AIDS - Orientierung und Wege in der Gefahr
Eine Kirchliche Stellungnahme, 1988
IV. Empfehlungen
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Wer öffentliche Verantwortung wahrzunehmen hat, steht vor der schweren Aufgabe, mit einem Dilemma fertig zu werden, nämlich Vertrauen in der Bevölkerung zu erhalten und gleichzeitig auch vor notwendigen unpopulären Maßnahmen nicht zurückzuschrecken. In dieser schwierigen und konfliktträchtigen Situation muß versucht werden, Maßnahmen zu wählen, die vorhandenes Vertrauen zu Ärzten und Behörden nicht belasten, die Kooperationswilligkeit des Patienten so wenig wie möglich beeinträchtigen und dem Gedanken der Freiwilligkeit entgegenkommen. Auf dieser Basis muß auch die Diskussion über geeignete Maßnahmen geführt werden, die vermeiden, daß Infizierte ausweichen und ungewollte gesellschaftliche Nebenwirkungen und Benachteiligungen erleiden, die über die gesundheitspolitischen Erfordernisse hinausgehen. Eine Einschränkung von Grundrechten des einzelnen darf auch hier nur ein letztes Mittel sein.
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Maßnahmen zur Bekämpfung von AIDS sollten nur ergriffen werden im Wissen um den Zielkonflikt zwischen den bürgerlichen Freiheitsrechten und den gesundheitspolitischen Erfordernissen der Gesellschaft. Es gibt hier keine konfliktlose, keine risikolose und keine problemlose Handlungsmöglichkeit. Das Abwägen zwischen den gegensätzlichen Zielen muß die Entscheidung bestimmen; die Entscheidungen dürfen nicht vorschnell gefaßt werden. Es muß deutlich sein, daß dort, wo ein Weg zu lasten von Freiheitsrechten einzelner unvermeidlich erscheint, neben den Vorteilen zugleich auch Nachteile eintreten. Und umgekehrt: Wo im Vertrauen auf den mündigen Bürger und die Freiwilligkeit der Betroffenen auf durchgreifende Maßnahmen verzichtet wird, müssen dagegen die daraus erwachsenden Gefahren für andere und für das Krisenmanagement als bleibende Mahnung im Blick sein. In jeder Entscheidung liegt die Gefahr, das Falsche zu tun und das Notwendige zu unterlassen.
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Für das Vorbeugen, für die medizinische Versorgung, für die Wahl der Bekämpfungsmaßnahme, für die Planung und zur Effektivitätskontrolle ist es unbedingt erforderlich, unseren Kenntnisstand über die Krankheit auf einem geeigneten Wege zu verbessern. Entscheidungsträger und Verantwortliche müssen deshalb über die Ausbreitung der Krankheit und über bestehende Infektionswege informiert sein. Auch auf die Pflicht zur Information und Aufklärung der Bevölkerung ist zu verweisen: Ein nicht geringer Teil der sozialen Ausgrenzungen und Diskriminierungen könnte gemindert und vielleicht vermieden werden, wenn die Verunsicherten und Diskriminierenden besser informiert wären.
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Hier liegt auch eine individuelle Verantwortung des einzelnen, sich selbst Gewißheit darüber zu verschaffen, ob bei ihm eine Infektion vorliegt. Alle, bei denen eine Infektion wahrscheinlich ist, sind aus ethischer Sicht im Blick auf die Verantwortung gegenüber dem Nächsten und im Blick auf die Wahrheit sich selbst gegenüber zur Teilnahme an einer Untersuchung selbst dann verpflichtet, wenn dies gesetzlich nicht vorgeschrieben ist und wenn dem Betroffenen selbst daraus eher subjektive Nachteile entstehen. Jedoch dürfen die Schwierigkeiten dessen, dem damit zugemutet wird, sich >>testen zu lassen, ob er ein Todeskandidat ist<<, nicht unterschätzt werden, sondern müssen Anlaß zu Beistand und Hilfe sein. Eine seelsorgerlich beraterische Begleitung ist hier unerläßlich. Neben den psychohygienischen Rahmenbedingungen muß auch eine vertrauenerweckende medizinische Handhabung des Testverfahrens sichergestellt sein. Ein HIV-Test darf nur im Einverständnis mit dem Patienten durchgeführt werden. Das Testergebnis unterliegt in jedem Fall dem Datenschutz und darf nicht zur beruflichen oder versicherungsrechtlichen Ausgrenzung mißbraucht werden. Das schließt die Anonymität der Meldepflicht ein.
