AIDS - Orientierung und Wege in der Gefahr
Eine Kirchliche Stellungnahme, 1988
III. Orientierungen
1. Krankheit und Menschenbild
Kranke Menschen stellen seit je her für die christliche Gemeinde eine besondere Aufgabe dar. Das Gebot der Nächstenliebe verpflichtet jeden Christen. Jesus Christus selbst begegnet uns in den Leidenden und spricht: "Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht" (Mat. 25, 36). In dieser Aufgabe ist auch der AIDS-Kranke vorbehaltlos und ohne jeden Unterschied eingeschlossen.
Es zählt zu den grundlegenden christlichen Einsichten, daß Krankheiten nie bloß äußerliche Störungen unserer Gesundheit sind. Krankheit vermittelt uns die Erfahrung der Ohnmacht, der Begrenztheit und der Untätigkeit. Wo und wie immer sie uns betrifft, verweist sie auf die Gebrochenheit unserer Existenz. Krankheit gehört zur Eigenart unseres irdischen Lebens, zu uns selbst als ein Teil und als ein eigener Aspekt unseres Daseins. Welches Leben uns gegeben wird, steht niemals allein in unseren Händen. Dafür ist das Leben eines kranken Menschen Zeichen, Erinnerung und Aufgabe.
Weil wir Verantwortung für das Leben tragen, das uns gegeben ist, ist es eine unabdingbare Pflicht der evangelischen Ethik, diese Verantwortung in den verschiedenen Perspektiven verantwortlicher Lebensführung zu erläutern. Solche Verantwortung ist angesichts der Gefahren wahrzunehmen, die in vielen Lebensbereichen durch ein verantwortungsloses Verhalten drohen: Im Straßenverkehr, durch den Mißbrauch von Nahrungs- und Genußmitteln oder im sexueller, Verhalten. Verantwortlich ist diejenige Lebenspraxis, die das Leben - das eigene wie das des Nächsten - zu bewahren und zu fördern trachtet. Verantwortungslos dagegen ist jedes Tun, das dem Leben schadet und es gefährdet. Gerade auf dem Gebiet der Gesundheit gilt, daß zur Förderung des Lebens schon viel geschieht, wenn es vor Schaden bewahrt wird.
In der Krankheit eines Menschen eine direkte "Strafe Gottes" für seine persönlichen Sünden zu sehen. ist ein heidnisches Mißverständnis. Jesus hat solchen Anschauungen widersprochen (Job. 9, 1-3). Sie wirken aber noch heute auch ohne explizite religiöse Begründung nach, leisten der Ausgrenzung der Infizierten und Erkrankten Vorschub und schwächen die mögliche Hilfe für die Betroffenen. Besonders die akut Erkrankten brauchen Freunde, Familienmitglieder und Bekannte, die so an den bedingungslos rechtfertigenden Gott glauben, daß diese einer Liebe ohne Vorbehalte begegnen, in Gemeinde und am Arbeitsplatz nicht an den Rand gedrängt, im Krankenhaus wie andere Kranke auch behandelt werden.
Krankheit ist im christlichen Verständnis zwar eine Störung der guten Schöpfung Gottes; sie ist ein Übel, das nicht sein soll. Im Reich Gottes ist die Krankheit überwunden. Gleichwohl besteht nach christlichem Verständnis der Sinn eines menschlichen Lebens nicht in seiner Gesundheit. Krankheit ist in den Sinn des ganzen Lebens, dessen Teil sie ist, einbezogen. So kann auch der Sinn des Lebens durch die Krankheit nicht verlorengehen. Würde das Leben erst durch Leistungen oder Fähigkeiten seinen Inhalt und Sinn gewinnen, dann würde es ihn im Fall der Krankheit verlieren. Nach christlichem Verständnis aber ist Gesundheit nicht die Abwesenheit von Störungen, sondern das Geschenk und die Kraft, mit Störungen leben zu können: Krankheit kann auch zu einer intensiveren Wahrnehmung der verbliebenen Möglichkeiten führen: Dankbarkeit für das früher Selbstverständliche wecken, Geduld lehren, ungeahnte Kräfte freisetzen.
