AIDS - Orientierung und Wege in der Gefahr
Eine Kirchliche Stellungnahme, 1988
II. Problemdarstellung
1. Das Ausmaß des AIDS-Problems
Der Erreger des erworbenen Immunschwächesyndroms (AIDS) ist das menschliche Immunschwächevirus (HIV). Dieses Virus bleibt nach einer Infektion lebenslang im Körper und macht vor allem Blut und Genitalsekrete infektiös. Das Virus vermehrt sich vorwiegend in bestimmten Zellen des Immunsystems, aber auch im Gehirn und im übrigen Nervensystem und zerstört diese Zellen. Nach einem Zusammenbruch des Immunsystems kommt es durch sonst meist harmlose Erreger zu nicht mehr beherrschbaren anderen Infektionskrankheiten. Die langsame Zerstörung des Gehirns kann zu einer fortschreitenden Intelligenzverminderung und zu plötzlich auftretenden schweren neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen führen. Viele Patienten leiden auch unter seltenen Krebserkrankungen, wie dem sogenannten "Kaposi-Sarkom" oder Tumoren des Lymphsystems. Die überwiegende Zahl der Infizierten wird nach heutigem Wissensstand erkranken und an AIDS sterben.
AIDS, das erstmals 1981 in den USA als neues Krankheitsbild erkannt wurde, hat sich weltweit ausgebreitet. Ende Juli 1987 waren der Weltgesundheitsorganisation mehr als 55 000 Erkrankungen aus 122 Ländern gemeldet, davon über 38 000 aus den USA und 1100 aus der Bundesrepublik Deutschland. Davon ist jeweils über die Hälfte bereits verstorben. Die Dunkelziffer an bisher nicht bekannten Erkrankungen ist wahrscheinlich viel höher. In allen Ländern mit einigermaßen verläßlichen Meldedaten verdoppelt sich die Zahl der Erkrankten etwa jedes Jahr.
Die mittlere Inkubationszeit, d. h. also die Zeit zwischen der Aufnahme des Virus und der Erkrankung, wird heute auf etwa zehn Jahre geschätzt, Deshalb sehen wir an den Erkrankungen immer nur die Ausbreitung des Virus vor vielen Jahren. Es wird angenommen, daß heute bereits etwa 120000 Deutsche, 1,5 Millionen US-Amerikaner und über 5 Millionen Afrikaner infiziert sind. Bereits für 1991 rechnet die Weltgesundheitsorganisation mit weltweit 50 bis 100 Millionen Infizierten.
Das Virus wird hauptsächlich beim Geschlechtsverkehr übertragen. Die Infektionsgefahr besteht bereits bei einem einzigen Kontakt. Die Ausbreitung des Virus erfolgt besonders schnell bei Personen mit häufig wechselnden Intimpartnern. Prinzipiell stellt jedoch jeder Intimkontakt mit einer Person, deren Infektionsstatus unbekannt ist, ein Infektionsrisiko dar. Besondere Besorgnis gilt dabei auch den Jugendlichen in der Phase der Partnersuche und der sexuellen Unsicherheit.
Ein weiterer wichtiger Übertragungsweg ist der Kontakt mit infektiösem Blut. Ein beträchtlicher Teil der Personen mit intravenösem Drogenmißbrauch ist durch die gemeinsame Benutzung von Spritzen und Nadeln infiziert worden, unter ihnen zunehmend besonders Jugendliche und junge Erwachsene. Auch sind bis zur Einführung entsprechender Kontrollmaßnahmen im Jahre 1985 viele Bluter durch Gerinnungsfaktoren-Präparate infiziert worden. Selten wird das Virus durch Kontakt mit Blut auf medizinisches Personal und auf Pflegepersonen von Erkrankten übertragen. Seltene andere Übertragungen durch Kontakt mit Blut im täglichen Leben sind nicht auszuschließen. Auch die normale Bluttransfusion hat in Europa trotz der Untersuchung aller Blutspender ein minimales Restrisiko.
