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Prävention und Intervention. Arbeitshilfe für Kirche und Diakonie bei sexualisierter Gewalt

Teil 1: I. Hintergründe zu sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen

Hintergründe zu sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen

1. Was heißt sexualisierte Gewalt?

In Deutschland wie in den meisten Ländern der Welt fehlt ein einheitliches Verständnis davon, was sexualisierte Gewalt eigentlich ist und was unter diesen Begriff fällt. Das spiegelt sich unter anderem darin wider, dass in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Begrifflichkeiten dafür verwendet werden. Die Rede ist etwa von "sexualisierter Gewalt", "sexuellem Missbrauch", "sexueller Gewalt" oder "sexueller Ausbeutung".

Der häufig verwendete Begriff sexuelle Gewalt (gegenüber Kindern und Jugendlichen) bezeichnet nach einer gängigen Definition "jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind aufgrund seiner körperlichen, psychischen, kognitiven oder sprachlichen Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Die Missbraucher nutzen ihre Macht und Autoritätsposition aus, um ihre eigenen Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen." [2] Zentral ist dabei die Erpressung zur Geheimhaltung, die das Kind zur Sprachlosigkeit, Wehrlosigkeit und Hilflosigkeit verurteilen soll.

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Diakonie Deutschland Evangelischer Bundesverband lehnen sich an diese Definition an, sprechen jedoch von sexualisierter Gewalt. Diese Begrifflichkeit zeigt am deutlichsten auf, dass Sexualität instrumentalisiert wird, um Gewalt und Macht auszuüben.

Den Begriff "sexueller Missbrauch" lehnen viele betroffene Menschen aus verständlichen Gründen ab. Denn "Missbrauch" legt nahe, dass auch ein positiver "Gebrauch" möglich wäre. Gebrauch kann aber prinzipiell nur von Sachen oder Situationen gemacht werden unter keinen Umständen von Menschen.

Im strafrechtlichen und zum Teil im wissenschaftlichen Kontext muss der Begriff des sexuellen Missbrauchs in dieser Arbeitshilfe trotzdem aufgegriffen werden, da er der juristischen beziehungsweise zum Teil wissenschaftlichen Terminologie entspricht. Die Fachliteratur kennt im Übrigen auch weitere Abstufungen wie etwa die Formulierung "Grenzverletzungen" oder "sexuelle Übergriffe": Grenzverletzungen treten einmalig oder gelegentlich im pädagogischen und im pflegerischen Alltag auf und können als fachliche oder persönliche Verfehlungen des Mitarbeitenden charakterisiert werden. Das unangemessene Verhalten, das eine Grenzverletzung ausmacht, kann durch einen Mangel an eindeutigen Normen und Regeln in einer Organisation wie durch fehlende Sensibilität des Mitarbeitenden hervorgerufen werden. Meist geschehen Grenzverletzungen unbeabsichtigt [3].

Sexuelle Übergriffe geschehen im Gegensatz zu Grenzverletzungen niemals zufällig oder unbeabsichtigt. Die übergriffige Person missachtet bewusst gesellschaftliche Normen und Regeln sowie fachliche Standards. Widerstände des Opfers werden übergangen [4].

Form und Intensität sexualisierter Gewalt Sexualisierte Gewalt kommt in vielen Formen und Abstufungen vor. Dabei kann zwischen Formen mit und ohne Körperkontakt unterschieden werden.

Sexualisierte Gewalt ohne Körperkontakt [5] liegt zum Beispiel vor

  • bei Exhibitionismus [6] und / oder Voyeurismus [7]
  • beim gemeinsamen Anschauen von Pornografie beziehungsweise beim Versenden pornografischer Fotos per Email oder MMS an Kinder und Jugendliche
  • bei Gesprächen, Filmen oder Bildern mit sexuellem Inhalt, die nicht altersgemäß sind wenn jemand sich vor anderen ausziehen muss
  • bei ständiger verbaler oder nonverbaler Kommentierung der körperlichen Entwicklung der Geschlechtsmerkmale eines Kindes oder einer/ eines Jugendlichen
  • beim Beobachten von Kindern und Jugendlichen beim Baden und / oder Duschen
  • bei Gebrauch sexualisierter Sprache, Belästigung von Kindern in Chaträumen im Internet (CyberGrooming) [8]
  • bei der Aufforderung an Kinder und Jugendliche, sexuelle Handlungen an sich vorzunehmen

Sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt liegt zum Beispiel vor

  • bei intimen Küssen und Zungenküssen
  • bei vorsätzlichen Berührungen des Opfers an Brust, Gesäß oder den Genitalien

Zusätzlich kann von schweren Formen sexualisierter Gewalt gesprochen werden. Diese liegen zum Beispiel vor

  • beim Zwang zu sexuellen Handlungen (zum Beispiel Selbstbefriedigung)
  • bei analer, oraler oder genitaler Vergewaltigung
  • beim Zwang zum Austausch sexueller Praktiken unter mehreren Personen

Alle Grenzverletzungen in Verbindung mit einer sexuellen Handlung zwischen Erwachsenen und Kindern oder Jugendlichen sind sexualisierte Gewalt [9]. Solche Handlungen gehen immer mit Zwang und Gewalt einher, auch dann, wenn keine körperliche Gewaltanwendung zur Durchsetzung der Interessen der Täter und Täterinnen notwendig sind.

Die Grenzen sind immer überschritten, wenn gegen den ausdrücklichen, spürbaren oder vermuteten Willen eines Menschen gehandelt wird. Sexualisierte Gewalt beginnt dort, wo ein Mensch sexuelle Erregung sucht oder mit sexuellen Mitteln andere Ziele verfolgt (Machtausübung) ohne dass er auf die freie, reife und informierte Zustimmung des Gegenübers zählt oder zählen kann.

Sexualisierte Gewalt ist in den seltensten Fällen ein einmaliges Ereignis. Häufig geschehen die Gewalthandlungen über einen längeren Zeitraum immer wieder. Dies gilt besonders, wenn die Täter oder Täterinnen in enger Beziehung zu den Opfern stehen und die Betroffenen über die Vorfälle schweigen. Sexualisierte Gewalt ist eine von den Tätern und Täterinnen zumeist bewusst ausgeführte Handlung. Häufig wird sie äußerst sorgfältig in einer Vielzahl strategischer Schritte (vgl. Teil 1, I., 5. Täter und Täterinnen) im Vorhinein sowie begleitend zur Tat geplant.

2. Sexualisierte Gewalt im rechtlichen Kontext

2.1 Recht auf Schutz vor sexualisierter Gewalt bei Kindern und Jugendlichen im nationalen Kontext

Rechtlich setzt der Schutz vor Gewalttaten jeglicher Art an der Verpflichtung des Staates zum Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) an. Das Sozialgesetzbuch (SGB) Achtes Buch (VIII) und weitere einfachgesetzliche Regelungen wie zum Beispiel das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG), aber auch das Polizeirecht der Länder konkretisieren diesen Schutz. Ziele sind, Kindeswohlgefährdungen zu verhindern, aufzuklären und zu beenden. Das am 1. Januar 2012 in Kraft getretene Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) (siehe BGBl. 2011, Seite 2975) soll den Schutz von Kindern und Jugendlichen in verschiedener Hinsicht verbessern. Dieser verbesserte Schutz setzt bei der Prävention an und bezieht relevante Anhaltspunkte für Kindeswohlgefährdung ein, auf die zu reagieren ist. Angesprochen sind die freien Träger selber die im Rahmen der Qualitätsentwicklung nach § 45, 79a SGB VIII Schutzkonzepte erarbeiten, umsetzen und weiterentwickeln müssen als auch die einzelnen Mitarbeitenden, die in den konkreten Gefährdungssituationen angemessen reagieren sollen (so § 8a Abs. 4 SGB VIII oder § 4 KKG).

