Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis
Anhang
KUNDGEBUNG
der 9. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland auf ihrer 5. Tagung
zum
Schwerpunktthema
Eins in Christus
Kirchen unterwegs zu mehr Gemeinschaft
Gott sei Dank: Nach Jahrhunderten des Gegeneinanders und Nebeneinanders, des Leidens und der Schuld sind die Kirchen im 20. Jahrhundert aufeinander zugegangen und haben zu einem Miteinander gefunden. Doch ist noch längst nicht die Gemeinschaft erreicht, die Gott für die ganze Christenheit auf Erden will. Wir sind überzeugt: Es ist Zeit für mehr ökumenische Gemeinschaft.
Wir erleben Ökumene als ein weit gespanntes Netz von Beziehungen mit anderen Kirchen. Ziel ist, gemeinsam das ganze Evangelium der Welt in Wort und Tat zu bezeugen. Wir brauchen Ökumene, um am jeweiligen Ort und in der einen Welt heute als Kirche zu leben. Die Suche nach sichtbarer Gemeinschaft im Glauben und im Gottesdienst, die Zusammenarbeit in der Mission und der gemeinsame Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung sind die zentralen ökumenischen Aufgaben.
I. Wir glauben die eine, heilige, katholische (allgemeine) und apostolische Kirche
Auf gutem Grund
„Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist: Jesus Christus“ (1. Kor. 3,11). Die Kirche, die auf diesem Fundament erbaut ist, ist gut begründet. Ihr Haus ist nicht auf Sand gebaut, sondern auf Fels (Matth. 7,24 – 27). Sie kann sich nicht selbst begründen. Christus baut und trägt sie: als seine Gemeinde, in der der dreieine Gott redet und wirkt. Sie antwortet ihm in Lobpreis und Dienst.
„Die Kirche ist allein auf Jesus Christus gegründet, der sie durch die Zuwendung des Heils in der Verkündigung und in den Sakramenten sammelt und sendet. Nach reformatorischer Einsicht ist darum zur wahren Einheit der Kirche die Übereinstimmung in der rechten Lehre des Evangeliums und in der rechten Verwaltung der Sakramente notwendig und ausreichend.“ So sagt es die Übereinkunft reformatorischer Kirchen in Europa, die Leuenberger Konkordie.
Evangelisch und ökumenisch
„Christus ist das Haupt. Durch ihn wird der ganze Leib zusammengefügt.“ (Eph. 4,15 f.) Wie ein Körper nur einen Kopf hat, so ist Christus im Heiligen Geist allein das Haupt der Kirche. Wie aber ein Körper viele Glieder hat und alle zusammen ein Leib sind, so ist die Kirche in der Kraft des Heiligen Geistes gekennzeichnet durch lebendige Vielfalt. Es gibt in ihr viele Gaben, viele Traditionen, viele Erfahrungen und Erkenntnisse. Unter dem einen Haupt gehören sie zusammen.
So sind die evangelischen Kirchen Kirche Jesu Christi. Wir erfahren in unseren evangelischen Kirchen Gemeinschaft mit Gott und Gemeinschaft untereinander. Nicht nur in unserer Kirche! Wir erkennen Gottes Wirken auch in anderen Kirchen. Wir anerkennen die Gemeinschaft im Glauben über alle konfessionellen Unterscheidungen und Trennungen hinaus. Aufgrund der Taufe auf den dreieinen Gott sind wir Glieder der einen Kirche.
In der Begegnung der Kirchen erfahren wir freilich auch Trennungen, Uneinigkeiten und Gegensätze. Das widerspricht dem einen Haupt der Christenheit und der Vielfalt seines Leibes. Wir können angesichts solcher Trennungen nur immer wieder auf den vertrauen, durch den „der ganze Leib zusammengefügt ist“. Wir sind schon eins in Christus, auch wenn wir noch nicht einig sind über die kirchliche Gestaltung dieser Einheit. Weil wir in Christus eins sind, suchen wir nach mehr Gemeinschaft der Kirchen. Das ist die Ökumene. Wir sind nur dann evangelisch, wenn wir zugleich ökumenisch sind. Konfessionelle Selbstgenügsamkeit macht uns arm.
