Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen
5. Gemeinsamkeiten trotz bestehender Dissense
Der vorliegende Text zeigt, dass es der Kammer für Öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland möglich war, eine Reihe von Gemeinsamkeiten auch in zentralen Fragen zu formulieren. Die verbleibenden Dissense sind dennoch tief greifend. Beide Aspekte sollen in diesem abschließenden Kapitel dargestellt werden.
5.1 Dissense
Die Auseinandersetzungen und Differenzen in der Kammer spiegeln insofern die gesellschaftliche Diskussionslage wider, als sie sich vor allem auf folgende Punkte beziehen: auf die unterschiedliche Sichtweise des Embryos zwischen Befruchtung und Nidation, auf die daraus abgeleiteten Konsequenzen hinsichtlich der Frage der Freigabe sog. überzähliger Embryonen für die Forschung, hinsichtlich der ethischen Zulässigkeit von PID und hinsichtlich der Zustimmung zum sog. therapeutischen Klonen.
Schließlich besteht auch keine Einmütigkeit im Blick auf die Gewichtung dieser Dissense. Während es sich für manche Kammermitglieder um einen ethischen Fundamentaldissens handelt, der die Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens berührt, sehen andere Kammermitglieder diesen Dissens als Ausdruck eines Pluralismus der Auffassungen, wie er sowohl in der Kirche als auch in der Gesellschaft gut akzeptiert werden kann, ohne dass damit Grundlagen des Zusammenlebens in Frage gestellt werden.
5.2 Gemeinsamkeiten
Bei den im Folgenden aufgeführten Gemeinsamkeiten, die trotz der genannten Dissense in der Kammer bestehen, handelt es sich nicht um Formelkompromisse, sondern um einmütig geteilte Auffassungen, also um echte Übereinstimmungen in der Sache.
5.2.1 Wechselseitige Anerkennung
Auch dort, wo die Auffassung über den Status des Embryos und die daraus zu ziehenden Konsequenzen sich unüberbrückbar gegenüberstanden und in aller Schärfe aufeinander prallten, wurde doch wechselseitig anerkannt, dass es ernsthafte ethische oder theologische Gründe sind, die auch in der jeweils abgelehnten Auffassung zum Ausdruck kommen. Das bestimmte auch die Achtung vor der abweichenden, abgelehnten Position selbst. Darin kommt aber auch das Wissen zum Ausdruck, dass es ernsthafte Anfragen an die je eigene Auffassung gibt, die auch mit den hier vorgetragenen Argumenten nicht gänzlich ausgeräumt sind. Gemeinsam wird anerkannt, dass beide Auffassungen vor offenen Fragen stehen, die weiter bedacht und möglichst beantwortet werden müssen. Es stellt eine wichtige Gemeinsamkeit dar, wenn dies einmütig anerkannt und ausgesprochen werden kann.
5.2.2 Besonnenheit und Vorsicht
Weil es zwischen den Auffassungen grundlegende Dissense gibt und innerhalb der Auffassungen unbeantwortete Fragen, ist sich die Kammer darin einig, dass keine übereilten Schritte gegangen werden dürfen, die sich später als verkehrt und als irreversibel erweisen könnten. Deswegen plädiert die Kammer einmütig für eine Fortsetzung und Vertiefung der begonnenen bioethischen Diskussion in Kirche und Gesellschaft. Die außerordentlich sensiblen und facettenreichen Zusammenhänge, in die die Fragen nach dem angemessenen Verständnis des menschlichen Lebens, insbesondere seines Anfangs und Endes, seiner Bedrohung und Bewahrung, hineingehören, erfordern weit mehr an Durchdringung und Klärung, als bisher geleistet werden konnte. Deswegen plädiert die Kammer dafür, dass die nötigen Meinungsbildungsprozesse ohne Zeitdruck in großer Breite und mit der erforderlichen Besonnenheit und Geduld stattfinden können. Zugleich empfiehlt die Kammer angesichts der vielen kontroversen und offenen Fragen eine Haltung, die man in der ethischen Tradition als „tutioristisch“ bezeichnet hat, d. h. eine Haltung, die angesichts bestehender Unklarheiten und Dissense für möglichst risikoarme und vorsichtige Handlungsmöglichkeiten (insbesondere in rechtlicher Hinsicht) plädiert.