Die im Zuge des Bundeskinderschutzgesetzes überarbeiteten beziehungsweise neu eingefügten Regelungen in § 8a Abs. 4 und § 4 KKG knüpfen mit der dort vorgesehenen Gefährdungseinschätzung an fachliche Vorgehens weisen an, die zur Anwendung kommen müssen, wenn Mitarbeitende Anhaltspunkte für Kindeswohlgefährdungen wahrnehmen [10]. Welche konkreten weiteren Schritte sich ergeben, wenn die Gefährdungseinschätzung zu dem Schluss kommt, dass tatsächlich eine Gefährdung besteht, hängt entscheidend davon ab, von wem die wahrgenommene Gefahr ausgeht und in welcher Rolle sich der freie Träger befindet. § 8a SGB VIII kommt zum Tragen, wenn die Gefährdungseinschätzung die Ursachen außerhalb der Institution verortet hat. In diesem Fall muss der freie Träger seinem Schutzauftrag gerecht werden, indem er die Erziehungsberechtigten über die Gefährdungseinschätzung informiert und sie dazu bewegt, in einer Weise zu kooperieren, die zur Beendigung der Gefährdungssituation führt (Hinwirken auf die Inanspruchnahme von Hilfen nach § 8a Abs. 4 SGB VIII). Die Position des Trägers gegenüber den Eltern ändert sich grundlegend, wenn gewichtige Anhaltspunkte dafür erkennbar sind, dass seine Mitarbeitenden selbst das Kind gefährden. Insoweit haftet der Träger gegenüber den Eltern für das Fehlverhalten der / des von ihm eingestellten Mitarbeitenden und muss gleichzeitig den Schutz des betroffenen Kindes beziehungsweise der/ des Jugendlichen gewährleisten.

Das deutsche Strafrecht schützt das Recht der Selbstbestimmung. Dieses Recht sichert jeder Person zu, über ihre Sexualität frei zu bestimmen. Um die ungestörte sexuelle Entwicklung der heranwachsenden Kinder und Jugendlichen zu schützen, wird Kindern und Jugendlichen besonderer strafrechtlicher Schutz zuteil. Jede sexuelle Handlung vor 10 Münder, Johannes / Meysen, Thomas / Trenczek, Thomas, Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, Kinder und Jugendhilfe, Baden-Baden 2013. und an Kindern unter 14 Jahren ist strafbar. Sexuelle Handlungen mit unter 16-Jährigen sind strafbar, wenn sie sich in der Position Schutzbefohlener gegenüber Erwachsenen befinden, die sexuelle Handlungen vornehmen oder wenn die Erwachsenen diese fördern (Vorschub leisten). Weitere Ausführungen sowie die wichtigsten Rechtsgrundlagen finden sich im Anhang dieser Arbeitshilfe.

2.2 Recht auf Schutz vor sexualisierter Gewalt im internationalen Kontext

In der UN-Kinderrechtskonvention ist Kindern das Recht zugesichert, ohne Gewalt aufzuwachsen. So haben nach Artikel 34 Kinder ein "Recht auf Schutz vor jeglicher Form sexualisierter Gewalt." [11] Artikel 19 besagt, dass Kinder vor allen Formen körperlicher und seelischer Gewalt, Verletzungen oder Misshandlung, Vernachlässigung, Ausbeutung und insbesondere sexualisierter Gewalt zu schützen sind. Das heißt jedes Kind, das Opfer von Gewalt wurde, hat das Recht auf Schutz und den engagierten Einsatz aller. Die einschlägigen Richtlinien der Europäischen Union [12] beziehungsweise die Konvention des Europarats sowie die Zusatzprotokolle zur UN-Kinderrechtskonvention beruhen auf diesem Recht und ergänzen die Pflicht eines umfassenden Schutzes der Kinder vor Gewalt.

Auch die UN-Behindertenrechtskonvention fordert in Artikel 16 die Vertragsstaaten auf, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um Menschen mit Behinderung sowohl innerhalb als auch außerhalb der Wohnung vor jeder Art von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch zu schützen. Dabei sind die auf der Geschlechterzugehörigkeit basierenden Aspekte zu berücksichtigen [13].