Besonders tragisch ist die Übertragung des Virus von einer häufig noch gesunden, aber infizierten Schwangeren auf ihr Kind. Dies erfolgt bei etwa der Hälfte der infizierten schwangeren Frauen. Eine AIDS-Erkrankung bei Kleinkindern ist oft das erste Zeichen dafür, daß die Mutter oder beide Eltern infiziert sind.
Ein Impfstoff zum Schutz der noch nicht Infizierten ist in den nächsten Jahren und vielleicht sogar in den nächsten Jahrzehnten nicht zu erwarten. Auch eine Behandlung, die das Vius aus dem Körper verdrängt, ist nicht in Sicht. Die derzeit einzige Möglichkeit, die Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung zu verlangsamen, ist die Verhinderung der Infektionsübertragung.
2. Die Schwierigkeiten in unserer Gesellschaft, mit der Krise umzugehen
Die HIV-Infektion ist eine schleichende und sich ständig ausweitende Bedrohung, von der immer mehr Menschen betroffen sind. Mit Sorge beobachten wir, daß unsere Gesellschaft in erstaunlichem Maße Schwierigkeiten hat, die Situation richtig zu beurteilen und angemessen damit umzugehen. Sie tut sich schwer, in rechter Weise darauf zu reagieren, die wirklich geeigneten Mittel und Wege zu ihrer Bewältigung zu finden sowie das eigene Verhalten angemessen zu ändern.
Das Ungenügen der Reaktion unserer Gesellschaft auf die Bedrohung zeigt sich u. a. in folgendem:
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Die öffentliche Diskussion über die Krankheit AIDS ist stark von Schuldzuweisungen und moralischen Herabsetzungen belastet. Viele meinen, daß sich nur die gesellschaftlichen "Randsiedler" und Personen mit stark abweichendem und unbürgerlichem Verhalten infizieren. Ausgrenzung und Schuldzuweisung können dabei bereits in der Art liegen, wie über AIDS gesprochen wird. Moralismus und Voyeurismus fließen nicht selten mit ein. Über AIDS gleichsam "pikant" zu sprechen, steht im krassen Gegensatz zu der Wirklichkeit der Erkrankung und dem tragischen Schicksal derer, die von AIDS betroffen sind. Es ist vielen nicht deutlich, in wie starkem Maße sich gesellschaftliche Ausgrenzungsmechanismen aus solchen unbedachten Grundhaltungen speisen. Das Verständnis für Gefährdete und Betroffene wird dadurch nur umso schwerer gemacht.
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An der AIDS-Diskussion in der breiten Bevölkerung fällt auf, daß sie sehr stark an der durchaus verständlichen Frage orientiert ist, "wie schütze ich mich selbst?" Das Interesse an den Schicksalen der Betroffenen ist oft vergleichsweise gering, die Aufgabe, Betroffenen zu helfen und für sie einzutreten, wird dem Gesundheitswesen und den "Zuständigen" überlassen. Es ist gewiß verständlich, ja notwendig, wenn jeder in dieser Situation auch an sich selbst, an seine eigene Sicherheit und seinen eigenen Schutz denkt. Oft aber gehen mit einer nur auf sich selbst gerichteten Orientierung auch Schuldzuweisung, Diffamierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung der Betroffenen in offener oder auch versteckter Form einher. Es sind auch "Panikeffekte" zu beobachten, d.h. der Versuch, sich selbst zu retten und dabei in Kauf zu nehmen, daß andere dabei gleichsam "niedergetrampelt" werden. Der christliche Glaube hilft, unserem Nächsten in wacher Liebe zu begegnen.
