Kompetenzen und Standards für den Evangelischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe I
Ein Orientierungsrahmen, EKD-Texte 111, 2011
2. Die Schülerinnen und Schüler als Jugendliche
Die Frage nach den im Religionsunterricht zu erwerbenden Kompetenzen stellt das Lernen der Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt. Die Qualität des Unterrichts ist dabei nicht zuletzt davon abhängig, ob es gelingt, ihn auf die Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten bzw. -bedürfnisse der Jugendlichen abzustimmen. Der Zugang, den sie zu Inhalten des Religionsunterrichts haben, ist immer auch entwicklungsbedingt: Jugendliche in der Sekundarstufe I befinden sich in der Lebensphase von Pubertät und Adoleszenz. Sowohl die Beziehungen zu den Eltern als auch die Religiosität der Kindheit erfahren tief greifende Veränderungen und manchmal sogar Erschütterungen. Zugleich suchen die Jugendlichen neue Bindungen. Sie streben nach Unabhängigkeit und wollen sich doch an anderen orientieren. Ihre religiösen Vorstellungen sind auf die Erwartungen und Urteile der für sie bedeutsamen anderen abgestimmt, und zumeist übernehmen die Jugendlichen das System der Bilder und Werte der Bezugsgruppe, der sie sich zugehörig fühlen. Sie wollen so sein und glauben wie die anderen. Besonders bei Mädchen spielt in diesem Zusammenhang die beste Freundin eine wichtige Rolle.
Inhalte des Religionsunterrichts eignen sich die Schülerinnen und Schüler in dieser Lebensphase im Zusammenhang dieser Ambivalenz von Unabhängigkeit und neuer Bindung an. Auch die Beziehung zur Religionslehrerin bzw. zum Religionslehrer unterliegt dieser Spannung, und deren Glaubwürdigkeit ist stark davon abhängig, ob es ihnen gelingt, im Religionsunterricht die Lebensbedeutsamkeit der Inhalte und Kompetenzen zu erweisen.
Damit kommen die lebensweltlichen Erfahrungen und Interessen der Schülerinnen und Schüler ins Spiel. Das im Religionsunterricht zu erwerbende Wissen gewinnt für sie nur Bedeutung, wenn die in den Inhalten – etwa einer biblischen Geschichte oder einem ethischen Thema – enthaltenen Erfahrungen sich mit ihren eigenen Erfahrungen verbinden lassen. Die Lebensbedeutsamkeit eines Inhalts oder Themas zeigt sich besonders für Jugendliche immer daran, ob sie ihnen helfen, eigene Fragen mit religiöser Dimension zu bearbeiten, in bestimmten Situationen in einer religiös pluralen Gesellschaft zu handeln und die eigene Religiosität bzw. eigene Handlungsperspektiven zu klären. Kompetenzen und Standards erweisen sich für den Lernprozess der Schülerinnen und Schüler als fruchtbar, wenn sich alltägliche oder herausgehobene Situationen in ihrer Lebenswelt besser bewältigen lassen. Auch wenn der Sinn von Religion und Religionsunterricht keineswegs in der Bewältigung von aktuellen Anforderungssituationen aufgeht, sollten Religionslehrerinnen und Religionslehrer deshalb schon bei der Unterrichtsvorbereitung immer wieder Situationen identifizieren, die einen existenziell bedeutsamen Horizont aufweisen und in denen die Wahrheitsfrage für Jugendliche in der Sekundarstufe I relevant werden kann.