Schulen in evangelischer Trägerschaft - Eine Handreichung
Selbstverständnis, Leistungsfähigkeit und Perspektiven. Im Auftrag des Rates der EKD, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, 2008, ISBN 978-3-579-02388-5
6. Staatliche Bildungsverantwortung und demokratische Vielfalt
Mit evangelischen Schulen verbinden sich nicht nur Ansprüche an die Schulen selbst oder an die kirchliche Bildungsverantwortung, sondern auch Ansprüche an den Staat. Diese Ansprüche begründen sich nicht aus einem überkommenen Privilegiendenken oder aus einem heimlich fortbestehenden Staatskirchentum. Sie erwachsen vielmehr aus den Prinzipien der Demokratie und des demokratischen Staates selbst. Schulen in evangelischer Trägerschaft entsprechen der Religionsfreiheit sowie einem freiheitlichen Verständnis von Erziehung, Bildung und Schule.
6.1 Schulischer Trägerpluralismus als Ausdruck von Demokratie
Schulen in evangelischer Trägerschaft nehmen das in Art. 7 des Grundgesetzes verbriefte Grundrecht auf Errichtung privater Schulen wahr. Für Nichtjuristen kann die im Grundgesetz gewählte Bezeichnung "Privatschule" missverständlich sein, weil sie nahezulegen scheint, dass hier lediglich privaten Interessen Raum gegeben werden soll (vgl. 2.3). Dies erinnert dann an vordemokratische Verhältnisse, und im Falle der Kirche lässt es vielleicht an die Auffassung von Religion als "Privatangelegenheit" denken. All dies ist im Grundgesetz nicht gemeint. Trotz der für das gesamte Schulwesen verbindlichen staatlichen Schulaufsicht wird mit dem Recht auf Gründung und Erhaltung privater Schulen gerade die Gleichrangigkeit von staatlichen und privaten Schulen betont. Dies soll ein staatliches Schulmonopol ausschließen, wie es mit einer freiheitlichen Demokratie nicht zu vereinbaren wäre. Eben deshalb ist der Staat auch für private Schulen mit verantwortlich, nicht nur für Schulen in staatlicher Trägerschaft. Missverständlich ist auch der Begriff der "Ersatzschule", der von evangelischen Schulen nicht selten als abwertend und diskriminierend empfunden wird. Im juristischen Verständnis soll allerdings gerade umgekehrt die Vollwertigkeit und Gleichwertigkeit des "Ersatzes" hervorgehoben werden.
Die prinzipielle Bedeutung von Schulen in freier Trägerschaft für eine freiheitliche Demokratie erklärt, warum die Privatschulfreiheit im Grundgesetz so verankert ist, dass jede Einschränkung dieses Rechts einer besonderen Begründung bedarf. Umgekehrt wird diese demokratische Sichtweise durch die Einschränkung im Blick auf die Volksschulen belegt, für welche die Gleichrangigkeit zwischen staatlichen Schulen und Schulen in freier Trägerschaft nicht gilt. Hier hat der Grundgesetzgeber in Art. 7 Abs. 5 GG um des Zieles einer gemeinsamen Schule für alle willen der staatlichen Schule einen Vorrang eingeräumt (vgl. 6.3).
Dass eine für alle gemeinsame Schule in staatlicher Trägerschaft nicht automatisch demokratischen Grundsätzen entspricht, zeigt nicht zuletzt die deutsche Geschichte. In der preußischen Tradition sollte die staatliche Schule beispielsweise der Eingliederung polnischer Bevölkerungsanteile ("Prussianisierung") dienen. Bei der Ausformulierung des Grundgesetzes war die Ablehnung eines staatlichen Schulmonopols unmittelbar auf die Erfahrungen mit dem nationalsozialistisch gleichgeschalteten Bildungswesen bezogen. Darüber hinaus konnte das Vorbild westlicher Demokratien, vor allem der Vereinigten Staaten, den Freiheitsgewinn pluraler Schulträgerschaften vor Augen führen. Zumindest für einen Teil der evangelischen Schulen stellt Einübung in demokratische Verfahren zudem ein im Schulprogramm eigens hervorgehobenes Bildungsziel dar, das sie in Unterricht und Schulleben, in Schulkultur und Schulverfassung mit Nachdruck verfolgen.