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Die Unsicherheit der Gesellschaft wird auch in einer breiten "kollektiven Verdrängung" und Verleugnung der Probleme einerseits und daneben in ängstlichen Überreaktionen deutlich, ein scheinbarer Gegensatz, der das Ausmaß der Angst und der Hilflosigkeit ahnen läßt. Mit einiger Ratlosigkeit beobachten wir, daß beides nebeneinander steht: unverändertes Fortsetzen von persönlichem Risikoverhalten (und dies selbst bei Personen, die für sich selbst befürchten, infiziert zu sein) und daneben ein geradezu übertriebener Selbstschutz bis hin zur Verfolgung und Ausgrenzung von Mitmenschen. Wir hören in diesen Tagen ebenso von Protesten der Eltern gesunder Kinder gegen die Unterrichtung HIV-infizierter Mitschüler an der gleichen Schule und zugleich von Umfrageergebnissen, die ein nahezu ungebrochenes Risikoverhalten in der Bevölkerung belegen. Dieses paradoxe Phänomen von Verdrängung und Übertreibung hat gewiß unterschiedliche Ursachen. Wir werten es vor allem als ein Zeichen der Unsicherheit und der Angst.
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Die Schwierigkeit der Gesellschaft, mit der Bedrohung umzugehen, zeigt sich auch dort, wo sich die Aufmerksamkeit einseitig darauf konzentriert, daß die eigene persönliche Freiheit nicht angetastet wird und keine Ausweitung der Befugnisse des Staates erfolgt. Obwohl eine solche Besorgnis grundsätzlich verständlich ist, sollte nicht der Eindruck entstehen, als ginge es bei der AIDS Gefahr um die unbedingte Wahrung persönlicher Freiheit. Niemand von uns kann davon ausgehen, daß alle Menschen nur mündig und nur verantwortungsbewußt sind. Wir gehen meist zu rasch vom einsichtigen Betroffenen und einer einsichtsbereiten Bevölkerung aus und verstehen zu wenig, daß der staatliche Verantwortungsträger auch Lösungswege im Blick auf die Uneinsichtigen bereit haben muß. In einem Augenblick, in dem die Angst das Denken und Handeln vieler bestimmt, muß auf eine Erhaltung von Vertrauen in den Rechtsstaat und von persönlicher Freiheit geachtet werden; Mündigkeit und Vertrauen sind unverzichtbare Hilfen im Kampf gegen die Krankheit. Sie bewähren sich aber im Akzeptieren von Grenzen. Es darf nicht dazu kommen, daß auch bestimmte einschränkende Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung, wenn sie wirklich notwendig sind, von vornherein und grundsätzlich ausgeschlossen werden.
Aber auch dort, wo die Krankheit mit energischen und einschneidenden Maßnahmen bekämpft wird, kann ein Problem liegen: So fragen Kritiker vielfach zu recht, ob die hier bewiesene Entschlossenheit sich auch mit den richtigen Mitteln und den richtigen Wegen verbindet. Das entschlossene Handeln konzentriere sich zu sehr auf restriktive Maßnahmen, während ein entsprechendes Engagement beim Ausbau der medizinischen Versorgung, bei der sozialen Hilfe für die Betroffenen und Gefährdeten zu gering sei. Weiter wird gefragt, ob eine rechte Abwägung zwischen einer Förderung der Selbstverantwortlichkeit der Bürger auf der einen Seite und Eingriffen des Staates auf der anderen Seite vorgenommen wird. Auch die Wirksamkeit und tatsächliche Nützlichkeit zur Eindämmung der Gefahr wird angezweifelt, auf mögliche unerwünschte Nebeneffekte und Erschwernisse bei der Bekämpfung der Krankheit wird hingewiesen. Rechtfertigt die Tatsache, daß einschränkende Maßnahmen im Sinne einer weitsichtigen Verantwortung notwendig sein können, jede konkrete Maßname dieser Art? Dürfen solche Maßnahmen ohne gleichzeitige intensive und umfassende Hilfe für die Betroffenen wirklich angewandt werden?