Gemeinsame Gottesdienste, das für- und miteinander Beten und Bibelarbeiten sind Lebensquelle der Ökumene. Gemeinsame Gebete, Lieder und liturgische Texte prägen unsere ökumenische Spiritualität. Der Weltgebetstag der Frauen stellt das eindrücklich und ermutigend unter Beweis. Weil Christus zu seinem Mahl einlädt, sind auch Glieder anderer Kirchen, trotz noch bestehender Lehrdifferenzen, zum Abendmahl in unserer evangelischen Kirche willkommen. Wir sehnen uns nach der gemeinsamen Feier des Abendsmahls, das das Mahl im Reich Gottes vorweg nimmt.
Die bereits bestehenden Formen der Gemeinschaft christlicher Kirchen wollen wir intensiv unterstützen und als Instrumente des gemeinsamen Zeugnisses und Dienstes in der Welt nutzen: die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK), die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) und auf Weltebene den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK).
Wir erklären unsere Bereitschaft, gemeinsam zu handeln, sofern uns keine tiefen Unterschiede der Überzeugung dazu zwingen, getrennt voneinander vorzugehen.
Kirchengemeinschaft in Wort und Sakrament
In der Vielfalt der geschichtlich gewordenen Kirchen erleben wir sowohl ein schmerzliches Nebeneinander als auch eine gegenseitige Bereicherung. Konfessionen mit ihren vielfältigen Glaubenserfahrungen werden bleiben. Nicht ihre Verschiedenheit, aber ihre Trennung voneinander muss überwunden werden. Erst die Überwindung der Trennung wird den Reichtum der Vielfalt zum Segen aller Kirchen zur Entfaltung bringen.
Wir bekräftigen das evangelische Verständnis von Einheit der Kirche, wie es in der Leuenberger Konkordie von 1973 zum Ausdruck kommt, die von mehr als 100 protestantischen Kirchen unterzeichnet wurde. In der Kirchengemeinschaft leben Kirchen in „versöhnter Verschiedenheit“ und bezeugen so die in Christus durch den Heiligen Geist geschenkte Einheit der Kirche.
Wir wollen auch mit anderen Kirchen einen Grundkonsens im Verständnis des Evangeliums formulieren, welcher klärt, was als Fundament der Kirche gilt und was unterschiedlich gestaltet werden kann. Das ermöglicht, dass sich die Kirchen gegenseitig anerkennen und einander die Gemeinschaft in Wort und Sakrament gewähren. Das schließt die gegenseitige Anerkennung der Ordination ein.
Eine solche Kirchengemeinschaft bestätigt einerseits die Eigenständigkeit der miteinander verbundenen Kirchen. Andererseits sind für das Zeugnis des Evangeliums und den Dienst in der Welt Strukturen nötig, die die gemeinsame Verantwortung verbindlich zum Ausdruck bringen. Dafür hat sich in der Kirchengeschichte das synodale bzw. konziliare Prinzip bewährt.
II. Mehr Gemeinschaft unter protestantischen Kirchen
Die EKD als Kirchengemeinschaft
Die Evangelische Kirche in Deutschland ist die Kirchengemeinschaft ihrer lutherischen, reformierten und unierten Landeskirchen und damit selbst ein Modell der Kircheneinheit. Sie ist offen für den Beitritt weiterer evangelischer Kirchen.
Ökumene ist eine Gemeinschaftsaufgabe der Evangelischen Kirche in Deutschland. Sie geschieht in Verbindung mit den ökumenischen Beziehungen und Aktivitäten der Ortsgemeinden, der Gliedkirchen und der kirchlichen Werke und Verbände. Die EKD braucht den starken Rückhalt ihrer Gliedkirchen, um ihrem Mandat entsprechend in der Ökumene reden und handeln zu können. Die interkonfessionelle und internationale ökumenische Arbeit in der EKD sollte noch effektiver als bisher koordiniert werden.