Dem Prinzip des Trägerpluralismus entspricht von der Sache her weiterhin das Prinzip der Subsidiarität, demzufolge der Staat sich dort zurücknehmen soll, wo Bürgerinnen und Bürger selbst aktiv sind oder aktiv werden können. Zum Teil wird das Subsidiaritätsprinzip auf die katholische Soziallehre des 19. Jahrhunderts zurückgeführt. Im heutigen Verständnis ist es vor allem für demokratische Lebensverhältnisse von entscheidender Bedeutung und kann daher auch aus evangelischer Sicht bejaht werden. In vielen gesellschaftlichen Bereichen etwa von Krankenpflege, Sozialarbeit, Kulturschaffen usw. ist das Subsidiaritätsprinzip weithin anerkannt und wird auch in der Politik befolgt. Wenn das Subsidiaritätsprinzip bislang im Bereich der Schule nicht ausdrücklich angewendet wird, so stellt dies im Vergleich zu anderen pädagogischen Bereichen eine Anomalie dar, und es besteht in dieser Hinsicht ein deutlicher Nachholbedarf. Zugespitzt: Die staatliche Schulträgerschaft ist nicht deshalb unerlässlich, weil ein möglichst umfassendes staatliches Handeln als demokratisches Ideal gelten könnte. Unerlässlich ist sie vielmehr insofern, als ohne den Staat kaum allen offenstehende Bildungsmöglichkeiten und -anforderungen verfügbar wären. Daher sind die vom Grundgesetz vorgegebenen Mindestanforderungen unverzichtbar, ohne dass daraus ein Argument gegen Schulen in freier Trägerschaft abgeleitet werden könnte. Anzustreben ist ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen dem Staat und nicht-staatlichen Trägern.
Zu einer Demokratie gehört konstitutiv die Freiheit des Glaubens und des Gewissens. Deshalb ist darauf hinzuweisen, dass Schulen in evangelischer Trägerschaft auch ein Ausdruck der Wahrnehmung der Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 2 GG sind.
In Zukunft könnte es nötig werden, den Trägerpluralismus deutlicher mit Qualitätskriterien zu verbinden. Dies würde allerdings eine gesellschaftliche Verständigung darüber voraussetzen, welche Kriterien bei angestrebten Schulträgerschaften gelten sollen. Auch rechtliche Bestimmungen müssten dafür gefunden werden, ohne dass dem Prinzip des Trägerpluralismus Abbruch geschieht. Evangelische Trägerschaften besitzen eine auch öffentlich ausweisbare Qualität, die sowohl aus der Geschichte evangelischer Schulen als auch aus der gegenwärtigen Praxis solcher Schulen erwächst (vgl. Kap. 4).
6.2 Integration durch Differenz
Schulen in evangelischer Trägerschaft verstehen sich als Beitrag zum Pluralismus und zur Demokratie. Sie haben den Anspruch, zur Integration von Kindern und Jugendlichen in unsere Gesellschaft beizutragen. Gleichzeitig stellen sie eine Form der Ausdifferenzierung des Schulwesens dar; sie schaffen eine Differenz zum staatlichen Schulwesen. In der Geschichte der Schule ist immer wieder die Funktion der staatlichen Schule für die Integration der Gesellschaft betont worden. Die nichtstaatlichen Schulen standen hingegen potenziell unter dem Verdacht, zur Trennung zwischen den sozialen Schichten oder Klassen einer Gesellschaft beizutragen. Aus evangelischer Sicht ist zu betonen, dass die einseitige Zuschreibung von Integrationsleistungen nur auf staatliche Schulen nicht haltbar ist und der Trägerpluralismus als solcher einen Beitrag zur demokratischen Integration einer pluralen gesellschaftlichen Wirklichkeit darstellt. Schulen stellen differenzielle Entwicklungsmilieus dar, die besonders im Sekundarschulwesen, wo die freie Schulwahl zum Teil auch im staatlichen Bereich gegeben ist, ein eigenes soziales Profil entfalten. Dies ist auch an evangelischen Schulen der Fall.
Hervorzuheben ist zudem, dass Schulen in evangelischer Trägerschaft sich sowohl aus pädagogischen Gründen als auch aufgrund des Evangeliums dem Prinzip der Integration als Ausdruck der Sozialität des Menschseins verpflichtet wissen. Dies kommt nicht zuletzt in der für diese Schulen bezeichnenden Hinwendung zu Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen zum Ausdruck sowie in diakonischen Lernangeboten, bei denen in der Gesellschaft bestehende Grenzen überschritten werden (vgl. 2.2).