Die Krankheit AIDS läßt Zielkonflikte entstehen. Sie führt alle, die hier ihre Verantwortung sehen, in ein Dilemma, das die Möglichkeit in sich birgt, schwere Fehler zu begehen. Niemand sollte sich in diesem Augenblick vom Eingeständnis seiner Grenzen, seiner Fehlbarkeit und Irrtumsfähigkeit ausnehmen, auch nicht der, der sich der Legalität und Legitimität seines Handelns bewußt ist.
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Für Christen ist es eine wichtige Aufgabe, zu einer im Glauben begründeten Einschätzung der Krise zu kommen. Schwierig ist vor allem die Diskussion über einen Zusammenhang von Krankheit und Schuld. Während die einen in dieser Situation von Schuld und Selbstverursachung grundsätzlich nicht sprechen wollen, verweisen andere vor allem auf Fehlverhalten und Verantwortlichkeit und sehen in den vielen erschreckenden Schicksalen eine Mahnung Gottes an diese Welt.
Die Gesunden müssen an ihre Verantwortung in der persönlichen Lebensführung und in der Gestaltung ihrer Sexualität erinnert werden. Sie müssen wissen, daß sie durch falsches Verhalten schwere Gefährdungen heraufbeschwören können.
Gegenüber Kranken und Infizierten können Schuldvorwürfe nicht das erste und letzte Wort sein, als gebe es in jedem Fall einen unmittelbaren, kausalen Zusammenhang zwischen ihrer Krankheit und persönlichem Fehlverhalten. Christen müssen der Neigung widerstehen, in einer angstauslösenden Lage einige wenige Sündenböcke zu benennen. Sie wissen, daß jede Krankheit ein Zeichen der gefallenen Welt, eine Entfremdung zwischen Schöpfer und Geschöpf darstellt. An dieser Entfremdung haben alle teil, sie betrifft nicht nur wenige. Leichtfertige Schuldzuweisung geschieht - wenn auch in subtiler Form - gerade bei AIDSKranken. Das wirkt sich dann bei vielen Infizierten wie eine Lähmung aus und führt insbesondere bei denjenigen zu unfrei machenden Selbstvorwürfen, die unwissend Mitmenschen infiziert haben.
Ein möglicher Zusammenhang zwischen persönlicher Schuld und Krankheit, darf jedoch auch nicht geleugnet werden. Der biblisch bezeugte Zusammenhang von menschlicher Verfehlung und Gottes Gericht kann nicht in der Schwebe bleiben oder gar aufgegeben werden. Einsichten in Gottes Handeln mit uns lassen sich aber nicht erzwingen; sie setzen Glauben voraus und können zum Glauben hinführen. Darum ist in dieser Situation behutsame seelsorgerliche Zuwendung notwendig, damit im Glauben Schuld erkannt und Vergebung erfahren werden können.
3. Situation und Betroffenheit der einzelnen Gruppen
In den ersten Jahren der Ausbreitung der Krankheit AIDS ist in der Bevölkerung fälschlich der Eindruck entstanden, daß AIDS lediglich das Sonderproblem bestimmter "Risikogruppen" ist, d. h. das Problem von Personen mit hohem Risikoverhalten oder in erhöhter Risikosituation. Der Begriff "Risikogruppen" ist zweifellos problematisch. Er kann zu einer Stigmatisierung und Ausgrenzung bestimmter Menschengruppen führen. Es ist jedoch die Tatsache nüchtern wahrzunehmen, daß es hinsichtlich der AIDS-Gefahr bestimmte Formen eines "Risikoverhaltens" gibt. Schon der "zweiten Generation" der Erkrankten werden sehr viele von denen angehören, die sich selbst keiner "Risikogruppe" zurechnen, sich aber dennoch infizieren und für andere zum Risiko werden. Es wird heute damit gerechnet, daß sich die Gewichte mehr und mehr verlagern.
