AIDS - Orientierung und Wege in der Gefahr

Eine Kirchliche Stellungnahme, 1988

Vorwort

Als Anfang 1987 die Nachrichten von der Bedrohung der Krankheit AIDS die Medien beherrschten, ging ein großes Erschrecken durch unser Land. Die Befürchtung, mit einer tödlichen Krankheit infiziert werden zu können, schockierte weite Teile der Bevölkerung. Betroffenheit über das Schicksal derjenigen, die bereits infiziert oder erkrankt waren, war vergleichsweise wenig zu spüren. Zu der Krankheit gesellte sich panikartige Furcht wie eine Seuche eigener Art. Rasch zeigten sich die sozialen Folgen für diejenigen, die als Erkrankte bekannt waren. Man begegnete ihnen mit Voreingenommenheit und Anfeindung.

Mittlerweile ist die Krankheit weiter vorangeschritten. Innerhalb eines Jahres hat sich in verschiedenen Bereichen des Landes die Zahl der Erkrankungen verdoppelt. Auch die Verdrängung des Problems, Ratlosigkeit, Über- und Unterreaktionen haben ihren Fortgang genommen. Seitdem aber das Risiko, infiziert zu werden, kalkulierbar geworden ist, und die tatsächlichen Übertragungswege allgemein bekannt sind, nimmt das Interesse der breiten Bevölkerung an AIDS und den von dieser Krankheit Betroffenen ab. Beginnen wir, uns an die erschreckende Bedrohung und ihre Opfer zu gewöhnen?

AIDS ist eine ernste Herausforderung für unser Gemeinwesen. Wir müssen besonnen und verantwortungsbewußt handeln und leben, damit die Krankheit AIDS keine Chance bekommt. Und wir müssen uns unvoreingenommen und mit wahrer christlicher Liebe derer annehmen, die infiziert wurden, und derer, bei denen die Krankheit bereits ausgebrochen ist. Nicht nur Staat und Gesellschaft müssen jetzt ihre Aufgabe erkennen, auch und gerade die Christen sind gerufen.

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat einen Expertenkreis aus Medizinern, Sozialethikern und Vertretern verschiedener anderer Fachrichtungen beauftragt, den Entwurf einer kirchlichen Äußerung vorzubereiten, der auf grundlegende Fragen im Zusammenhang mit HIV-Infektion und AIDS-Erkrankung eingeht. Es sollten insbesondere ethische, soziale, anthropologische und theologische Fragen bedacht und Orientierungen erarbeitet werden. Viele Anregungen aus kirchlichen Stellen, Gremien und Einrichtungen haben in der vorliegenden Ausarbeitung Berücksichtigung gefunden. Der Rat der EKD übergibt das Ergebnis dieser Arbeit der Öffentlichkeit in der Hoffnung, daß es zu mehr Gemeinsamkeit im Kampf gegen die Krankheit beiträgt, Anregungen für eine offene und kritische Diskussion vermittelt, aber auch Wegweisung für das jetzt erforderliche mitmenschliche und verantwortliche Verhalten gibt.

Juli 1988

Bischof Dr. Martin Kruse
Vorsitzender des Rates der EKD

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