Sinn gewinnt das Leben für den Christen durch den Glauben; durch das Vertrauen auf Gott, das in den Erfahrungen des Lebens und in der christlichen Gemeinschaft zur Mitte der eigenen Existenz wird. Die Weitergabe dieses Vertrauens begründet und prägt das Verhältnis zum Nächsten. Der Horizont dieses Vertrauens umfaßt alle Erfahrung, auch die des Leidens, der Lebensbedrohung und des Sterbens. Nach christlichem Verständnis zeigt sich in der Lebensgeschichte eines Menschen seine Individualität in ihrer Besonderheit und in ihrer Unverwechselbarkeit. Sie geht aus besonderen und unverwechselbaren Erfahrungen hervor und ist durch den Glauben gewiß, aufgehoben zu sein in der Güte Gottes. In diesen Kreis der Erfahrungen ist die Krankheitserfahrung eingeschlossen, auch die Erfahrung des Verlorenseins und des Sterbens. Freilich ist diese Gewißheit nicht sicherer Besitz. Sie bedarf der Stärkung, der Erneuerung, der Vertiefung und also der Gemeinschaft mit denen, die sie teilen. Das ist gemeint, wenn wir von der Kirche als einer "heilenden Gemeinschaft" sprechen.
2. Annahme
Die Bedrohung durch die Krankheit AIDS wirft die Frage der Annahme des Kranken und, im Fall der Erkrankung, auch die Annahme des Lebensschicksals auf. Jesu Umgang mit den Menschen seiner Zeit ist ein Maßstab für das seelsorgerliche Handeln heute. Zu seiner Zeit waren Kranke aufgrund geltender Gesetze, Normen und Berührungsängste isoliert und von der Gemeinschaft ausgeschlossen. Auf diese Menschen ging Jesus zu. Er setzte sich über Gesetze und Vorschriften hinweg. Auch wenn er die Kranken auf ihre Verstrickungen ansprach, so nahm er sie dabei doch bedingungslos an, erwartete von ihnen keine moralischen Vorleistungen; er begegnete ihnen auch nicht in frömmlerischer, rechthaberischer Überheblichkeit. Jesus legte ihnen die Hände auf, er berührte sie und ließ sich berühren. Es ging ihm um den ganzen Menschen; seine Offenheit, Zuwendung und Annahme hatte heilende Kraft, brachte Getrenntes und Gestörtes wieder zusammen.
Der christliche Gedanke der Annahme hat im Zusammenhang mit der Krankheit AIDS eine mehrfache Bedeutung. Zum einen geht es darum, den Kranken nicht einem Sonderbereich zuzuweisen, ihn als "Gefahrenherd", als Sünder, als Risikoperson und Außenseiter abzustempeln. Wenn Christen die Krankheit, ob vorübergehend oder tödlich, ob lapidar oder vernichtend, als Teil des von Gott gegebenen Lebens betrachten, dann müssen sie sich auch zusammen mit dem AIDS-Kranken gleichsam in einer "Solidargemeinschaft der Schwachen" wissen, als Glieder ihrer Kirche in einer "heilenden Gemeinschaft". Durch eine HIV-Infektion und AIDS-Erkrankung werden Menschen in ihrem Selbst- und Lebensverständnis zutiefst erschüttert. Sie erfahren häufig, daß sich Familie, Ehepartner oder Lebensgefährte, Freunde und Bekannte wegen der HIVInfektion zurückziehen. In dieser Lebenskrise brauchen sie Menschen, die sich nicht entziehen, die für sie da sind und bleiben, sie durch die Krise begleiten, ihre Traurigkeit, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit aushalten.
Im Unterschied zu anderen lebensbedrohlichen Erkrankungen setzt die Annahme eines AIDSKranken die Klärung der eigenen Einstellung zu Sexualität und Homosexualität voraus. Eine bedingungslose Zuwendung wird dort erschwert, wo sittliche Grundüberzeugungen zu einer Barriere werden. Das Anderssein des anderen zu verstehen und es nicht zu einem Vorbehalt werden zu lassen, ist eine entscheidende Herausforderung.
Die Erfahrung, angenommen zu sein, läßt eine Nähe entstehen, in der Gespräche über Sterben und Tod möglich werden. Unter den Erkrankten und Infizierten gibt es auch die, die der Kirche fern stehen; gerade Homosexuelle fühlen sich vielfach abgelehnt und ausgeschlossen. Ihre Erkrankung und ihre Begegnung mit einem Menschen, der im Auftrag und im Namen Gottes zu ihnen kommt, läßt religiöse Fragen erneut aufbrechen und lebendig werden. Fragen nach Gott, nach dem Sinn des Lebens, die Sehnsucht nach Annahme, Geborgenheit, Vergebung und Versöhnung werden laut. AIDS-Kranke suchen oft einen Menschen, der mit ihnen betet, sie segnet und das Abendmahl mit ihnen feiert.