3. Das Ausmaß von sexualisierter Gewalt

In der Bundesrepublik gibt es gegenwärtig nur wenige aktuelle, repräsentative und wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse zum Thema sexualisierter Gewalt bei Kindern und Jugendlichen [14].

Neben der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS), in der die polizeilich gemeldeten Fälle sexuellen Missbrauchs, die Aufklärungsquote sowie die ermittelten Tatverdächtigen erfasst werden, stehen drei Berichte beziehungsweise Studien zur Verfügung, die die neuesten Zahlen zum Ausmaß sexualisierter Gewalt in Deutschland liefern:

  • der Abschlussbericht des Projektes des Deutschen Jugendinstituts (DJI) "Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen"
  • die Repräsentativbefragung "Sexueller Missbrauch 2011" vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) und
  • der Abschlussbericht der Unabhängigen Beauftragten Dr. Christine Bergmann zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt gegen über Kindern und Jugendlichen.

Die Polizeiliche Kriminalstatistik weist aus schließlich polizeilich bekannt gewordene Fälle sexualisierter Gewalt aus. Sie bezieht sich da mit auf das sogenannte Hellfeld, so dass die Erkenntnisse, die aus den Daten der PKS gewonnen werden können, relativ begrenzt sind. Zu beachten ist darüber hinaus, dass es sich bei der PKS um eine Anzeigenstatistik handelt. Es werden also keine Täter und Täterinnen, sondern Tatverdächtige erfasst. In der PKS wurden im Jahr 2012 über 14.500 Kinder bis zum Alter von 14 Jahren erfasst, die Opfer sexuellen Missbrauchs wurden [15]. Der sexuelle Missbrauch nahm demnach gegenüber 2010 um rund drei Prozent zu. 75 Prozent der Betroffenen waren weiblich, 25 Prozent männlich. Darüber hinaus wurden 1.000 Fälle erfasst, in denen Jugendliche Opfer sexuellen Missbrauchs wurden.

Fälle sexuellen Missbrauchs gelangen jedoch häufig nicht zur Anzeige, so dass die PKS das wahre Ausmaß sexualisierter Gewalt nicht realistisch widerspiegelt. Über das sogenannte Dunkelfeld, das die Differenz zwischen auf gedeckten Fällen sexueller Übergriffe und der tatsächlichen Häufigkeit des Vorkommens bezeichnet, kann keine Aussage getroffen werden. In der Wissenschaft geht man davon aus, dass lediglich maximal zehn Prozent aller Delikte sexualisierter Gewalt bei Polizei und Staatsanwaltschaft bekannt werden. Die Prozentzahlen zum Dunkelfeld schwanken je nach Deliktart stark [16]. Insbesondere beim sexuellen Miss brauch von Kindern und Jugendlichen ist von einem hohen Dunkelfeld auszugehen [17].

Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung, die von der Darstellung spektakulärer Fälle geprägt ist, werden die meisten Kinder und Jugendlichen in der Regel nicht Opfer von ihnen unbekannten Personen oder in Institutionen. Die Täter und Täterinnen sind vielmehr im sozialen Nahraum der Betroffenen und dort besonders häufig in der eigenen Familie zu finden. Dieser Befund spiegelt sich sowohl in der PKS als auch in den wenigen wissenschaftlichen Untersuchungen wider, die zu diesem Thema vorliegen.

Mit dem Phänomen sexualisierte Gewalt in Institutionen hat sich die repräsentative Studie des Deutschen Jugendinstituts e. V. (DJI) "Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen" beschäftigt. Der vorliegende Abschlussbericht [18] des Projektes liefert das zurzeit aktuellste Datenmaterial zu diesem Thema. In der DJI-Studie wurden die Schul-, Heim- und Internatsleitung, Vertrauenslehrer und aktuelle sowie ehemalige Schülervertretungen anhand eines standardisierten Fragebogens deutschlandweit in einer repräsentativen Stichprobe befragt.