Mit der Evangelischen Kirche in Deutschland sind viele deutschsprachige evangelische Gemeinden und Kirchen im Ausland verbunden. Sie sind wichtige ökumenische Brückenbauer, die häufig in die evangelische Kirche des jeweiligen Landes integriert sind. Aus ehemals deutschen Kirchen sind ökumenische Partnerkirchen entstanden.
Unsere weltweite Verbundenheit mit evangelischen Minderheiten und Kirchen in der Diaspora bereichert uns. Geistlicher Austausch, Partnerschaften und finanzielles Engagement gehören dazu, sei es durch Einzelpersonen, durch Gemeinden und Gliedkirchen oder durch kirchliche Werke.
Die evangelische Stimme in Europa
Die geschichtlich gewachsene Begrenzung evangelischer Kirchenstrukturen auf Landesgrenzen und Nationen wird durch die heutigen europäischen und globalen Entwicklungen herausgefordert. Die Leuenberger Kirchengemeinschaft müssen wir stärken für ihren Auftrag in Zeugnis und Dienst. Wir bitten sie, über die Klärung theologischer Grundfragen hinaus zu regelmäßigen Konsultationen einzuladen, um evangelische Positionen zu europäischen Fragen zu formulieren. Dadurch kann die evangelische Stimme in Europa sowohl öffentlich als auch in der ökumenischen Zusammenarbeit deutlicher wahrnehmbar werden.
Zugleich soll die Zusammenarbeit mit der Konferenz Europäischer Kirchen intensiviert werden, um protestantische Positionen auch gegenüber gesellschaftlichen Gruppen und den politischen Institutionen in Europa zur Geltung zu bringen.
Über die europäische Ebene hinaus bitten wir den Lutherischen Weltbund, den Reformierten Weltbund und den Weltrat Methodistischer Kirchen, die Bemühungen um Kirchengemeinschaft auf Weltebene fortzusetzen und Lehrgespräche mit anderen Konfessionen schon jetzt miteinander zu koordinieren.
Gemeinschaft mit den evangelischen Freikirchen
Die bereits bestehende Kirchengemeinschaft mit der Evangelischen Brüder-Unität und mit der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland kann noch mehr als bisher mit Leben gefüllt werden.
Die Gemeinschaft mit weiteren evangelischen Freikirchen in Deutschland wollen wir in bilateralen Dialogen fortentwickeln, um zu engerer Zusammenarbeit und auch zu Zwischenstufen der Kirchengemeinschaft zu gelangen. Die mit den Mennoniten getroffene Vereinbarung zur gegenseitigen Einladung zum Abendmahl ist hierfür ein Modell. Mit dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland (Baptisten) und im Rahmen der Leuenberger Kirchengemeinschaft mit der Europäischen Baptistischen Föderation wollen wir erörtern, wie beim Verständnis und bei der Praxis der Taufe eine versöhnte Verschiedenheit möglich ist. Das Gespräch mit kirchlichen Gemeinschaften pfingstlerischer Prägung muss gesucht werden.
Wir sind dankbar für die engen und geschwisterlichen Verbindungen, die zwischen Landeskirchen und Freikirchen durch die Zusammenarbeit in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen, der Evangelischen Allianz, der Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Jugend, dem Diakonischen Werk und dem Evangelischen Missionswerk gewachsen sind.
Gemeinschaft mit anglikanischen Kirchen
Die in der „Meissener Erklärung“ (1988) durch die Evangelische Kirche in Deutschland und die Kirche von England erfolgte gegenseitige Anerkennung ermöglicht nach unserer Auffassung volle Kirchengemeinschaft. Aus anglikanischer Sicht steht hingegen eine Einigung über das Bischofsamt in historischer apostolischer Sukzession noch aus. Im weiteren Dialog mit der Kirche von England ist zu klären, wie die verschiedenen Ämter der Aufsicht so zu einer versöhnten Verschiedenheit kommen, dass volle Kirchengemeinschaft erreicht wird.
Unsere Hoffnung und Erwartung ist, dass die in der „Meissener Erklärung“ erfolgte gegenseitige Anerkennung in gleicher Weise auch auf die Gemeinschaft mit anderen anglikanischen Kirchen ausgeweitet werden kann.