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Die Behandlung und Betreuung von AIDS-Kranken sowie die Bekämpfung der Seuche sollten soweit wie irgend möglich beim Arzt und den Beratungsstellen verbleiben und so wenig wie irgend möglich bei Behörden liegen. Hier hat eine besondere Bedeutung die Schweigepflicht des Arztes, zu dem der Patient aufgrund der persönlichen Begleitung ein besonderes Vertrauensverhältnis hat.
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In allen Stadien von der HIV-Infektion bis zum Erkrankungsstadium und zum Sterben müssen leistungsfähige psychosoziale, beratende und betreuende Angebote der Seelsorge zur Verfügung stehen. Hier liegt eine besondere Herausforderung für Kirche und Diakonie.
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Ärztinnen, Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger und Sozialarbeiter bedürfen gerade in dieser Zeit der Eskalation, der Angst vor der eigenen Infizierung und der erschreckenden Überlastung einer raschen und energischen Unterstützung. Es ist nicht nur vermehrt assistierendes Personal nötig, sondern auch die großzügige Unterstützung durch Personalschulung und Information, durch notwendige Entscheidungen in den Kliniken und durch ein bejahendes Mittragen des schweren Dienstes. Diejenigen, die AIDS-Kranke behandeln, pflegen und begleiten, brauchen selber menschliche, seelische und moralische Hilfe sowie eine Anerkennung ihres Einsatzes und ihrer Aufopferung. Sie sind der seelsorgerlichen Begleitung bedürftig, um das, was ihnen täglich begegnet, aufarbeiten zu können. Eine besondere Last liegt auf denen, die junge Sterbende begleiten. Ihnen sollte die Möglichkeit eingeräumt werden, daß sie diese Aufgabe mit der nötigen Zeit, der nötigen Kenntnis und den nötigen Mitteln wahrnehmen. Die Kirche kann hier in ihren Einrichtungen mit gutem Beispiel vorangehen.
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Die Annahme des Mitmenschen, zu der uns Gott gerufen hat, schließt auch die Annahme derjenigen ein, deren Verhalten wir nur schwer verstehen und deren Wertvorstellungen wir nicht teilen. Die rechte Annahme ist nicht an Vorleistungen geknüpft. Sie schließt nicht nur die Bluter und Kinder ein, sondern auch Drogenabhängige, Homosexuelle und Prostituierte. Die Krankheit AIDS ist eine Herausforderung zur konsequenten Realisierung der >>Solidargemeinschaft der Schwachen<<, zu der die vermeintlich Gesunden ebenso gehören wie die Kranken. Eine Bewußtseinsbildung in der Bevölkerung sollte die vielen offensichtlichen und verborgen wirkenden Diskriminierungen überwinden helfen. Die Kirchengemeinden sollten dann, wenn es bei ihnen AIDS-Infizierte und AIDS-Kranke gibt, ihnen mit ihren Diensten ebenso zur Verfügung stehen wie anderen Kranken auch. Alle Menschen, die an schweren und tödlichen Krankheiten leiden, bedürfen der Gemeinschaft: Sie brauchen den Besuch, das Gespräch, Unterstützung und Hilfeleistung, und darin die Gewißheit, nicht ausgeschlossen zu sein. Gerade junge Patienten brauchen die Erfahrung, in ihrer Krankheit nicht allein auf sich selbst gestellt zu sein, sondern auch in schwersten Krankheitssituationen die Beziehung zu anderen Menschen und die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zu behalten. Es könnte sein, daß durch eine neue Aufmerksamkeit für AIDSKranke die Aufmerksamkeit, die alle Kranken und besonders die Schwerkranken unter uns benötigen, neu geweckt und vertieft wird.
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Gefordert ist auch eine größere sexuelle Verantwortlichkeit, die den Sinn der Sexualität neu entdeckt und Teil einer gelingenden und dauerhaften Partnerschaft ist. Diese Sexualität hat ihren Ort in der Ehe. Liebe, Vertrauen, Zuwendung und ganzheitliche Gemeinschaft müssen stets neu gelernt werden. Die Kirche muß in ihrer Arbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen diese Zusammenhänge und die Verantwortung der Partner in Erinnerung rufen. Das aber wird sie nur können, wenn sie sich selber nicht bestimmen läßt von Ängstlichkeit und Enge, von einer Überbewertung des Geistigen gegenüber dem Leiblichen. Nur wo unverkrampft Freude an der Sexualität zum Ausdruck kommt, finden auch Hinweise auf Gefahren und Fehlformen Beachtung.