Die wichtigsten Befunde aus der DJI-Studie werden im Folgenden aufgeführt:

  • Verdachtsfälle sexualisierter Gewalt spielen im Alltag von Schulen, Internaten und Heimen eine Rolle. Sie kommen so häufig vor, dass Kompetenzen und Ressourcen für einen qualifizierten Umgang mit diesen Fällen benötigt werden. Die Belastung der verschiedenen Einrichtungen mit diesem Thema ist jedoch unterschiedlich stark ausgeprägt. In den befragten Bereichen mussten sich Schulen zu 50 Prozent, Internate zu knapp 70 Prozent und Heime zu über 80 Prozent mit Verdachtsfällen auseinandersetzen. Aus Heimen wird im Verhältnis zu Schulen und Internaten über mehr Verdachtsfälle von sexuellen Übergriffen berichtet [19].
  • Allerdings werden Übergriffe durch Personen, die an diesen Institutionen beschäftigt sind, vergleichsweise selten genannt. Sie wiegen jedoch schwer, weil durch sie das Vertrauen der Kinder und der Eltern in die fachliche Fürsorge im Allgemeinen und in die des einzelnen Mitarbeitenden im Besonderen zerstört wird.
  • Sexualisierte Gewalt außerhalb der Institutionen ist der am häufigsten genannte Verdachtsfall.
  • Bei sexualisierter Gewalt durch an der Einrichtung tätige Erwachsene handelt es sich überwiegend um strafrechtlich schwer fassbare Vorwürfe.
  • Bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche außerhalb der Institution, die in der jeweiligen Institution bekannt wurden, entsteht Handlungsbedarf für die Institution.
  • Kinder und Jugendliche suchen aktiv Hilfe und wenden sich an vertraute Erwachsene. Es ist deshalb von besonderer Wichtigkeit, dass Eltern, Lehr und Fachkräfte aufnahmebereit und aufmerksam sind und wissen, wie sie sich in solchen Fällen verhalten sollten.
  • Aufdeckung erfolgt selten direkt. Lehr- und Fachkräfte müssen aufgrund von Andeutungen und / oder auffälligem Verhalten aktiv auf Kinder und Jugendliche zugehen.
  • Informierte Gleichaltrige spielen eine bedeutende Rolle im Aufdeckungsgeschehen. Präventionsprogramme müssen deshalb auch auf sie ausgerichtet werden.
  • Präventionsmaßnahmen stehen hoch im Kurs, sind aber nur mäßig verbreitet.

Im Gegensatz zur DJI-Studie handelt es sich bei der Befragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsens (KFN) um eine Studie [20], die das Dunkelfeld erfasst. Die 2012 veröffentlichte Studie knüpft inhaltlich und thematisch an eine bereits 1992 statt gefundene Erhebung an, so dass sich die Möglichkeit ergibt, zu einzelnen Aspekten vergleichende Aussagen zu treffen und Erkenntnisse über Veränderungen zu gewinnen [21].

Das kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen kommt in seiner Studie zu dem Ergebnis, dass sich die Häufigkeiten sexuellen Missbrauchs je nach Altersschutz grenzen unterschiedlich darstellen. Bei einer Schutzaltersgrenze unter 14 Jahren gaben 5,2 Prozent der weiblichen und 1,1 Prozent der männlichen Befragten an, sexuellen Missbrauch mit Körperkontakt erlebt zu haben. Exhibitionistische Handlungen männlicher Täter haben 4,6 Prozent der weiblichen und 1,3 Prozent der befragten männlichen Personen erlebt. Werden in die Auswertung auch die 14- und 15-Jährigen einbezogen, dann erhöht sich die Quote sowohl für sexuellen Missbrauch mit Körperkontakt als auch für exhibitionistische Handlungen: 6,7 Prozent der weiblichen und 1,4 Prozent der männlichen Befragten haben demnach sexuellen Missbrauch mit Körperkontakt erlebt und 5,5 Prozent der Mädchen sowie 1,5 Prozent der Jungen berichten von Exhibitionismus [22].

Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Befragung lautet, dass im Vergleich zu der Vorläuferstudie aus dem Jahr 1992 ein deutlicher Rückgang des sexuellen Kindesmissbrauchs zu verzeichnen ist [23]. Die Studie zeigt weiter hin, dass sich die Anzeigebereitschaft der von sexuellem Missbrauch Betroffenen deutlich erhöht hat. Somit ist auch erklärbar, war um die rückläufigen Prävalenzzahlen keineswegs im Widerspruch zu dem in der PKS verzeichneten Anstieg sexuellen Missbrauchs und zu einer deutlich erhöhten Wahrnehmung sexualisierter Gewalt in der Öffentlichkeit stehen.

Wie andere Studien, so bestätigt auch die Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsens, dass sexualisierte Gewalt am häufigsten im persönlichen Nahraum der Kinder und Jugendlichen stattfindet: Die häufigste Gruppe von Tätern und Täterinnen beim sexuellen Missbrauch mit Körperkontakt sind männliche Familienangehörige (bei männlichen Betroffenen zu 44,4 Prozent, bei weiblichen Betroffenen zu 49,9 Prozent). Der Großteil der Missbrauchstäter und Missbrauchstäterinnen stammt also aus dem engen Familienkreis. Dies spiegelt sich auch in den Tatorten des sexuellen Missbrauchs mit Körperkontakt wider; hier dominiert der Wohnbereich der Betroffenen [24].

Als weitere Datenquelle für das Ausmaß sexualisierter Gewalt in Deutschland soll an dieser Stelle auf den Abschlussbericht [25] der damaligen Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauch (UBSKM), Dr. Christine Bergmann, verwiesen werden. Die UBSKM richtete eine Anlaufstelle ein, an die sich sowohl Betroffene als auch Kontaktpersonen postalisch oder telefonisch wenden konnten.

Die im Folgenden wichtigsten dargestellten Ergebnisse beziehen sich auf die insgesamt 4.573 Anrufe und Briefe, die inhaltlich auswertbar waren: 63 Prozent der Personen, die Kontakt zur Anlaufstelle aufgenommen haben, waren weiblich. Bei 87 Prozent der berichteten sexualisierter Gewalt lag die Täterschaft bei den Männern, bei sieben Prozent bei den Frauen, bei sechs Prozent wurde sie von beiden Geschlechtern gemeinsam verübt. Insgesamt machten 2.484 Personen Angaben zum Kontext des Missbrauchsgeschehens: Mit 52 Prozent überwogen die Missbrauchsfälle im familiären Umfeld. Am zweithäufigsten wurden mit 32 Prozent Missbrauchsfälle in Institutionen benannt (davon am häufigsten in Einrichtungen der katholischen Kirche, gefolgt von evangelischen Einrichtungen) [26].

Das Ausmaß sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche mit Behinderungen Über das Ausmaß sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche mit Behinderungen liegen aus dem deutschsprachigen Raum keine Daten vor. Es gibt laut AMYNA e. V. (Institut zur Prävention von sexuellem Missbrauch) jedoch viele ernst zu nehmende Hinweise darauf, dass Menschen mit Behinderungen in jedem Lebensalter - auch in ihrer Kindheit - tatsächlich einem deutlich erhöhten Risiko ausgesetzt sind, sexualisierte Gewalt zu erfahren [27].

Seit 2012 liegen erstmals repräsentative Daten über die Lebenssituation, die Belastungen, Diskriminierungen und Gewalterfahrungen in Kindheit und Erwachsenenleben von Frauen mit Behinderungen [28] vor. Durchgeführt wurde diese Studie sowohl in privaten Haushalten als auch in Einrichtungen. Im Wesentlichen besagen die Ergebnisse, dass Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen im Laufe ihres Lebens deutlich häufiger Gewalt erfahren haben als Frauen im Bundesdurchschnitt [29]. Sie berichteten zwei bis dreimal häufiger (21 bis 43 Prozent) von sexualisierter Gewalt als der weibliche Bevölkerungsdurchschnitt (13 Prozent). Auffällig sind hohe Belastungen, insbesondere durch sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend, die sich im Erwachsenenalter fortsetzen. Besonders betroffen sind gehörlose Frauen und Frauen mit psychischen Erkrankungen. Die Täter und Täterinnen kommen überwiegend aus dem unmittelbaren sozialen Nahraum. Dieser schließt im Falle der befragten Gruppe auch die Einrichtungen der Behindertenhilfe ein.