Homosexuelle wurden in einer ersten Phase von der Krankheit besonders häufig betroffen. Gerade in dieser derzeit noch am stärksten betroffenen Gruppe bemühen sich viele mit großem persönlichem Einsatz um die Betreuung von Infizierten und Kranken und setzen sich für eine vorbeugende Aufklärung ein. Diese Haltung verdient Achtung und Anerkennung. Viele Christen haben die Aufgabe erkannt, diesen Menschen, die in einer begründeten Angst leben, Aufgeschlossenheit und Hilfe entgegen zu bringen und Mut zu machen, sich dem freiwilligen HIV-Test (Test auf AIDS-Antikörper im Blut) nicht länger zu verschließen, mit der Erfahrung eines positiven Testergebnisses zu leben und zu einem verantwortlichen Verhalten in dieser Situation zu finden.
Verantwortlichkeit im Blick auf das eigenen Sexualverhalten gilt vor allem auch für die große Gruppe der Bisexuellen. Die Entdeckung einer AIDS-Infektion bei sich selbst oder dem Ehepartner führt vielfach erst zu einem Aufdecken ihrer Bisexualität und nicht selten zu einer tiefen Krise der ganzen Familie.
Drogenabhängige sind Kranke. Häufig stammen sie aus konflikthaften Familiensituationen und hatten in der Regel keine Chance, ihr Leben unter liebevoller Anleitung sinnvoll zu planen. Sie werden getrieben von ihrer Sucht, die sie häufig dazu bringt, sich die Drogen selbst durch Prostitution zu beschaffen. Mit dem Fortschreiten ihrer Abhängigkeit sind sie immer weniger im Stande, ihre Handlungen zu kontrollieren. Drogenabhängige infizierte Eltern, besonders aber infizierte Mütter sind aufgrund ihrer Belastungen nicht mehr in der Lage, sich um ihre häufig ebenfalls infizierten Kinder zu kümmern. Für diese Kinder liebevolle Pflegeeltern zu finden, ist eine wichtige Aufgabe.
Prostituierte - männliche wie weibliche - sind in hohem Maße gefährdet und zum Teil auch betroffen. Das Phänomen der Prostitution kann hier nicht im einzelnen beurteilt werden. Im Blick auf ihre Gefährdung durch AIDS jedenfalls und im Blick auf die Gefährung der Bevölkerung zeigt sich dringender Handlungsbedarf: Prostituierten muß die Möglichkeit und Hilfe zum Ausstieg aus der Prostitution gegeben werden. Dies gilt besonders für die, die drogenabhängig sind (Beschaffungsprostitution) und kaum die Möglichkeit haben, sich ihren Abhängigkeiten zu entziehen. Notwendig ist auch ein Selbstschutz vor einer Infektion und der Schutz anderer. Das Hauptproblem freilich muß bei den Freiern gesehen werden. Bluter und Empfänger von Fremdblut wissen erst seit knapp zwei Jahren, daß sie infiziert sein können. Manche von ihnen haben dadurch ihre Partner angesteckt. Wir ahnen die Verzweiflung dieser Menschen, die dem eigenen Leben gilt und dem Leben jener, denen sie unwissend eine tödliche Gefährdung gebracht haben.
Mit großer Sorge ist die zunehmende Zahl von Neugeborenen zu sehen, deren Mütter niemals geglaubt hätten, daß sie selbst infiziert sein könnten. Ein HIV-Test bei jeder Schwangerschaft wird von vielen Ärzten befürwortet. Es sollte bedacht werden, ob nicht ein HIV-Test bei allen Paaren, die Kinder wollen, nötig wäre, um einen möglichen Konflikt um einen sogenannten "eugenisch" begründeten Schwangerschaftsabbruch vermeiden zu helfen.