III. Mehr Gemeinschaft mit katholischen und orthodoxen Kirchen
1. Evangelisch-katholische Gemeinschaft
Konsens in Grundaussagen
Am Reformationstag des Jahres 1999 haben die römisch-katholische Kirche und der Lutherische Weltbund in Augsburg die gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre unterzeichnet. Damit ist ein wichtiger Schritt zu mehr ökumenischer Gemeinschaft zwischen der römisch-katholischen Kirche und den evangelischen Kirchen getan.
Gemeinsam können wir nun bekennen: „Allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Christi, nicht aufgrund unseres Verdienstes, werden wir von Gott angenommen und empfangen den Heiligen Geist, der unsere Herzen erneuert und uns befähigt und aufruft zu guten Werken.“
Wir sehen, dass durch die Gemeinsame Erklärung noch keine Kirchengemeinschaft erreicht ist. Eine weitere Verständigung in der Lehre vom Wort Gottes, von den Sakramenten, von der Kirche und vom Amt ist dringend erforderlich. Dabei ist zu prüfen, was Ausdruck legitimer und einander bereichernder Vielfalt ist und welche Unterscheidungen noch kirchentrennend wirken. Wir sind jedoch überzeugt, dass die Gemeinschaft im Glauben schon heute stärker ist als das, was uns trennt.
Unterschiedliches Verständnis von Einheit der Kirche
Das evangelische Verständnis von Kirchengemeinschaft als Ziel der Ökumene und die römisch-katholische Vorstellung von der Einheit der Kirche Christi als Gemeinschaft mit und unter dem Papst stehen sich noch gegenüber. In den vatikanischen Verlautbarungen vom September 2000 über die Vorrangstellung der römisch-katholischen Kirche und die Weigerung, evangelische Kirchen als „Schwesterkirchen“ anzuerkennen, sehen wir einen deutlichen Rückschlag bei den Bemühungen um mehr ökumenische Gemeinschaft. Wir halten die dort dargelegten Ansprüche für „römisch“, aber nicht für „katholisch“ im biblischen Sinne und in der Tradition des gemeinsamen altkirchlichen Glaubensbekenntnisses. Mit dem ÖRK wollen wir darauf hinarbeiten, dass „ein wirklich universales Konzil wieder für alle Christen sprechen und den Weg in die Zukunft weisen kann“ (Vollversammlung, Uppsala 1968).
Ökumene wächst von unten
Wir erinnern an das Dokument „Lehrverurteilungen – kirchentrennend?“ aus dem Jahre 1986. Mit der katholischen Deutschen Bischofskonferenz sind die Konsequenzen für das ökumenische Miteinander in den Familien und Gemeinden zu erörtern.
Das bisher Erreichte ermöglicht es nach unserer Überzeugung schon jetzt, dass die evangelischen Kirchen und die römisch-katholische Kirche einander zur Teilnahme am Heiligen Abendmahl einladen. Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland bekräftigt diese Einladung und hofft, dass beim Ökumenischen Kirchentag in Berlin im Jahre 2003 in diesem Sinne ökumenische Zeichen gesetzt werden können. Viele konfessionsverschiedene Familien und ökumenische Kreise erwarten zu Recht, dass sie nun, nachdem ein Grundkonsens im Glauben festgestellt wurde, weder in der einen noch in der anderen Kirche vom Tisch des Herrn abgewiesen werden.
Konfessionsverschiedene Familien wirken konfessionsverbindend. Hier wird oft mehr ökumenische Gemeinschaft praktiziert als sonst in den Kirchen. Wir plädieren dafür, dass die Kirchen diese Realität als ökumenische Chance begreifen und alle kirchlichen Regelungen aufheben, welche die Seelsorge an evangelisch-katholischen Ehen und Familien eingrenzen. Wir halten es für erforderlich, dass evangelisch getraute evangelisch-katholische Ehen künftig von der katholischen Kirche ohne Einzeldispens als gültig angesehen werden. Der Besuch eines evangelischen oder ökumenischen Gottesdienstes sollte von der katholischen Kirche zumindest im Einzelfall als Erfüllung der Sonntagspflicht angesehen werden. Darüber ist erneut das Gespräch mit der Deutschen Bischofskonferenz zu führen.