4. Folgen sexualisierter Gewalterfahrung

Sexualisierte Gewalt kann bei Kindern und Jugendlichen traumatische Erfahrungen mit lebenslang wirksamen Folgen auslösen. Ein deutige körperliche oder psychische Folgen von sexualisierter Gewalt gibt es allerdings nicht. Die oft nur schwer zuzuordnenden und für den Laien schwer zu erkennenden Folgen können sich physisch, psychisch und sozial auswirken, ihre mögliche Bandbreite ist sehr hoch. Schlafstörungen, Konzentrationsmangel, Essstörungen, ein Mangel an Selbstwertgefühl, Bindungsunfähigkeit sind nur wenige Beispiele für mögliche Symptome. Sehr häufig sind psychische mit körperlichen und sozialen Störungen kombiniert.

Folgen sexualisierter Gewalt sind abhängig von der Intensität und Dauer der sexuellen Handlungen, den persönlichen Merkmalen der Betroffenen, der Beziehungsqualität zu der missbrauchenden Person, den sozialen Beziehungen und Schutzräumen und -personen des Kindes oder der / des Jugendlichen und davon, wie vertrauensvoll und verlässlich die Beziehung zu den Eltern und / oder anderen Bezugspersonen ist.

Die Schwere der Tat korrespondiert jedoch nicht unbedingt - in Abhängigkeit von der so genannten Resilienz des Opfers - mit der Schwere der Symptome und der möglichen Folgen. Grundsätzlich lässt sich aber feststellen: Je länger sexualisierte Gewalt anhält, je intensiver sie war und je besser das Opfer die missbrauchende Person kannte, umso traumatischer können sich Langzeitfolgen ausbilden.

5. Täter und Täterinnen

5.1 Wie gehen sie vor?

Eindeutige Profile von Tätern und Täterinnen für sexualisierte Gewalt gibt es nicht. Täter und Täterinnen können jeder Berufsgruppe und je dem sozioökonomischen Milieu angehören [30].

Missbrauchende Personen planen in den meisten Fällen ihre Tat und verfügen über eine Vielzahl von Strategien, um sich einem Kind oder Jugendlichen zu nähern und es gefügig zu machen [31]. Für den Opferschutz ist es wichtig, diese Strategien zu kennen beziehungsweise zu erkennen, um frühzeitig intervenieren zu können. Im Folgenden werden hier Strategien von Missbrauchenden beschrieben, die im Grundsatz denen entsprechen, die von Fällen sexualisierter Gewalt gegen Mädchen und Jungen bekannt sind und zur Entwicklung bestimmter Präventionsinhalte geführt haben.

5.2 Strategien bezogen auf das betroffene Mädchen oder den betroffenen Jungen

Gemeinden, Träger und / oder Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, gelten als besondere Schutz und Schonräume für Mädchen und Jungen. Die Förderung und die Unterstützung einer gesunden Entwicklung der jungen Menschen ist ihr oberstes Ziel. Mitarbeitende in pädagogischen und psychosozialen Arbeitsfeldern sind qualifiziert, im Sinne des Kindeswohls in diesen Institutionen tätig zu sein. Realität ist jedoch, dass sich manche Menschen mit vorübergehenden oder dauern den sexuellen Neigungen gegenüber Kindern und Jugendlichen gezielt diese Arbeitsfelder suchen, um Macht auszuüben und Bedürfnisse zu befriedigen.