Unsere besondere Aufmerksamkeit muß den heute Heranwachsenden gelten. Auch ihnen gegenüber ist rückhaltlose Offenheit bei der Aufklärung über AIDS angezeigt. Auch sie sind auf ihre Verantwortung für sich selbst und andere anzusprechen. Dabei ist es nicht leicht, zugleich eine große Gefahr bewußt zu machen und den Bereich von Sexualität nicht erneut mit falschen Tabus und unfrei machenden Ängsten zu besetzen.
Betroffene im weiteren Sinn sind die Familienangehörigen, Partner, Freunde und das soziale Umfeld der Infizierten und akut Erkrankten. Sie tragen Lasten eigener Art, wenn sie versuchen, möglichst unbefangen zusammen mit dem Kranken zu leben, ihn zu unterstützen, zu versorgen und zu begleiten und einen Weg bis zur Trennung durch den Tod mit ihm zu gehen. In manchen Fällen beweisen die Angehörigen eine erstaunliche Tapferkeit und menschliche Größe, in anderen Fällen jedoch sehen sie sich überfordert und werden für den Infizierten oder Kranken zur zusätzlichen Last.
4. Fallschilderungen
HIV-Infizierte und AIDS-Kranke leben in dem Bewußtsein, daß sie eine unheilbare und tödliche Krankheit in sich tragen. Ihr Sterben, so müssen sie befürchten, wird nicht nur qualvoll für ihren Körper sein, sondern sie auch aus der Gemeinschaft von vertrauten Menschen herausreißen, ja sie der Verachtung und Diskriminierung aussetzen. Sie sind Menschen, die anderen Menschen Angst machen, wo sie doch wie jedermann möchten, daß sie angenommen und geachtet werden. Viele AIDS-Infizierte und akut Erkrankte werden in ihrem Selbst- und Lebensverständnis zutiefst erschüttert. Sie sind verletzbar wie wahrscheinlich nie in ihrem Leben vorher, und dennoch mutet ihnen ihre Umwelt häufig zu, wahrhaftiger, verantwortungsbewußter und selbständiger zu sein, als dies die meisten Gesunden können. Viele von ihnen leiden auch unter der Befangenheit, Hilflosigkeit, dem Mitleid und der Überbehütung wohlmeinender Mitmenschen. Es wird ihnen schwer gemacht, wie "normale" Menschen eigenständig und vorbehaltlos leben zu können.
Unterscheidet sich das Sterben von AIDS-Kranken von dem Sterben anderer, nicht AIDS-kranker Menschen? Vielleicht erleben sie stärker den Konflikt zwischen Todessehnsucht und Todesfurcht. Meist sind sie jung und blicken nicht auf ein erfahrungsreiches und erfülltes Leben zurück. Die Gewißheit des nahen Todes mag nur dann leichter für sie sein, wenn sie sich darauf vorbereiten konnten und wenn andere Menschen ihnen geholfen haben, ihr frühes Ende zu akzeptieren und Selbstvorwürfe zu überwinden. Wenn sie in ihrem Leben glaubwürdigen Christen begegnet sind, wird es ihnen leichter fallen, ihr Leben getrost in Gottes Hand zu legen.
Das Schicksal eines Infizierten, einer Erkrankten und eines Sterbenden mag einen Eindruck von der Situation der Betroffenen vermitteln. (Die Namen wurden geändert.)