Die zunehmend multikulturelle und multireligiöse Zusammensetzung der Gesellschaft stellt allerdings auch Schulen in evangelischer Trägerschaft vor neue Herausforderungen, wie Integration beispielsweise über religiöse Grenzen hinweg nach den Prinzipien von "Identität und Verständigung" unterstützt werden kann.
6.3 Staatliche Anerkennung evangelischer Schulen
Schulen in freier Trägerschaft sind Ersatzschulen, wenn sie in ihren Lern- und Erziehungszielen den staatlichen Schulen entsprechen, die in dem jeweiligen Land vorhanden oder grundsätzlich vorgesehen sind. Als solche bedürfen sie der Genehmigung durch den Staat. Im Rahmen der Gesetze sind sie frei in der Entscheidung über eine besondere pädagogische, religiöse oder weltanschauliche Prägung, über Lehr- und Erziehungsmethoden, über Lehrstoff und Formen der Unterrichtsorganisation. Schulen in freier Trägerschaft, die nicht Ersatzschulen sind, sind Ergänzungsschulen, deren Errichtung der Schulbehörde lediglich anzuzeigen ist.
Evangelische Träger allgemeinbildender oder berufsbildender Schulen streben in der Regel den Status einer staatlich anerkannten Ersatzschule an. Damit erhält die Schule das Recht, Zeugnisse zu erteilen, die dieselben Berechtigungen verleihen wie die der Schulen in staatlicher Trägerschaft. Zugleich sind anerkannte Ersatzschulen verpflichtet, bei der Aufnahme und Versetzung von Schülerinnen und Schülern sowie bei Prüfungen die für staatliche Schulen geltenden Bestimmungen zu beachten. Bei vielen Schulbehörden besteht jedoch die Tendenz, darüber hinaus Anpassungen an staatliche Vorgaben zu verlangen, die den Unterschied zwischen Schulen in staatlicher und in freier Trägerschaft verschwinden lassen. Wenn freie Schulen, wie es in vielen Schulgesetzen heißt, das staatliche Schulwesen ergänzen und bereichern sollen, muss ihnen auch als staatlich anerkannten Schulen der im Grundgesetz garantierte Freiraum gelassen werden.
Die besonderen Genehmigungsbedingungen für Volksschulen (Art. 7 Abs. 5 GG) werden in den Bundesländern verschieden und zum Teil sehr einengend interpretiert: Zunächst wird der alte Begriff "Volksschule" unterschiedlich verstanden. Meinte er ursprünglich diejenige Schule, die von der Mehrheit der Kinder und Jugendlichen besucht wird, so trifft dies für die Hauptschulen nicht mehr zu. Über das so genannte Volksschulprivileg herrschen inzwischen sehr unterschiedliche Auffassungen. Volksschulen in freier Trägerschaft werden nach dem Grundgesetz lediglich in Ausnahmefällen zugelassen. Ihre Genehmigung ist nur möglich, wenn auf Seiten der Schulverwaltung ein besonderes pädagogisches Interesse besteht, oder auf Antrag von Erziehungsberechtigten, die ihr Kind im Sinne eines bestimmten Bekenntnisses oder einer bestimmten Weltanschauung erzogen sehen möchten. In einem Urteil aus dem Jahr 1992 betont das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsabsicht, wonach "die Kinder aller Volksschichten, zumindest in den ersten Klassen grundsätzlich zusammenzufassen und private Volks- oder Grundschulen nur zuzulassen" sind, "wenn der Vorrang der öffentlichen Schulen aus besonderen Gründen zurücktreten muss. Dahinter steht eine sozialstaatliche und egalitär-demokratischem Gedankengut verpflichtete Absage an Klassen, Stände und sonstige Schichtungen". Die Genehmigung zur Errichtung einer Bekenntnisschule wurde immer schon vom Nachweis einer entsprechenden Bindung des Schulträgers und von einem entsprechenden Schulkonzept abhängig gemacht. Darüber hinaus wird in den letzten Jahren von den Schulbehörden zunehmend die Auffassung vertreten, dass die Schülerschaft ebenso wie das Lehrerkollegium ganz überwiegend oder zumindest mehrheitlich dem Bekenntnis, für das die Schule gegründet wird, angehören müssen. Die Zugehörigkeit der Lehrerinnen und Lehrer sowie der Schulleiterinnen und -leiter zur evangelischen Kirche ist auch aus Sicht der EKD von entscheidender Bedeutung für Schulen in evangelischer Trägerschaft. Der Bekenntnischarakter einer Schule wird durch diese Zugehörigkeit, durch das inhaltliche Angebot, die Praxis des Schulalltags und des Schullebens bestimmt. Quantitative Ansprüche hinsichtlich der religiösen Zusammensetzung der Schülerschaft können demgegenüber nicht erhoben werden. Sonst würde etwa in Regionen unter anderem in Ostdeutschland, in denen Angehörige der evangelischen Kirche eine kleine Minderheit sind, besonders die Errichtung von Grundschulen fast unmöglich gemacht.