Annahme bedeutet auch tatkräftige praktische Hilfe. Wer von der Erkrankung eines Menschen aus seinem Lebenskreis erfährt, vielleicht sogar eines Freundes oder eines Familienangehörigen, der ist zu Zuwendung und Hilfe herausgefordert. Die Unsicherheit, die in vielen von uns steckt, sich in einer solchen Situation richtig zu verhalten, macht es gewiß nicht einfach. Die praktische Annahme ist deshalb ein Prozeß des Lernens, der Änderung von Einstellungen, der Überwindung innerer Barrieren, des Findens von Wegen zum Kranken oder seinen Angehörigen. Wie schwer ein solcher Weg ist, wissen all diejenigen, die mit AIDS-Kranken leben und sie pflegen und dabei vielfältige Schwierigkeiten, auch von seiten ihrer Freunde, Bekannten und Angehörigen, erfahren.
Den Infizierten bzw. akut Erkrankten stellt sich die Aufgabe, ihr Schicksal nicht als ein ihnen fremdes abzulehnen, sondern auch in der Situation von Anfechtung, Leiden und Verlöschen Versöhnung zu erfahren - Versöhnung mit Gott, den Mitmenschen und sich selbst. Der Infizierte, der jahrelang ohne Krankheitssymptome leben kann, wird diesen seinen "Schwebezustand" und die große Ungewißheit über seine Zukunft nur schwer annehmen können und sich vielen verschiedenen Hoffnungen (auf das Nichtausbrechen der Krankheit, auf neue wirksame Medikamente, auf die Verzögerung des Fortgangs der Krankheit u. a.) öffnen. In vielen Fällen kommen Selbstvorwürfe, die schmerzliche Erfahrung der Aussonderung und Ausgrenzung, die peinigende Ungewißheit, möglicherweise andere tödlich infiziert zu haben, belastend hinzu. Von Gottes Ja zu den Menschen ist jedoch niemand ausgenommen.
Der akut Erkrankte dagegen, dessen Beschwerden fortschreiten und dessen irdischer Weg auf sein Ende zugeht, wird zumeist die Krisen des früh sterbenden Menschen durchleben. In dieser Erfahrung muß er die Gewißheit haben dürfen, daß er von Gott und seinen Mitmenschen nicht fallengelassen wird, keinen einsamen, zu verheimlichenden und sinnlosen Tod stirbt, sondern auch sein kurzes und unvollkommenes Leben bei Gott gut aufgehoben ist. Wer sein Lebensschicksal, so fremd und ungewöhnlich es auch sein mag, aus Gottes Hand nimmt, handelt nicht aus Resignation, sondern stimmt ein in das Geheimnis der Führungen Gottes, der verständlichen und der unverständlichen.
3. Verantwortliche Sexualität
Die Sexualität ist eine gute Gabe Gottes. Dieser Einschätzung entspricht das "neuzeitliche, nicht ohne die Wirkung der biblischen Verkündigung entstandene Verständnis des Menschen als leih-seelischer Ganzheit" (Denkschrift zu Fragen der Sexualethik, 1971, Ziff. 11). Dabei wird konzediert, daß die Kirche "auf ihrem Weg durch die Geschichte in ihrer Sexualethik nicht immer den Leben und Freude ermöglichenden Charakter des Evangeliums betont" hat (Ziff. 10). Die Grundlage der sexuellen Beziehung sieht die evangelische Ethik in der Ehe als einer monogamen partnerschaftlichen Beziehung.
