Kompetenzen und Standards für den Evangelischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe I
Ein Orientierungsrahmen, EKD-Texte 111, 2011
Einleitung
Die Entwicklung von Kompetenzmodellen und Bildungsstandards steht für das Bemühen, die Qualität und Nachhaltigkeit des Lernens – vor allem in der Schule, aber auch in anderen Bereichen der Bildung – zu sichern und weiter zu stärken. Dieses Anliegen teilt der Evangelische Religionsunterricht mit anderen Fächern. Schon seit langem werden gerade in diesem Fach immer wieder Anstrengungen dazu unternommen, eine lebensbezogene und zugleich wissenschaftlich verantwortete Aneignung der christlichen Überlieferung im Horizont von Gegenwart und Zukunft zu unterstützen sowie entsprechende Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vermitteln. Dieses Ziel lässt sich gut mit den nun in allen Fächern der Schule in Gang gekommenen Initiativen zum Kompetenzerwerb verbinden. Der Erwerb und die Ausbildung von Kompetenzen müssen ein gemeinsames Anliegen aller an der Schule Beteiligten sein. Die vorliegende Darstellung will die dafür im Bereich des Evangelischen Religionsunterrichts erforderlichen Voraussetzungen in Gestalt eines Orientierungsrahmens bereitstellen.
Vor allem unter dem Eindruck von Befunden aus internationalen Vergleichsuntersuchungen zu Schulleistungen und zum Kompetenzerwerb von Kindern und Jugendlichen hat die Kultusministerkonferenz (KMK) im Jahre 2003 beschlossen, nationale Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss (Klasse 10) in den Fächern Deutsch, Mathematik und Erste Fremdsprache einzuführen. Später wurden ergänzende Beschlüsse im Blick auf die naturwissenschaftlichen Fächer gefasst. Für andere Fächer wie den Evangelischen Religionsunterricht sollen von Seiten der KMK zwar keine nationalen Bildungsstandards eingeführt oder verlangt werden, aber die Beschlüsse der KMK wirken sich auf alle Fächer aus. Wenn in einem großen Teil der Fächer kompetenzorientiert unterrichtet wird, stellt sich für die anderen Fächer die Frage, worin ihr Beitrag für einen kompetenzorientierten Unterricht besteht. Es wäre deshalb wünschenswert, dass auch hier entsprechende Ressourcen für die Entwicklung von Kompetenzen und Standards und für deren empirische Überprüfung zur Verfügung gestellt werden.
In einigen Bundesländern wurde und wird über die KMK-Vereinbarungen hinaus von allen Fächern ein Ausweis von Kompetenzen und Standards verlangt. Entsprechend werden die theoretischen und praktischen Bemühungen um die Bestimmung von Kompetenzen und Standards in fast allen Fächern vorangetrieben. Auch zum Evangelischen Religionsunterricht gibt es Expertengruppen, Forschungsprojekte und eine sich zunehmend verzweigende fachdidaktische Diskussion, deren Ergebnisse im Folgenden aufgenommen und weitergeführt werden. Besonders erwähnt sei die Expertengruppe, die in den Jahren 2005/06 am Comenius-Institut eingerichtet wurde und deren Ergebnisse einen wichtigen Ausgangspunkt für die vorliegende Darstellung bilden. Das von dieser Expertengruppe vorgelegte allgemeine Kompetenzmodell wird im Folgenden weiter im Sinne des Evangelischen Religionsunterrichts profiliert sowie um zusätzliche Aspekte der Wertebildung erweitert. Dadurch soll der spezifische Charakter des Faches hervorgehoben und sein besonderer Beitrag zu Bildung und Schule akzentuiert werden.
Der vorliegende Orientierungsrahmen soll die Anschlussfähigkeit des Evangelischen Religionsunterrichts an die allgemeine Unterrichtsentwicklung dadurch gewährleisten, dass spezifische Anforderungen an Kompetenzen und Standards für den Evangelischen Religionsunterricht (Mittlerer Schulabschluss) formuliert, eine begrenzte Anzahl von Kompetenzen, die in diesem Unterricht erworben oder weiterentwickelt werden sollen, benannt sowie Möglichkeiten dafür beschrieben werden, wie ausgehend von diesen Kompetenzen Bildungsstandards für den Evangelischen Religionsunterricht festgelegt werden können. Der Orientierungsrahmen will damit den Religionsunterricht als eine gemeinsame Angelegenheit zwischen Staat und Kirche unterstützen und zur Qualitätssicherung für dieses Fach beitragen. Auf diese Weise führt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ihre früheren Stellungnahmen zum Religionsunterricht fort – besonders die Denkschrift "Identität und Verständigung" von 1994 sowie die "10 Thesen zum Religionsunterricht" von 2006 – in der Gestalt einer auf Kompetenzen und Standards bezogenen Konkretion. Die dort zum Religionsunterricht und zum evangelischen Bildungsverständnis festgehaltenen Grundsätze stellen auch die Voraussetzung für die Bestimmung von Kompetenzen und Standards dar.
Ferner soll der Orientierungsrahmen die entsprechende Arbeit in den einzelnen Landeskirchen und in den verschiedenen Bundesländern unterstützen, indem Erfahrungen und Perspektiven aus verschiedenen Bundesländern aufgenommen, im Sinne der Koordination miteinander verbunden und auf diese Weise als gemeinsame Diskussionsgrundlage zur weiteren Orientierung verfügbar gemacht werden.