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Betroffene Infizierte und akut Erkrankte sollten so eingehend wie möglich und so lange wie möglich in den Bereich des gesellschaftlichen Lebens integriert bleiben, der ihnen Einsatz und Verantwortung abverlangt und in dem sie soziale Kontakte, individuelle Lebensführung, Entfaltungsmöglichkeiten und Erwerbsarbeit finden. Wir dürfen nicht zulassen, daß sie zu früh in den Schonraum ausweichen. Sie sollten vielmehr in der Lage sein, so lange wie möglich ein möglichst normales Leben zu führen. Im Umgang mit den betroffenen Infizierten und Kranken sollte sich die Kirche als >>heilende Gemeinschaft<< in Begleitung, Gespräch, Kontakt und Fürsorge erweisen. Die Sorge für die betroffenen AIDSKranken liegt nicht einfach nur bei den Werken und Einrichtungen der Kirche, sondern ebenso bei den Gemeinden und jedem einzelnen Christen. AIDS-infizierte und -erkrankte Kinder müssen ihren Platz im Kindergarten der Kirchengemeinde nicht nur behalten, sondern dort besondere Zuwendung erhalten. Vergleichbares gilt für die infizierten und kranken Jugendlichen und Erwachsenen in der Gemeinde, die in den Gemeindekreisen Aufnahme und Begleitung finden sollen. Der Glaube an Gott, der zu seinem Volk sagt, >>ich bin der Herr, dein Arzt<< (2. Mose 15, 26), sollte Handeln und Einstellung der Christen bestimmen.
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Nach dem heutigen Stand der medizinischen Erkenntnis besteht praktisch kein Risiko, sich beim Abendmahl mit AIDS zu infizieren. Deshalb ist eine ausgedehnte und emotionsbeladene Diskussion über die mögliche Gefährdung durch den gemeinsamen Kelch beim Abendmahl eine unnötige Belastung für das Gemeindeleben. Nichtsdestoweniger wird die Gemeinde Rücksichten auch auf die nehmen müssen, die sich von (objektiv unbegründeten) Ängsten nicht lösen können. In der Empfehlung der Lutherischen Liturgischen Konferenz von 1986 heißt es dazu: >> Es sollten alle Maßnahmen getroffen werden, die das Risiko einer Infektion reduzieren, so unwahrscheinlich diese erfahrungsgemäß oder statistisch auch ist. Es muß erkennbar werden, daß die Bedenken der Abendmahlsgäste ernst genommen werden. Bei Berücksichtigung der genannten Gesichtspunkte wird auch von kritischen Hygienikern kein medizinischer Einwand gegen den gemeinsamen Kelch erhoben. Wir haben daher keinen Anlaß, eine andere als die bewährte Praxis der Abendmahlsausteilung mit dem Gemeinschaftskelch zu empfehlen, zumal die Gemeinsamkeit des Mahles wesentlich durch den gemeinsamen Kelch sichtbar gemacht wird.<<
Die Bekämpfung der Bedrohung durch die Krankheit AIDS und die Hilfe für die bereits Betroffenen ist eine gemeinsame Aufgabe, die ein Zusammenwirken aller gesellschaftlichen Kräfte erfordert. Die Bedrohung wird zu einer schweren Belastungsprobe werden. Gegensätze werden noch deutlicher aufbrechen. Es besteht die besondere Pflicht zur Gemeinsamkeit in der Bemühung, den Betroffenen zu helfen und die Gesunden zu schützen.
Die AIDS-Diskussion ist nicht für eine parteipolitische Profilierung geeignet, wie dies in der gegenwärtigen Situation hier und dort versucht wird. Nicht Wunschdenken, eine Ideologie oder Interessenlage, sondern allein die Tatsachen zählen. Bei allen Entscheidungen sollte es deshalb gleichrangig um die selbstverständliche Fürsorgepflicht für die Betroffenen und um den Schutz der Gesunden gehen. Es muß zu einer die Parteien und Gruppen übergreifenden und die Gräben überbrückenden gemeinsamen Bemühung kommen. Auch strukturelle Unzulänglichkeiten wie ungeklärte Kompetenzen, unzureichende Kooperationsmöglichkeiten, Konzeptionslosigkeit u. a. gefährden die Gemeinsamkeit.