Sexualität hat eine vielfältige Sprache und faßt sehr verschiedene menschliche Bedürfnisse und Äußerungen zusammen: nicht nur Körperkontakt und das Verlangen nach intimer Kommunikation, sondern auch Gefühle und Zuneigung, Wünsche, Zuwendung, Freundlichkeit und Zärtlichkeit. Eine in dieser Weise umfassend verstandene Sexualität braucht, um ohne Angst leben und sich entfalten zu können, den Schutzraum einer auf Dauer angelegten Partnerschaft, die gemeinsames Wohnen, Wirtschaften, Arbeiten, Diskutieren, Glauben und Spielen umschließt. Die Gefühle des Partners dürfen nicht mutwillig verletzt, neues Leben muß von beiden gewollt und bejaht, der andere darf nicht mit einer Krankheit infiziert werden. "Sexuelle Freiheit ohne Verantwortung für den anderen ist lieblos. Gott kennt uns persönlich, darin wurzelt die eigenständige Würde eines jeden von uns. Keiner darf den anderen darum nur zu seinem eigenen Glück benützen. Wir alle sind und bleiben auf Liebe angewiesen. Liebe aber bedeutet weitaus mehr als eine Zuwendung auf Zeit. Liebe umfaßt doch wesentlich mehr und anderes als ein kurzfristiges Interesse am Körper eines anderen Menschen." (Bischof von Keler)
An diese anthropologischen und christlichen Einsichten hier zu erinnern, bedeutet nicht, von neuem eine überholte Sexualmoral - so wird gerne unterstellt - zu stützen, wie ehemals die Angst vor Geschlechtskrankheiten und ungewollter Schwangerschaft. Freilich soll man die Angst als ethischen Appell, etwas Gefährliches zu unterlassen, auch nicht einfach ablehnen. Ängste können zu Einsichten führen und Ratgeber sein. Einer neuerlichen Engführung der Sexualität lediglich auf den Akt der Zeugung redet niemand das Wort. Und mehr als von der Angst muß menschliche Sexualität von Liebe und dem Bewußtsein der Verantwortung für den anderen und die Folgen des Tuns bestimmt sein.
Es geht also erneut um die alte Notwendigkeit, ohne falsche Angst miteinander zu leben und füreinander Verantwortung zu übernehmen. Der Glaube kennt Gott als Ursprung einer Liebe, die es auch uns Menschen möglich macht, unserem Nächsten in Liebe zu begegnen und sein Leben wie das eigene in Obhut zu nehmen. Die Treue von Eheleuten bedeutet entsprechend das verläßliche Festhalten an der gemeinsamen Hoffnung und dem gegenseitigen Versprechen über Konflikte und Zeiten der Entfremdung hinweg.
Evangelische Sexualethik hat eine gelebte und erfüllte Sexualität in der dauerhaften Partnerschaft der Ehe zum Ziel. Die große Zahl der zerbrechenden Ehen und Partnerschaften verweist darauf, welch erhebliche Schwierigkeiten in der modernen Gesellschaft bestehen, in stabilen Partnerschaften und in ganzheitlicher Liebe zu leben. Sie zerbrechen nicht allein durch hohe Erwartungen, Unreife, Einwirkungen des Berufs und anderes mehr, sondern nicht zuletzt auch durch die Einflüsse der Konsum- und Wegwerfgesellschaft auf den Bereich der Sexualität. Die vergangenen Jahrzehnte, in denen der Bereich der Sexualität von vielen Tabus befreit worden ist, haben nicht schon zu wirklicher Freiheit und ihr entsprechender größerer Verantwortung geführt. Das Thema ist häufig isoliert worden. Sexualität ist nicht selten zu einer Ware verkommen. Die Krankheit AIDS nötigt uns ein neues Nachdenken darüber auf, wie Liebe, Vertrauen, dauerhafte Partnerschaft, Ehe und geschlechtliche Gemeinschaft zusammengehören.
Niemals haben die Menschen, um Gefährdungen oder Infektionen zu vermeiden, den Intimverkehr auf dauerhafte Partnerschaften beschränkt. Deshalb kann sich die Kirche so wenig wie der Staat mit dieser ethischen Forderung zufriedengeben. Die Verantwortung zweier Partner muß auf jeden Fall das Risiko einer Infektion vermindern, z. B. auch durch die Anwendung von Kondomen. Dabei wird es vor allem darauf ankommen, daß die Männer, die den Schutz vor Empfängnis seit der Einführung der Pille weitgehend der Frau überlassen haben, jetzt die Initiative ergreifen.
Von AIDS-Infizierten und Nichtinfizierten wie von denen, die nicht wissen, ob sie infiziert sind oder nicht, ist die Vermeidung der bekannten Infektionswege zu erwarten. Nur wenn beide Partner erwiesenermaßen nicht infiziert sind, kann auf Vorkehrungen des Schutzes ("safer love") verzichtet werden. Eine weitergehende Ab- oder Ausgrenzung dagegen nimmt das Leben des anderen nicht in Obhut, sondern überläßt es der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.