinschaft des Glaubens, in deren DNA Heimatlosigkeit, Aufbruch, Wanderung und Exil eingeschrieben sind. Die aktuellen und jüngsten Erfahrungen mit weltweiter Massenflucht sollte deshalb als Aufforderung an die Kirche – also an uns – begriffen werden, die eigene Historie und über Jahrtausende gewordene Existenz zu reflektieren als einer Gemeinschaft, die wesensmäßig von Migration und der Aufgabe, je dem Gebot zum Schutz der Schwachen und „Fremden“ geprägt ist.
Ich empfehle in diesem Zusammenhang die Re-Lektüre der Bibel als das „Buch der Flucht“ und damit der Rückbesinnung auf den eigenen Ursprung und zitiere aus dem gleichnamigen von J.H. Claussen:
„Vielleicht ist dies ein gemeinsames Kennzeichen der drei monotheistischen Weltreligionen, dass sie von Flüchtlingen und Heimatlosen ausgingen. Der Polytheismus ist eine Religionsform für verwurzelte Völker: ihre Götter haben feste Wohnsitze – diesen heiligen Berg, jenen Hain, diese Quelle, jenen Tempel. Der Glaube aber an nur einen Gott, der auf der ganzen Welt zu Hause ist und zugleich nirgends, ist ein Glaube von Menschen, die keine sichere Heimat haben, die ihren Ort auf dieser Erde erst suchen müssen und deshalb auf einen Gott hoffe, der so wie sie nicht sicher wohnt, aber mit ihnen geht.“ (Johann Hinrich Claussen, Das Buch der Flucht. Die Bibel in 40 Stationen, München 2018)
IV. Was bedeutet das konkret für Kirchen und Gemeinden, die zivile Seenotrettung unterstützen?
Sie wissen, dass sie nicht alle Menschen retten können (wie viele Menschen bereits auf dem Weg durch die Sahara sterben, ist nicht dokumentiert, wahrscheinlich ist, dass hier mehr Menschen sterben als im Mittelmeer). Aber sie können helfen, die vor dem sicheren Tod zu retten, von denen wir wissen können.
Sie wissen, dass Europa nicht alle Schutzsuchenden aufnehmen kann. Aber sie können helfen, dass Menschen ein faires Asylverfahren bekommen und sie sollten das Völkerrecht verteidigen, dass verbietet, Menschen in Länder zurückzuschicken, in denen ihnen Gefahr für Leib und Leben droht (non-refoulement, GFK) – was in Libyen jedoch erwiesenermaßen der Fall ist.
Sie, die Kirchen, wissen, dass sie nicht allein sind in ihrem Einsatz für die Menschenrechte, die auch für Flüchtlinge gelten. Das Bündnis von deutschen Städten und Kommunen, die zusätzliche Schutzsuchende aufnehmen möchten, wird immer größer (aktuell 253). Die Solidarität von Stadträten und Bürgermeister*innen ist groß, aber ihre Initiative wird bisher noch vom wird Innenministerium blockiert („Sichere Häfen“).
Aber:
Die Kirche sollte wissen, dass nicht nur die, die sich auf das Meer als letzten Ausweg begeben, Schaden nehmen an Leib und Seele, wenn wir versuchen, sie zu übersehen, sondern dass auch wir selbst zu Beschädigten werden.
Vor diesem Hintergrund handeln wir, weil wir in einer noch unerlösten Welt leben, auch in aller Vorläufigkeit – wissend, dass nicht wir das letzte Wort noch gar die letzte Weisheit haben. Aber bis wir, wie wir glauben, endlich erlöst sind, sollen wir das tun, was als Auftrag an uns ergangen ist: Den Mund aufzutun für die Stummen, Anwältin der Bedrängten und Verfolgten zu sein, Heimatstiftende für die Umherirrenden zu werden.
Indem wir nicht nachlassen, auf den Skandal vor Europas Grenzen immer wieder aufmerksam zu machen, erlauben wir uns, die Tradition des prophetischen Wächteramtes fortzuschreiben – und dies gerade nicht, indem die Kirche sich gegen den Staat stellt, oder meint, selbst staatliche Aufgaben übernehmen zu müssen. Vielmehr, indem die Kirche sich als Akteurin in der Gesellschaft versteht, die sich von ihrem Urgrund her, aus ihrer Perspektive einbringt in die gesellschaftspolitischen Debatten und Aufgaben und Problemlösungen, die das Gemeinwesen insgesamt – und damit auch die Seele Europas – betreffen.
Essen-Kettwig, 7. Juli 2021
Vortrag von Sabine Dreßler, Oberkirchenrätin, Referat für Menschenrechte, Migration und
Integration der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)