5.2.3 Vermittlung von Differenzierungen
Einmütigkeit besteht in der Kammer auch im Hinblick auf die Notwendigkeit, in der öffentlichen Diskussion über die anstehenden medizinethischen Fragen Profilierung und Differenzierung nach Möglichkeit miteinander zu verbinden. Um einen Beitrag zur Meinungsbildung in der Öffentlichkeit zu leisten, müssen Positionen einerseits identifizierbar und von abweichenden Auffassungen klar unterscheidbar dargeboten werden. Dabei dürfen aber andererseits nicht die erforderlichen Präzisierungen und Differenzierungen verloren gehen, die erst der Komplexität der Thematik gerecht werden. Beides miteinander zu verbinden und dies dann auch noch massenmedial zu vermitteln erweist sich häufig als schwierig. In der öffentlichen Diskussion gehen die notwendigen Differenzierungen leicht verloren. Das hat in der Vergangenheit nicht selten dazu geführt, dass Auffassungen (z. B. hinsichtlich der rechtlichen Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs) in der Öffentlichkeit so vergröbert wahrgenommen wurden, dass dies einer Verzerrung gleichkam und dass dadurch ethische Grundpositionen unklar wurden.
Aus diesen Erfahrungen ist die Konsequenz zu ziehen, dass die Schwierigkeiten der medialen Vermittlung und die Möglichkeiten von missverständlichen Interpretationen kirchlicher Positionen bei der Formulierung von Stellungnahmen mitbedacht werden müssen. Ebenso ist es unerlässlich, grundlegende Auffassungen und Formulierungen immer wieder in Erinnerung zu rufen, so dass sie sich dem kollektiven Gedächtnis einprägen können. Dazu trägt es auch bei, wenn kirchliche Denkschriften früher gemachte Äußerungen zitierend vergegenwärtigen und so Argumentationslinien erkennbar machen, die sich durchhalten.
5.2.4 Unterscheidung verschiedener Perspektiven
Zu den wichtigen Differenzierungen, die in der öffentlichen Diskussion über Grundfragen der Bioethik präsent gehalten und immer wieder erinnert werden sollten, gehört die zwischen einer biologischen bzw. naturwissenschaftlichen und einer (inter)personalen Sichtweise. Die Kammer ist sich darin einig, dass es einen großen Klärungsgewinn darstellen würde, wenn alle Beteiligten sich (zumindest) auf diese Unterscheidung einlassen und sie anwenden würden. Verweigert man sich einer dieser beiden Perspektiven, so kommt es unvermeidlich zu Einseitigkeiten und Verzerrungen, ja nicht selten zu falschen Alternativen. So bildet etwa der häufig anzutreffende Streit, ob der Embryo ein Zellhaufen oder eine Person sei, eine solche falsche Alternative, weil je nach Perspektive beides richtig (und, wenn es verabsolutiert wird, beides falsch) ist. Hat man dies erkannt, wird klar, dass dieselbe Aussage auch für jeden erwachsenen Menschen gilt: Er ist Zellhaufen und Person. Personalität ist nicht das Resultat komplexer, sich ausdifferenzierender Entwicklungsprozesse von Zellen, sondern eine Qualität von Menschen, die sich nur in Beziehung und Begegnung erschließen kann und die ihrerseits die Voraussetzung jeder perspektivischen Betrachtungsweise des Menschen, also auch der biologischen bzw. naturwissenschaftlichen ist.