Zum evangelischen Schulwesen gehören von Anfang an ebenso Internate und Schülerheime. Einige Schulgesetze sehen auch für diese eine Aufsicht von Seiten des Staates vor, die allerdings praktisch nicht wahrgenommen wird. Internate und Schülerheime erhalten keinerlei institutionelle Finanzhilfe von Seiten des Staates. Einzelne Schülerinnen und Schüler können bei entsprechenden Voraussetzungen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz, dem Bundessozialhilfegesetz oder dem Bundesausbildungsförderungsgesetz im Blick auf ihre Unterbringung in einem Internat unterstützt werden.
6.4 Finanzierungsfragen
Die Grundrechtsgarantie zur Errichtung von Schulen in freier Trägerschaft würde leer laufen bzw. nur für besonders finanzstarke Institutionen oder Personen gelten, wenn der Staat den Betrieb solcher Schulen nicht mit einem Mindestmaß an Finanzhilfe unterstützen würde. In der Regel erhalten Schulen in freier Trägerschaft erst dann die volle staatliche Finanzhilfe, wenn ihnen die staatliche Anerkennung zugesprochen wird. Bis dahin müssen sie eine "Durststrecke" überwinden, die bis zu neun Jahre dauern kann. So lange müssen die freien Träger ihre Einrichtungen mit geringeren Staatszuschüssen oder vollständig mit eigenen Mitteln finanzieren. Die Wartefristen wurden in den letzten Jahren vielfach noch verlängert. Dadurch könnte das Grundrecht zur Errichtung von Schulen in freier Trägerschaft ausgehöhlt werden.
Die von den einzelnen Bundesländern zu treffenden Regelungen für die Finanzhilfe folgen grundsätzlich der Logik, dass die Bundesländer einerseits das Recht haben, Kriterien für die Genehmigung der Schulen in freier Trägerschaft zu formulieren, andererseits aber verpflichtet sind, die Erfüllung dieser Kriterien zu ermöglichen. Vom Staat übernommen werden nicht die vollen Kosten der Schulen in freier Trägerschaft, sondern lediglich die Anteile, die zur Existenz der Schule notwendig sind.
In der Vergangenheit war es üblich, kirchliche Schulen durch eigene kirchliche Mittel finanziell zu unterstützen. In Folge rückläufiger Kirchensteuereinnahmen ist dies immer schwieriger geworden. In weiten Bereichen ist diese Unterstützung in den letzten Jahren stark reduziert oder eingestellt worden. Dies hat in manchen Bundesländern viele evangelische Schulträger gezwungen, wieder gesonderte Beiträge ("Schulgeld") zu erbitten. In vielen Landeskirchen besteht die Tendenz, evangelische Schulträger von kirchlichen Finanzzuschüssen unabhängig zu machen.
Die Schulen bemühen sich im Allgemeinen, die Höhe der finanziellen Belastungen in einem Bereich zu halten, der für alle Einkommensgruppen erschwinglich ist. Es sollen keine sozialen Zugangsschranken aufgerichtet werden. Dies entspricht der evangelischen Ethik ebenso wie dem rechtlich vorgegebenen Sonderungsverbot, demzufolge die Schülerinnen und Schüler an Schulen in freier Trägerschaft nicht aufgrund der Besitzverhältnisse ihrer Eltern aufzunehmen oder abzulehnen sind; d. h. die Fähigkeit, Schulgeld zahlen zu können, darf nicht über den Besuch einer Schule in evangelischer Trägerschaft entscheiden. Viele Träger decken Defizite aus Spenden oder Stiftungsgeldern. Zunehmend gehen auch evangelische Träger dazu über, durch Methoden des Fundraising oder Sponsoring unter Schülereltern, ehemaligen Schülerinnen und Schülern sowie benachbarten oder befreundeten Unternehmen Geldgeber zu suchen, welche die Einrichtungen mit einmaligen oder regelmäßigen Beiträgen unterstützen.