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Ein Infizierter
N. ist drogensüchtig und weiß seit drei Jahren, daß er HIV-infiziert ist. Er geht einer geregelten Arbeit nach und hat ein gutes Einkommen, das ihm erlaubt, weiterhin Drogen zu nehmen. Wie er sind viele seiner Freunde, die ebenfalls suchtkrank sind, infiziert. Seine Freundin nimmt die Nachricht von seiner Infektion mit Verständnis auf und steht mit erstaunlicher Treue zu ihm: "Die hat gesagt, ihr ist das wurscht, wenn wir draufgehen, gehen wir alle zwei drauf." Später verläßt sie ihn aber doch. Seine Verwandten, besonders sein Vater, zeigen deutlich ihre Zuneigung und Solidarität und begegnen ihm ohne Vereingenommenheit. Sorgen über seine Zukunft will er sich nicht machen: "Ich gehe jetzt ein- oder zweimal im Jahr zur Untersuchung, damit ich weiß, ob's ausbricht oder nicht. Irgendwann in den nächsten Jahren wird es eine Medizin dagegen geben, da bin ich sicher. Und der, der die erfindet, kriegt den Nobelpreis. Ich mache mir keine Gedanken und sehe das ganz locker... Es hat's schon gegeben, daß einer drei Jahre später wieder zur Untersuchung gegangen ist, und das Virus war weg. Das gibt's auch. Je mehr man sich Sorgen und Kopfschmerzen darüber macht, desto mehr betrifft es einen auch. Ich schau', daß ich niemanden infiziere, und gehe jedes halbe Jahr untersuchen. Was sollte ich mehr machen. Es wird ja nichts besser, wenn ich mir drüber Gedanken mache. Ich glaube nicht, daß mich AIDS umbringt."
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Eine Erkrankte
Eine Bluterin mit fünf Kindern wird erst durch erste Anzeichen von Erschöpfung auf ihre AIDS-Erkrankung aufmerksam und verschafft sich über einen AIDS Test Gewißheit. Es dauert Wochen, bis sie über ihre Krankheit ruhig sprechen kann, ohne die Fassung zu verlieren. Vor ihren Kindern verschweigt sie lange die Krankheit. Durch die Beratung einer Psychologin kann sie ihre Belastung nun besser verarbeiten. Ihre tägliche Sorge für die Familie fällt ihr zunehmend schwerer. Durch die seelische Belastung sind zu ihrer Krankheit psychosomatische Störungen hinzugekommen. Mit Betroffenheit spricht sie über die reißerischen Zeitungsberichte und über die sie verletzende Diskussion in der Öffentlichkeit. Sie fürchtet die Reaktionen ihrer Mitbewohner im Mietshaus, die von ihrer Krankheit nichts wissen. Ihr Verhalten im Alltag ist von vielen Vorsichtsmaßnahmen geprägt, um sicher zu gehen, daß andere durch sie nicht infiziert werden können. In ihrem Verhältnis zu ihren Kindern und ihrem Mann hat sich nicht viel geändert. Zuneigung, Berührung und Kontakt verlaufen wie vorher. Ihr Mann, der sich bisher nicht infiziert hat, verzichtet auch auf Vorkehrungen des Schutzes. Mit ihm führt sie lange Gespräche, um sich die Belastung von der Seele zu reden: "Man denkt ja immer nur daran, man muß bald sterben. Es kam immer zum Schluß darauf hinaus, daß wir beide im Bett lagen und heulten."
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Ein Sterbender
Ein Krankenhausseelsorger berichtet: "Ich lerne R bei einer Stationsweihnachtsfeier kennen. Beim Rundgang mit der Oberschwester komme ich in das Einzelzimmer, in dem er seit einiger Zeit mit einer schweren Lungenentzündung liegt. R geht offen mit mir um. Er sagt mir, daß er HIV-positiv ist. Er ist 26 Jahre alt. Er erzählt mir ein Stück seiner Lebensgeschichte. Er berichtet mir von schönen Dingen, die er am letzten >freien< Wochenende erlebt habe. Aber da habe es für ihn leider auch schlimme Erfahrungen gegeben. Bekannte würden ihm unterstellen, daß er gar nicht so krank sei. Nach den Krankenhausaufenthalten kehrt E wohl jeweils mit einem solchen Tatendrang zurück, daß dieser Gedanke schon aufkommen kann.