5.2.5 Achtung der Menschenwürde und Embryonenschutz
Die inhaltlich vermutlich bedeutsamste Gemeinsamkeit in der Kammer besteht im Blick auf die Anerkennung und Respektierung der unverfügbaren Würde jedes Menschen. Dabei besteht Konsens darüber, dass jedem Menschen vom Anfang bis zum Ende seines Lebens diese Würde und der daraus resultierende Lebensschutz zukommt [31]. Diese Akzentuierung ergibt sich aus dem christlichen Verständnis des Menschen, dem zufolge auch der schwache, gefährdete, bedrohte, gescheiterte oder verlorene Mensch Adressat der göttlichen Liebe ist. Daraus folgt, dass die Menschenwürde insbesondere an den Rändern und Grenzen, an denen sie bedroht, in Frage gestellt oder bestritten wird, der aufmerksamen Wahrnehmung und Verteidigung bedarf.
In der Kammer besteht auch Konsens darüber, dass die Menschenwürde nicht quantifizierbar ist. Sie kann daher nicht gegen andere Grundrechte abgewogen werden. Deshalb gehört es nach gemeinsamer Auffassung zum Wesen des Menschen, dass er nicht dem Wohl anderer Menschen geopfert und so zum bloßen Mittel für einen fremden Zweck gemacht werden darf.
Obwohl über die Frage, ob schon dem menschlichen Embryo vom Zeitpunkt der Befruchtung an ein subjektiver Anspruch auf Schutz der Menschenwürde und des Lebens zusteht, in der Kammer unterschiedliche Auffassungen vertreten werden, besteht Einigkeit darüber, dass die staatliche Verpflichtung auf den Schutz der Würde des Menschen auch einen objektiv-rechtlichen Charakter hat, der sich auf den Menschen als Gattungswesen und die für seinen Schutz notwendigen Vorkehrungen bezieht. Hierzu gehört auch ein Umgang mit menschlichen Embryonen in allen Entwicklungsstadien, der deren besonderen Status achtet und allen Tendenzen, sie wie jede beliebige Ware zu behandeln, wehrt. Auch wer sich nicht in der Lage sieht, allen menschlichen Embryonen vom Zeitpunkt der Befruchtung der Eizelle an einen vollen Anspruch auf Schutz der Menschenwürde und Lebensschutz zuzugestehen, wird zu berücksichtigen haben, dass der Umgang mit diesen Embryonen und der Schutz der Menschenwürde in einem sachlichen Zusammenhang stehen.
5.2.6 Keine Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken
Konsens besteht in der Kammer demzufolge auch darüber, dass jedenfalls die Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken abzulehnen ist. Diese Gemeinsamkeit ergibt sich trotz des bestehenden Dissenses hinsichtlich des Status von Embryonen daraus, dass auch diejenigen, die der verbrauchenden Forschung an sog. überzähligen Embryonen zustimmen, in der Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken eine nicht zu akzeptierende Ausschaltung der personalen Perspektive auf das menschliche Leben sehen. Die Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken ist als Verdinglichung anzusehen, die dem Wesen des Menschen und seines Lebens eklatant widerspricht und damit den Gedanken der Menschenwürde grundsätzlich in Frage stellt. Damit wird nicht bestritten, dass durch Forschung an embryonalen Stammzellen u.U. wichtige Einsichten für neue therapeutische Möglichkeiten gewonnen werden könnten. Aber bestritten wird, dass dies in ethischer Hinsicht eine akzeptable Begründung für die Erzeugung und den Verbrauch von Embryonen sein könnte.
Konsens besteht deshalb auch im Hinblick auf die Notwendigkeit, die im geltenden deutschen Recht enthaltene zahlenmäßige Begrenzung der bei der In-vitro-Fertilisation hergestellten Embryonen beizubehalten. Damit soll verhindert werden, dass überzählige - und dann für Forschungszwecke verfügbare - Embryonen in größerer Zahl entstehen, so wie dies in anderen Ländern der Fall ist, möglicherweise mit der verschleierten oder sogar offen zugegebenen Absicht, sich die erwünschte Zahl an Embryonen zu Forschungszwecken zu verschaffen. Dies wäre eine indirekte Verdinglichung menschlichen Lebens, die ethisch nicht akzeptabel wäre.
