Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen
Vorwort
Sehr spät, zu spät sind in den vergangenen zwei Jahren medizin- und bioethische Fragen in den Mittelpunkt des politischen und öffentlichen Interesses gerückt. Doch schon mit der Entwicklung und Anwendung der In-vitro-Fertilisation vor etwa zwei Jahrzehnten war das Problem des Umgangs mit menschlichen Embryonen gestellt. Denn die extrakorporale Befruchtung bringt es mit sich, dass Embryonen außerhalb des Mutterleibs verfügbar werden und im Labor dem Zugriff der Forschung ausgesetzt sind. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat sich zu diesen Fragen frühzeitig zu Wort gemeldet: 1985 mit dem Beitrag "Von der Würde werdenden Lebens", 1986 mit einer Stellungnahme zum Entwurf des Embryonenschutzgesetzes, 1987 mit der Kundgebung der Synode "Zur Achtung vor dem Leben" und 1989 in der ökumenischen Erklärung "Gott ist ein Freund des Lebens", die in evangelisch-katholischer Kooperation entstanden und von nahezu allen christlichen Kirchen in Deutschland angenommen worden ist. In der aktuellen bioethischen Debatte hat der Rat der EKD mehrmals Stellung bezogen und seine Position in den derzeit erörterten Streitfragen markiert: Er "tritt dafür ein, den Schutz menschlicher Embryonen auch weiterhin uneingeschränkt zu gewährleisten. Die Herstellung menschlicher embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken, die Freigabe der Herstellung embryonaler Stammzellen aus überzähligen Embryonen, aber auch die Präimplantationsdiagnostik sind damit nicht vereinbar" (so in der Erklärung vom 22. Mai 2001). Der Rat sieht es auch weiterhin als seine Aufgabe an, die Entwicklung in Biologie und Medizin aufmerksam zu begleiten und auf der Grundlage der gewonnenen Grundsätze Orientierungspunkte für die ethische Urteilsbildung zu formulieren.
Mit diesem Heft wird das Ergebnis der Arbeit der Kammer für Öffentliche Verantwortung vorgelegt. Es geht zurück auf einen Auftrag des Rates vom Frühjahr 1998. Ihm war daran gelegen, dass sich die EKD an der Diskussion der medizin- und bioethischen Fragen nicht allein mit aktuellen Erklärungen beteiligt, sondern auch mit einem Beitrag, der langfristig vorbereitet wird und aus der Arbeit eines sowohl interdisziplinär als auch kontrovers zusammengesetzten Gremiums hervorgeht. Der Rat dankt der Kammer und ihrem Vorsitzenden Prof. Dr. Wilfried Härle für die Sorgfalt und den langen Atem, die das jetzt zur Veröffentlichung anstehende Ergebnis hervorgebracht haben. Der Text der Kammer enthält wichtige Klärungen und weiterführende Einsichten, die es verdienen, in der bioethischen Debatte berücksichtigt und zur Geltung gebracht zu werden. Der Kammer war es allerdings nicht möglich, in allen Punkten zu einer einmütigen, gemeinsam getragenen Position zu kommen. Wo der Dissens nicht überbrückt werden konnte, werden die unterschiedlichen Argumentationslinien nebeneinander dargestellt. Die Kammer hat, wie sie selbst formuliert, "diese Form der Darstellung ihrer Arbeitsergebnisse gewählt, um die bestehenden Dissense nicht zu verschleiern, sondern durchsichtig zu machen und um damit einen Beitrag zu einer möglichst offenen argumentativen Auseinandersetzung innerhalb der evangelischen Kirche zu leisten".
Mit dieser Formulierung ist auch treffend beschrieben, aus welchen Gründen und mit welcher Absicht der Rat - obgleich er sich nur die eine der beiden dargestellten Argumentationslinien zu Eigen machen kann - einer Veröffentlichung des Textes zugestimmt hat. Der Rat trägt seine Position in der bioethischen Debatte nicht mit dem Anspruch vor, abschließend darüber bestimmen zu können, was derzeit und künftig als evangelisch zu gelten habe. Er sieht sich durchaus verpflichtet, mit seinen öffentlichen Äußerungen den evangelischen Christen und der Öffentlichkeit insgesamt eine Hilfe zur ethischen Urteilsbildung zu geben und mit seiner Einrede die für Forschung und ihre politischen Bedingungen Verantwortlichen vor vorschnellen Schritten zu bewahren. Vollzogen werden kann die ethische Urteilsbildung aber nur in jener persönlichen Verantwortung vor Gott, in welche Christen ihr gesamtes Leben und Handeln gestellt sehen. Darum hat die protestantische Tradition immer nur in wenigen Fragen Eindeutigkeit oder gar Einstimmigkeit verlangt, nämlich in den Grundfragen des Glaubens, mit denen die Kirche steht oder fällt. Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht nur legitim, sondern geradezu notwendig, dass die kontroversen Standpunkte innerhalb unserer Kirche klar ausgesprochen werden. Das schafft die Möglichkeit, den eigenen Standpunkt einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Denn wir sollen uns im Dissens nicht einrichten. Wir brauchen vielmehr dringend die Bereitschaft, aufeinander zu hören, und jedenfalls die ernsthafte Absicht, sich bei besserer Belehrung auch zu korrigieren.
Ein besonders wichtiger Dienst, den der Beitrag der Kammer für Öffentliche Verantwortung leistet, ist deshalb die Herausarbeitung der, wie das letzte Kapitel überschrieben ist, "Gemeinsamkeiten trotz bestehender Dissense". Die nicht überbrückten Dissense dürfen den Blick dafür nicht verstellen, wie gehaltvoll die Gemeinsamkeiten sind. Bei ihnen handelt es sich, um wieder die Kammer selbst zu zitieren, "nicht um Formelkompromisse, sondern um ... echte Übereinstimmungen in der Sache". Von besonderer Tragweite ist dabei der Punkt, dass Uneinigkeit über den moralischen Status früher menschlicher Embryonen nicht automatisch zu weit voneinander abweichenden Auffassungen über den Umfang des Embryonenschutzes führt. Nach gemeinsamer Überzeugung der Kammer hat "die staatliche Verpflichtung auf den Schutz der Würde des Menschen auch einen objektiv-rechtlichen Charakter ..., der sich auf den Menschen als Gattungswesen und die für seinen Schutz notwendigen Vorkehrungen bezieht ... Auch wer sich nicht in der Lage sieht, allen menschlichen Embryonen vom Zeitpunkt der Befruchtung der Eizelle an einen vollen Anspruch auf Schutz der Menschenwürde und Lebensschutz zuzugestehen, wird zu berücksichtigen haben, dass der Umgang mit diesen Embryonen und der Schutz der Menschenwürde in einem sachlichen Zusammenhang stehen".
Hannover, den 1. August 2002
Präses Manfred Kock
Vorsitzender des Rates der
Evangelischen Kirche in Deutschland