Evangelisch-katholische Gemeinschaft geschieht auf vielen Ebenen des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens, in Gottesdiensten, gemeinsamen Worten und Aktionen, im Erziehungsbereich, in der Zusammenarbeit der kirchlichen Werke und Verbände bis hin zur gemeinsamen Trägerschaft sozialer Einrichtungen. Ökumenisches Lernen hat in Kindergärten ebenso Eingang gefunden wie in die Programme zahlreicher Schulen und anderer Bildungseinrichtungen. Gemeinden der Studierenden und Jugendorganisationen sind zu Erfahrungsräumen kreativer Gestaltung ökumenischer Partnerschaft geworden. Wir ermutigen die Gemeinden und Kirchen in der EKD, in evangelischer Freiheit ökumenisch offen zu sein und gemeinsam mit den katholischen Partnern in der jeweiligen Situation herauszufinden, welche organisatorische Form der ökumenischen Gemeinschaft der Verkündigung des Evangeliums am besten dient und wo die konfessionelle Prägung parallele Strukturen erfordert.
Mit dem Katholischen Bistum der Alt-Katholiken in Deutschland hat die EKD im Jahre 1985 die eucharistische Gastfreundschaft vereinbart. Wir sind dankbar für die erreichte und praktizierte Gemeinschaft und hoffen auf eine weitere Vertiefung.
2. Evangelisch-orthodoxe Gemeinschaft
Zugänge zur Orthodoxie
Seit Beginn der ökumenischen Bewegung arbeiten die evangelischen Kirchen mit orthodoxen Kirchen in den ökumenischen Gremien zusammen. Die große Zahl von orthodoxen Zuwanderern nach Deutschland und die unmittelbare Nachbarschaft haben zu gegenseitigem Verständnis für die je eigene Ausprägung von Theologie und Spiritualität und zu einer vertieften Gemeinschaft geführt. Es gibt aber auch ein verbreitetes Bewusstsein von kultureller und geistlicher Fremdheit, das durch noch mehr Begegnungen, Besuchsprogramme, Stipendienaustausch, Gemeindepartnerschaften usw. überwunden werden muss. Trotz zwischen uns bestehender Differenzen z. B. im Kirchenverständnis, der Proselyten-Problematik, in ethischen Fragen und hinsichtlich der Rolle der Frau insbesondere der Frauenordination, ermutigen wir unsere Gemeinden, auf orthodoxe Schwestern und Brüder zuzugehen und ökumenische Gemeinschaft mit ihnen zu pflegen. Dazu bietet das gemeinsame Osterfest 2001 eine besondere Gelegenheit.
Die evangelisch-orthodoxen Dialoge auf Expertenebene haben in den letzten Jahrzehnten ein großes Maß an Konvergenzen und Konsens festgestellt. Die gemeinsame Anerkennung des Glaubensbekenntnisses von Nizäa-Konstantinopel aus dem Jahre 381 ist die Grundlage für mehr evangelisch-orthodoxe Gemeinschaft. Oft wird unter verschiedenen theologischen Denk- und Sprachvoraussetzungen dasselbe geglaubt, so dass die am Dialog Beteiligten bereits viel ökumenische Gemeinschaft erfahren. Diese Dialogergebnisse müssen von den Kirchen rezipiert werden. Mit den orthodoxen Kirchen in Deutschland, die die Taufe in anderen Kirchen noch nicht anerkennen, ist auch in Absprache mit der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland nach einer Lösung zu suchen.
Solidarität und Partnerschaft
Die orthodoxen Kirchen in Ost- und Südosteuropa haben in den Jahren kommunistischer Herrschaft viel Unterdrückung erfahren und teilweise schmerzvolle Martyrien erlebt. Die weltweite ökumenische Gemeinschaft hat daran oft wenig oder nur verdeckt Anteil genommen. In der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und in der Konfrontation mit westlicher Lebensweise und Spiritualität erleben diese Kirchen jetzt eine Krise ihrer religiösen und kulturellen Identität, die sich auch negativ auf die evangelisch-orthodoxe Gemeinschaft auswirkt. Gleichzeitig stehen sie mit neuen Entfaltungsmöglichkeiten vor großen Aufgaben in Staat und Gesellschaft, im kirchlichen Wiederaufbau und in der missionarischen Verkündigung des Evangeliums. Wir wollen mit Verständnis, Offenheit und Solidarität die Gemeinschaft mit diesen Kirchen suchen und unsere Hilfe anbieten, wo sie gebraucht wird, z. B. in der diakonischen Arbeit.