5.2.7 Ablehnung des reproduktiven Klonens
Die Kammer lehnt einmütig das reproduktive Klonen ab. Maßgeblich dafür ist die Einsicht in die fatalen Folgen, die dies für die auf diese Weise erzeugten Kinder haben würde. Dabei steht nicht in Frage, dass sie Menschen mit unantastbarer Würde wären wie alle anderen Menschen, sondern die Abstammungsbeziehung, die familiale Rolle, die intendierte Funktion und die Unwägbarkeiten der körperlichen und seelischen Entwicklung erweisen die Anwendung dieser Technik auf Menschen als einen unzulässigen Menschenversuch und – jedenfalls in vielen Fällen – als eine Instrumentalisierung eines Menschen, die auch durch den Kinderwunsch der Eltern oder durch therapeutische Hoffnungen im Blick auf andere Menschen nicht zu rechtfertigen wäre.
5.2.8 Aufmerksamkeit für die menschlichen Beziehungen
Die Kammer ist sich auch darin einig, dass es gerade angesichts großer und begrüßenswerter Fortschritte im Bereich medizinischer Wissenschaft und Technik heute wichtig ist, der Beziehung zwischen Patienten, Ärzten und Pflegepersonal erhöhte Aufmerksamkeit zu widmen. Die medizin- und bioethische Diskussion, die sich auf die Fragen des technisch Möglichen, Machbaren und Erlaubten konzentriert, spiegelt eine Aufgabe wider, die sich auch dem Gesundheitswesen selbst stellt: die angemessene Relation zwischen medizinischer Technik und personaler Begegnung wiederzugewinnen. Damit wird in Erinnerung gerufen, dass nicht Krankheit und Gesundheit, sondern kranke und gesunde Menschen das Zentrum des Gesundheitswesens, der medizinischen Wissenschaft sowie der ärztlichen und pflegerischen Praxis bilden. Medizinische Einrichtungen in kirchlicher und diakonischer Trägerschaft müssen sich in der Öffentlichkeit daran messen lassen, ob an ihnen und in ihnen diese Zentralstellung des Menschen erkennbar wird oder ob zumindest den Defiziten, die in diesem Bereich bestehen, die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wird.
5.2.9 Der Geist der Liebe
Im engen Zusammenhang mit dem zuletzt Gesagten steht eine letzte, grundlegende Einsicht, über die in der Kammer ebenfalls Konsens besteht: In christlicher Sicht hat das menschliche Handeln eine zweifache Folgeträchtigkeit. Es ist folgeträchtig im Hinblick auf seine kausalen Folgen, z. B. in Gestalt der Behandlung einer Krankheit. Folgeträchtig ist aber auch der lebensförderliche Geist, der sich durch dieses Handeln hindurch vermittelt und der sich für die christliche Tradition konkretisiert in dem, was man einst die „theologischen Tugenden“ nannte: Glaube, Hoffnung und Liebe. Vorrang hat dabei für die christliche Tradition der Aspekt des lebensförderlichen Geistes, weil er – zumindest seiner Intention nach – die Verantwortung für die Folgen einschließt, während das Umgekehrte nicht notwendigerweise gilt.
Hieran zu erinnern ist angezeigt in einer Situation, in der die erste, kausale Art der Folgeträchtigkeit beherrschend geworden ist und das medizinische Handeln zunehmend unter ökonomischen Druck gerät. In dieser Perspektive scheint das menschliche Wohlergehen einseitig eine Frage des Fortschritts unserer technischen Möglichkeiten im Horizont unserer wirtschaftlichen Grenzen zu sein. Die geistliche Dimension menschlicher Existenz, die Frage nach der Grundausrichtung des menschlichen Lebensvollzugs droht demgegenüber in den Hintergrund zu geraten. Dieses Missverhältnis reicht bis in die Ethik. Auch sie fasst in aller Regel Handeln nur im Sinne der ersten Art der Folgeträchtigkeit auf, und da geht es dann um normative Fragen: darum, was man soll oder darf und was nicht, wo dem technisch Möglichen Grenzen zu ziehen sind und wie das zu begründen ist.
Solche Grenzziehungen sind notwendig. Doch wenn es um das Gedeihen und Gelingen menschlichen Lebens geht, braucht es darüber hinaus eine umfassendere Perspektive: den Geist der Liebe.