Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis

Vorwort

In den ökumenischen Dialogen, vor allem mit der römisch-katholischen Kirche, hat es in den vergangenen Jahrzehnten beachtliche Fortschritte gegeben. Die von der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland am 9. November 2000 beschlossene Kundgebung zum Thema „Eins in Christus – Kirchen unterwegs zu mehr Gemeinschaft“ beginnt darum auch mit dem Satz: „Gott sei Dank: Nach Jahrhunderten des Gegeneinanders und Nebeneinanders, des Leidens und der Schuld sind die Kirchen im 20. Jahrhundert aufeinander zugegangen und haben zu einem Miteinander gefunden.“ Evangelische Kirchen erkennen Gottes Wirken auch in anderen Kirchen. Sie anerkennen die Gemeinschaft im Glauben über alle konfessionellen Unterscheidungen und Trennungen hinweg. Die Taufe auf den dreieinigen Gott macht uns zu Gliedern der einen Kirche.

In der Begegnung der Kirchen und in der gemeinsamen theologischen Arbeit zeigen sich freilich auch weiterhin Trennungen, Uneinigkeiten und Gegensätze. Darum fährt die Kundgebung der Synode nach ihrem dankbaren Rückblick auf das bereits Erreichte fort: „Doch ist noch längst nicht die Gemeinschaft erreicht, die Gott für die ganze Christenheit auf Erden will. Wir sind überzeugt: Es ist Zeit für mehr ökumenische Gemeinschaft.“

Die Frage ist, auf welchem Wege und mit welchen Mitteln mehr ökumenische Gemeinschaft zu erreichen ist. In der Vergangenheit hat die Bemühung im Vordergrund gestanden, sich nacheinander den kontroversen Einzelthemen zuzuwenden und dabei mit der Methode des „differenzierten Konsenses“ die Übereinstimmung im Grundlegenden und Wesentlichen zu verbreitern. Dieses Vorgehen behält seine Bedeutung. Aber mit Recht ist in zunehmendem Maße die Frage gestellt worden, ob die Wurzel aller Differenzen und Gegensätze in Einzelfragen nicht eine unterschiedliche ökumenische Zielvorstellung ist. Nach welcher Einheit der Kirche Jesu Christi streben wir? Was verstehen wir unter der „sichtbaren Einheit“ der Kirche? Im Bereich der reformatorischen Kirchen ist für die Beantwortung dieser Fragen das theologische Konzept der Kirchengemeinschaft, wie es in der Leuenberger Kirchengemeinschaft praktiziert wird, von zentraler Bedeutung.

Deshalb hat der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland die Kammer für Theologie beauftragt, ausgehend vom evangelischen Verständnis der Kirche das theologische Konzept der Kirchengemeinschaft, wie es in der Leuenberger Kirchengemeinschaft verwirklicht ist, herauszuarbeiten und für die gegenwärtigen Debatten fruchtbar zu machen. Auf seiner Sitzung am 7. / 8. September 2001 hat sich der Rat den von der Kammer vorgelegten Text zu eigen gemacht und übergibt ihn hiermit der Öffentlichkeit. Ich verbinde dies mit einem Dank an die Mitglieder der Kammer, die unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Eberhard Jüngel und Prof. Dr. Dorothea Wendebourg die Vorarbeit geleistet haben.

Der Text versteht sich, wie es im Untertitel heißt, als ein „Votum zum geordneten Miteinander bekenntnisverschiedener Kirchen“. Das ist relevant nicht allein für die ökumenischen Dialoge und die Vertiefung der Gemeinschaft innerhalb der weltweiten Kirche Jesu Christi, es hilft auch zum Verständnis und, wenn dies gemeinsam gewollt wird, zur sachgemäßen Weiterentwicklung der in der Evangelischen Kirche in Deutschland hergestellten Gemeinschaft der Gliedkirchen.

Als Anhang zu dem von der Kammer für Theologie vorbereiteten Text ist die eingangs bereits zitierte Kundgebung der Synode abgedruckt.

Hannover, den 29. September 2001


Präses Manfred Kock
Vorsitzender des Rates der
Evangelischen Kirche in Deutschland



Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis

Ein Votum zum geordneten Miteinander bekenntnisverschiedener Kirchen

Eine Reihe von Vorgängen in der gegenwärtigen ökumenischen Debatte nötigen zu einer Klarstellung des evangelischen Verständnisses von Kirchengemeinschaft. Es sind zum einen Vorgänge, die vor allem das Verhältnis der evangelischen Kirchen zur römisch-katholischen Kirche betreffen. So hat die kontroverse Debatte um die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ zwischen dem Lutherischen Weltbund und dem Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen gezeigt, dass auch auf evangelischer Seite durchaus unterschiedliche Vorstellungen von einer solchen Kirchengemeinschaft bestehen. Außerdem fordert das von der Kongregation für die Glaubenslehre in ihrer Erklärung „Dominus Iesus“ dargelegte Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche eine Verständigung darüber heraus, welche Art von Kirchengemeinschaft die evangelischen Kirchen in den ökumenischen Gesprächen und Vereinbarungen anstreben. Zum anderen nötigt der Dialog der EKD mit der Kirche von England im Rahmen der Vereinbarungen der Meißener Erklärung zu ähnlichen Präzisierungen. Auch die übrigen Gespräche der evangelischen Kirche mit anderen Konfessionen können auf solche Klarstellungen nicht verzichten.

Diese Verständigung ist um so dringlicher, als die neuere Diskussion um das Verhältnis der EKD zu ihren Gliedkirchen, aber auch des Lutherischen Weltbundes zu seinen Mitgliedskirchen, deutlich gemacht hat, wie notwendig eine theologische Besinnung auf das evangelische Kirchenverständnis für alle Fragen ist, welche die Gemeinschaft von christlichen Kirchen betreffen.

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