Die Evangelische Kirche in Deutschland muss in dieser Situation bemüht sein, die jahrzehntelangen Dialoge mit dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel und mit den Patriarchaten von Moskau, Bukarest und Sofia fortzusetzen. Sie muss ferner in der Konferenz Europäischer Kirchen und im Ökumenischen Rat der Kirchen für eine angemessene Beteiligung und konstruktive Mitarbeit der Orthodoxen eintreten. Wir hoffen dabei auf eine erneuerte ökumenische Offenheit der Orthodoxen mit dem Ziel einer Gemeinschaft in versöhnter Verschiedenheit.
IV. Mehr Gemeinschaft bei Zeugnis und Dienst in der Welt
Das Bemühen um Zusammenarbeit in der Mission und im Dienst an den Menschen in der einen Welt bestimmte die Anfänge der ökumenischen Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhundert. Die Grunderkenntnisse von damals sind auch heute noch gültig: Ökumene ist kein Selbstzweck. Die Suche nach Einheit im Glauben dient der Verkündigung des Evangeliums. Der Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden in der einen Welt braucht die vereinten Kräfte der Kirchen.
Viel stärker als frühere Generationen leben wir heute in dem Bewusstsein der einen Welt. Die Globalisierung der Wirtschaft und der Kommunikationssysteme führt überall zu tiefgreifenden Veränderungen des Lebens. Es kommt darauf an, klarer die Chancen und die Gefahren wahrzunehmen, die darin für eine nachhaltige Entwicklung liegen. Wir dürfen uns nicht abfinden mit einer zunehmenden Polarisierung zwischen dynamischen Wachstumszentren und Regionen von Armut und Unterentwicklung.
Einer wachsenden Mobilität der Eliten stehen Flüchtlingsströme gegenüber, die durch gewaltsame Konflikte, Menschenrechtsverletzungen, Armut und Hunger ausgelöst werden.
Auch die Rahmenbedingungen für die Wahrnehmung der missionarischen Verantwortung haben sich verändert. Angesichts der Entfremdung vieler Menschen von Glauben und Kirche tritt die Mission im eigenen Land für uns immer deutlicher in den Vordergrund. Das ist eine Herausforderung für alle Kirchen in Deutschland.
Die großen Religionen haben heute weltweiten Einfluss. Wir begegnen ihnen auch bei uns. Sie sind Teil einer wachsenden Pluralität der Weltanschauungen, Kulturen und Lebensweisen in unserer Gesellschaft. Dialog und Begegnung der Religionen und Kulturen sind zu wichtigen Aufgaben der Kirchen geworden.
Angesichts solcher Herausforderungen geht es darum, das ökumenische Engagement zu profilieren und zu stärken. Wir treten für mehr Gemeinschaft in der Verantwortung für die Mission und im Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung ein. Wir brauchen bewährte ökumenische Institutionen wie den Ökumenischen Rat der Kirchen, den Lutherischen und den Reformierten Weltbund, die Konferenz Europäischer Kirchen und die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland als Instrumente gemeinsamen Redens und Handelns.
Die Zusammenarbeit in der Mission und der Dialog der Kulturen
Wir begrüßen den von der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland begonnenen „Verständigungsprozess über die gemeinsame Aufgabe der Mission und Evangelisation“ in unserem Land. Wir müssen gemeinsam die Wandlungen und Entwicklungen in der heutigen Gesellschaft und Kultur wahrnehmen und Mission neu als ein Grundelement von Kirche erkennen. Die Kirchen sollten sich aus ihren unterschiedlichen Erfahrungen und Traditionen heraus gegenseitig zur Mission ermutigen und so viel wie möglich zusammenarbeiten. Wir brauchen den „Aufbruch zu einer missionarischen Ökumene“ (ACK).