Ich merke, wie mir, als er von seiner Angst vor dem Sterben, vom Leben-Wollen und Am-Leben-Hängen spricht, die Augen feucht werden. Ich habe bei dieser Begegnung wenig gesagt und fühle mich miserabel. Als ich ihm das zum Schluß des Gesprächs sagen kann, holt er aus dem Nachttisch ein Büchlein heraus, das er mir besorgt hat. Er hat mir eine Widmung hineingeschrieben: >Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zum Kämpfen."/p>
Er ist in einer so schlechten Verfassung, daß er sich dazu entschlossen hat, ein Testament abzufassen. Die Ärzte sind ratlos und können Es Lungenentzündung, die er zur Zeit hat, nicht zum Stillstand bringen. Es sei das Schlimmste zu befürchten. Ohne Hektik besprechen wir das Testament. Es sollte darin auch eine Botschaft an die Station und an seine Angehörigen enthalten sein. E hat es aufgeschrieben. Er will möglichst bald nach Hause entlassen werden, um dort zu sterben. Die Freunde sind bereit, die Pflege zu übernehmen, ein niedergelassener Arzt übernimmt die ambulante medizinische Versorgung. Ich bin von der Art und Weise, wie F. sein Haus bestellt, berührt. Er tut das mit großer Ruhe und Festigkeit.
Einige Tage später wird F. nach Hause entlassen. Eines abends ruft er mich an und bittet mich, sofort zu kommen. Er ist furchtbar aufgeregt. Seine Stimme klingt so, wie ich sie noch nie gehört habe. Er sei am Ende mit seiner Kraft. Als ich bei ihm bin, ist er ruhiger geworden. Ihm sei deutlich geworden, daß er nicht mehr lange Zeit zum Leben hat. Er müsse sterben. Er wolle auch nicht mehr leben, wofür auch. In der Welt sei nur Mord und Totschlag. Und die Chance, die er gehabt hätte, hätte er vertan. Er bilanziert sein Leben, macht sich Gedanken darüber, was aus seinem Freund wird, fühlt sich undankbar, wenn er an die Leidensgenossen denkt, die ihren Schmerz ganz allein tragen müssen und wünscht sich ein Fünkchen Hoffnung: >Ich möchte leben!< Ich habe die Last gespürt und die Zerrissenheit, die auf ihm lag, und sie hat mich auch gedrückt. Über einiges haben wir miteinandersprechen können, anderes blieb offen.
Vierzehn Tage später besuche ich ihn im Krankenhaus. Sein gesundheitlicher Zustand hat sich so zugespitzt, daß ihm durch die ambulante Versorgung nicht mehr zu helfen ist. E erzählt mir von seinen Träumen. Ein Traum, den er schon in vielen Variationen geträumt habe, handelt von E, in fünf Jahren. Er hat als einziger Patient die Krankheit überlebt und kommt groß raus. Alle Medien stürzen sich auf ihn, was ihn unwillig und ärgerlich macht. Am Ende zerfließt alles. In einem zweiten Traum geht es um seinen Freund, wie er nach dem Tod von E Hilfe brauchen wird; in dem dritten träumt er schließlich seinen eigenen Tod. Wir sprechen über die Träume, auch über seine Angst vor dem Sterben. R will wissen, welche Überlebenshoffnung er habe.
In den nächsten Tagen geht es ihm zunehmend schlechter. Er hat hohes Fieber und einen rasenden Puls. Meistens will er mich nicht sehen. Ich habe das Gefühl, daß ich ihn in seiner Unruhe nicht sehen soll. So bin ich immer nur ganz kurz bei ihm. Tage später legt sich seine Unruhe. Ich finde ihn sehr matt vor. Er beschäftigt sich immerzu mit seinem Sterben. Er möchte jetzt auf der Stelle sterben oder abends einschlafen und morgens nicht mehr aufwachen. Ich frage ihn, ob er beim Sterben allein sein wolle. Nein, er möchte, daß andere bei ihm sind.
Drei Tage später ist es soweit. Als er stirbt, sind sein Freund, eine Schwester und ich bei ihm."