Bildungsziele und Kompetenzmodelle sind eine grundlegende Voraussetzung für die Formulierung von Bildungsstandards, die in Form von Kompetenzen zum Ausdruck gebracht werden. "Bildungsstandards greifen allgemeine Bildungsziele auf. Sie legen fest, welche Kompetenzen die Kinder oder Jugendlichen bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe mindestens erworben haben sollen. ... Kompetenzmodelle konkretisieren Inhalte und Stufen der allgemeinen Bildung. Sie formulieren damit eine pragmatische Antwort auf die Konstruktionsund Legitimationsprobleme traditioneller Bildungs- und Lehrplandebatten" (Expertise zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards). Dabei müssen im Blick auf Bildungsstandards – als einem Maß bzw. einer Vorgabe für den erwarteten und geforderten Kompetenzerwerb – normative und empirische Dimensionen ineinandergreifen: Welche Bildungsziele maßgeblich sind und welche Bildungsstandards zu welchem Zeitpunkt erreicht werden sollen, ist eine normative Frage. Die in Form von Kompetenzen formulierten Bildungsstandards sind in einem weiteren Schritt empirisch zu untersuchen und ihr Erwerb muss mit Hilfe empirischer Verfahren geklärt werden. Auf diese Weise können empirische Einsichten wiederum zur Reformulierung von Kompetenzmodellen sowie Bildungsstandards beitragen. In diesem vorläufigen Sinne sind auch die nachstehenden Überlegungen zu Kompetenzmodellen und Bildungsstandards zu verstehen.
Mit diesem Verständnis bezieht sich der Orientierungsrahmen auf die derzeitige Diskussion über Kompetenzen und Standards in Wissenschaft und Praxis, in die er im Blick auf den Religionsunterricht kirchliche, theologische und religionspädagogische bzw. fachdidaktische Bestimmungen und Perspektiven einzeichnet. Leitend ist die Bereitschaft der evangelischen Kirche, sich an allen Bemühungen um eine Verbesserung von Bildungsmöglichkeiten in Schule und Religionsunterricht konstruktiv zu beteiligen. Im Vordergrund steht für die Kirche dabei der Einsatz für humane Bildung. Auch der internationale Wettbewerb, der nun das Bildungswesen erfasst hat, darf nicht zu einer Reduktion von Bildung und Unterricht auf die Vermittlung von messbaren Kompetenzen im Sinne sog. Outcomes führen; dies ist aus kirchlicher Sicht von vornherein abzulehnen, und zwar nicht nur für den Religionsunterricht. Die Qualität der Bildungsprozesse ist kein beliebiger Aspekt, der als bloßes Mittel den Zwecken aufgeopfert werden darf. Gegenüber solchen Gefahren der Vereinseitigung kann umgekehrt auf die produktiven Impulse verwiesen werden, die sich aus der Frage nach Kompetenzen und Standards auch für den Religionsunterricht ergeben haben. "Guter Religionsunterricht" schließt ein, dass in diesem Unterricht nachhaltig gelernt und also tatsächlich Kompetenzen ausgebildet werden. Anzustreben ist deshalb eine beständige Balance zwischen Prozessqualität und Produktqualität.
Nach heutigem Verständnis können Modelle für Kompetenzen und Standards nur im Zusammenspiel von normativen Bestimmungen und empirischen Befunden entwickelt werden. Im Bereich des Religionsunterrichts fehlt es bislang vor allem an empirisch geprüften Erkenntnissen dazu, welche Kompetenzniveaus Schülerinnen und Schüler nach einer bestimmten Anzahl von Schuljahren – im vorliegenden Fall also nach Klasse 10 – tatsächlich erreichen bzw. erreichen können. Solche Erkenntnisse lassen sich nur mit Hilfe operationalisierter Standards gewinnen, wobei die Operationalisierung ihrerseits nicht ohne empirische Überprüfungen geleistet werden kann. Die im Folgenden genannten Bildungsstandards weisen noch nicht die dafür erforderliche Operationalisierungsqualität auf. Sie verstehen sich vielmehr als Hinweise auf den Weg, auf dem man von den beschriebenen Kompetenzen zu Standards gelangen kann. Insofern bereitet der vorliegende Orientierungsrahmen die weitere Arbeit vor, ohne deren Ergebnisse im Einzelnen vorwegnehmen zu können.
Wenn bei der Beschreibung von Kompetenzen und Standards für den Evangelischen Religionsunterricht erkennbar auch die inhaltliche Dimension eine weit ausgeprägtere Rolle spielt als beispielsweise bei der Kennzeichnung allgemeiner Kompetenzen wie etwa Sprachkompetenz bei den heute üblichen Leistungsvergleichsuntersuchungen, so ergibt sich dies aus der Eigenart des Faches. Die christliche Religion stellt nach evangelischem Verständnis eine Domäne von Lernen, Entwicklung und Bildung dar, die immer auf die Inhalte der christlichen Überlieferung bezogen sein muss. Eine allgemeine "religious literacy", für die es auf die Vertrautheit mit bestimmten Inhalten etwa der biblischen Überlieferung nicht mehr ankommt, würde dem nicht gerecht. Allerdings liegt die Aufgabe der Bestimmung eines Bildungskanons für den Evangelischen Religionsunterricht – ähnlich wie in den anderen Schulfächern – weithin noch vor uns. Die Forderung nach einem Kerncurriculum, durch das die Kompetenzmodelle ergänzt werden sollen, lässt sich ohne klare und konsensuelle Kriterien nicht erfüllen. Auch in dieser Hinsicht versteht sich der vorliegende Entwurf deshalb als ein Schritt auf einem längeren Weg und nicht als abschließendes Ergebnis. Der Orientierungsrahmen soll weitere konzeptionelle und empirische Arbeiten anstoßen – zugunsten der Weiterentwicklung von Religionsunterricht, Bildung und Schule.