„Weltmission und missionarisches Handeln in unserem Land befruchten sich gegenseitig“ (Synode der EKD, Leipzig 1999). Die weltmissionarische Arbeit, der sich regionale Missionswerke und das Evangelische Missionswerk in Deutschland (EMW) widmen, und die Aufgaben der Mission im eigenen Land, die z. B. von der Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste (AMD) wahrgenommen werden, sollten stärker aufeinander bezogen werden.
Die Kontakte und Partnerschaften zu Kirchen und Gemeinden in anderen Ländern und Kontexten sind ein wichtiger Bereich gelebter Ökumene. Wir sind dankbar für den Reichtum und die Vielfalt lebendiger Beziehungen und für das Engagement, das in ihnen zum Ausdruck kommt. Wir ermutigen dazu, stärker auf einen wirklichen Austausch der Gaben zuzugehen und Anstöße für eine lebendige Spiritualität und wirkungsvolle Mission aufzunehmen. Es sollten mehr Möglichkeiten für den Dienst ökumenischer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in unseren Gemeinden geschaffen werden.
In unserem Land entstehen zunehmend Gemeinden, in denen sich Menschen anderer Herkunft und Sprache sammeln. Sie sind eine Chance für ökumenische Begegnungen vor unserer Haustür. Sie brauchen die Gastfreundschaft und Unterstützung der Gemeinden und Kirchen am jeweiligen Ort.
In einer zunehmend von Konsum und Markt bestimmten Weltgesellschaft wollen wir als Kirche der Begegnung und dem Dialog der Kulturen verstärkte Aufmerksamkeit widmen. Hier sind neben dem ÖRK und den konfessionellen Weltbünden die regionalen ökumenischen Organisationen (Mittelöstlicher Kirchenrat, Allafrikanische Kirchenkonferenz, Christliche Konferenz von Asien u. a.) wichtig, die weiter unsere Unterstützung brauchen.
Die deutschsprachigen evangelischen Gemeinden und Kirchen im Ausland haben sich als wichtige Brücke zwischen den Kulturen erwiesen. Für Menschen, die sich befristet im Ausland aufhalten, sind sie Orte ökumenischen Lernens und der Begegnung mit einer anderen Kultur und oft auch einer anderen Religion. Für manche werden sie zu einer Schule der Mission. Wir halten es für erforderlich, die Wahrnehmung dieser Gemeinschaftsaufgabe der EKD auch in Zukunft zu sichern.
Kirchen auf der Suche nach Versöhnung und Frieden
„Wo wir selbst im Frieden Gottes leben und ihn je neu erfahren, werden wir fähig zum Friedenstiften unter den Menschen und gegenüber der Kreatur.“ (Rat der EKD, Juli 1986)
Wir begrüßen den Aufruf des ÖRK zu einer „Ökumenischen Dekade zur Überwindung von Gewalt“ (2001 – 2010). Wir müssen gemeinsam die biblischen und theologischen Grundlagen des christlichen Friedenshandelns vertiefen und uns der Formen von Gewalt in unserer eigenen Geschichte bewusst werden. Das Problem der Gewalt gegen Frauen und Kinder bedarf der besonderen Aufmerksamkeit. Wir suchen nach einer Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit auf allen Ebenen menschlichen Zusammenlebens. Wir wollen mit den ökumenischen Organisationen und unseren Partnerkirchen das Engagement für Frieden und Versöhnung in Kriegs- und Konfliktgebieten fortsetzen.
Wir rufen die Kirchen und Gemeinden dazu auf, die Dekade zu unterstützen und sich an ihr zu beteiligen. Wir begrüßen die von der ACK in Deutschland ausgehenden Impulse. In möglichst vielen Bereichen des Gemeindelebens, im Gottesdienst, im Unterricht, in Kindergärten oder in der Erwachsenenbildung, müssen die Überwindung von Gewalt, die friedliche Konfliktschlichtung und der Aufbau einer Kultur des Friedens thematisiert werden. Lokale Aktionsbündnisse sollten ins Leben gerufen und die Zusammenarbeit mit anderen gesellschaftlichen Gruppen und Initiativen gesucht werden.
Die Entwicklung von Initiativen zur Gewaltprävention und zur zivilen Konfliktbearbeitung, der Ausbau ziviler Friedensdienste und die Vermittlung von Friedenskräften in Konfliktgebieten sind konkrete Umsetzungen der Anliegen der Dekade zur Überwindung von Gewalt. Für die EKD, ihre Gliedkirchen und Werke liegen heute gerade darin zentrale Aufgaben ihres Friedenshandelns.
Nachhaltige Entwicklung:
Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung
Ziel der Entwicklung in der einen Welt muss die Befreiung von Hunger und Armut, die Überwindung der Ursachen von Krieg und Gewaltanwendung und der Aufbau einer gerechten und nachhaltigen Weltwirtschaftsordnung sein. Die Aufgabe ist groß, aber es gibt keinen Grund zur Resignation. Dankbar nehmen wir viele Initiativen wahr, die sich zu Anwälten einer gerechten Entwicklung machen.
„Entwicklung braucht Entschuldung“. Dieses Leitwort der Kampagne von Entwicklungswerken, Kirchen, ökumenischen Organisationen und Initiativen zum Erlassjahr 2000 bleibt weiterhin gültig. Die inzwischen von der Politik eingeleiteten Maßnahmen zur Entschuldung der ärmsten Länder können nur ein erster Schritt sein. Die Bemühungen müssen weitergehen. Die Kampagne zum Schuldenerlass muss fortgesetzt werden.
Entwicklung und Menschenrechte gehören zusammen. Der Schutz der bürgerlichen und politischen sowie der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte sowie der Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen sind zentrale Aufgaben der Entwicklungszusammenarbeit und ein wichtiger Aspekt der ökumenischen Beziehungen der Kirchen.
Entwicklung muss nachhaltig sein. Entwicklung muss lebensdienlich sein. Unser Konsumverhalten, insbesondere der hohe Energieverbrauch und der weltweite Raubbau an der Natur gefährden eine zukunftsfähige Entwicklung und widersprechen einem gerechten Umgang mit den Ländern, in denen Armut herrscht. Wirtschaftliche Interessen müssen in ein Gleichgewicht gebracht werden mit dem Einsatz für Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.
Wir brauchen eine Ethik der Nachhaltigkeit, die unsere Lebensweise und die Wirtschaft weltweit auf Zukunftsfähigkeit hin verändert. Umwelt- und Entwicklungsziele müssen zu grundlegenden Themen der Politik werden, die auch mit Entscheidungen in anderen politischen Bereichen in Übereinstimmung stehen. Wir brauchen beispielhaftes Handeln in unseren Kirchen, das sich nach diesen Maßstäben richtet.
Kirchen, Entwicklungswerke und ökumenische Organisationen sind auf nationaler und internationaler Ebene Anwälte einer Entwicklung, die die Überwindung der Armut und die Bewahrung der Schöpfung miteinander verbindet. Entwicklungsorganisationen, Netzwerke und Bildungseinrichtungen, aber auch Initiativen wie die Lokale Agenda 21 brauchen die Unterstützung der Kirchen und Gemeinden. Kirchliche Entwicklungsarbeit will Zeichen der Hoffnung setzen. Das können wir nur gemeinsam tun: als Gemeinschaftsaufgabe in der EKD und in gemeinsamer Verantwortung mit den ökumenischen Partnern.
Tun, was eint
Wir sind evangelisch und ökumenisch. Wir sind Teil der einen Ökumene. Wir bitten Gott, dass uns sein Heiliger Geist in unserem Einsatz für Mission und Dialog, für Frieden und Versöhnung und für Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung leitet und stärkt. Wir bitten Gott, dass uns sein Heiliger Geist durch mehr ökumenische Gemeinschaft zur Kirchengemeinschaft mit den anderen Kirchen führt. Wir vertrauen auf das Gebet Jesu Christi: „Auf dass sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast“ (Joh. 17,21).
Braunschweig, den 9. November 2000
Der Präses der Synode
der Evangelischen Kirche in Deutschland