Entgegen weitläufiger Annahmen ist sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen kein Phänomen, das aus einer unmittelbaren Situation heraus entsteht [32].

Erkenntnisse der Forschung sprechen dafür, dass Täter und Täterinnen in der Regel sehr planvoll vorgehen, wenn sie eine Missbrauchsbeziehung zu Mädchen und Jungen aufbauen. Gegen die sexuelle Selbstbestimmung gerichtete Straftaten geschehen nicht rein zufällig und nie völlig spontan. Eine Institution, in der die Straftat begangen werden soll, wird genauso zielgerichtet ausgewählt wie das potentielle Opfer.

Tatdynamik

>Erkenntnisse aus der Beratungsarbeit und aus der Forschung gehen von verschiedenen Phasen beziehungsweise von einem Tatzyklus aus, der im Kern wie folgt beschrieben werden kann:

In der Planungsphase wählt sich der Täter oder die Täterin ein Mädchen oder einen Jungen aus und entwickelt Strategien, wie das Opfer er reicht werden kann. Ruud Bullens [33] hat dafür den Begriff des "Grooming-Prozesses" geprägt. Das Arbeitsfeld erleichtert den Zugang.

Besonders gute Gelegenheiten der Kontaktaufnahme bieten erfahrungsgemäß Freizeitplätze, institutionalisierte Freizeitangebote ebenso wie institutionalisierte Betreuungsangebote und Bildungseinrichtungen. Täter und Täterinnen nutzen ihre Kontakte zu den Kindern und Jugendlichen zunächst, um Informationen zu sammeln: Wer lebt in einer belasteten familiären Situation? Wer hat einen erhöhten Zuwendungsbedarf? Wer ist in der Gruppe nicht voll integriert? Wem fehlt es an erwachsenen Bezugspersonen?

Ein wichtiger Teil der Strategie der missbrauchenden Person ist die Testphase. Getestet wird das ausgewählte Mädchen oder der Junge auf die Bedürftigkeits- und Widerstandsfähigkeit [34]. Gezielt suchen Täter und Täterinnen bedürftige beziehungsweise widerstandsschwache Mädchen und Jungen aus und versuchen deren Wahrnehmung zu "vernebeln". Häufig stammen diese Kinder oder Jugendlichen aus Verhältnissen, in denen es wenig emotionale, zeitliche und unter Umständen auch materielle Unterstützungsmöglichkeiten gibt. Schritt für Schritt betten sie sexuelle Grenzüberschreitungen in alltägliche Arbeitsabläufe ein (zum Beispiel Pflege, Hilfestellungen im Sport) und etikettieren diese Verletzungen der persönlichen Integrität der Opfer anschließend als normal [35].

Selbstbewusste und aufgeklärte Mädchen und Jungen reagieren auf solche Testrituale meist mit Protest, Abwehr und zukünftiger Distanz. Trotzdem schützt es sie nicht hundertprozentig vor sexualisierter Gewalt. Leichter zu manipulieren sind demgegenüber aber Kinder oder Jugendliche, die bislang nur unzureichende Hilfestellung bei der Bewältigung kinder- und jugendtypischer Entwicklungsaufgaben erhalten und / oder einen Mangel an Zuwendung und Anerkennung erfahren haben [36].

Durch systematisch eingesetzte Zuwendungen und Aufmerksamkeiten binden die Täter und Täterinnen die Mädchen und Jungen an sich und initiieren Abhängigkeiten. Die Opfer haben oft das Gefühl, besonders beachtet und wichtig zu sein. Es entsteht somit ein besonderes "Vertrauensverhältnis" zwischen den Tätern beziehungsweise Täterinnen und ihren Opfern.

Die Opfer werden in ein Gefühl von Schuldigkeit eingebunden. Wenn der Täter oder die Täterin die Straftat begeht, wird das Verhalten des Kindes oder Jugendlichen dahingehend umgedeutet, dass dieses die Verantwortung für die Tat hat. Das Opfer wird für das Geschehene "mitschuldig" gemacht, was es zum Schweigen bringen kann. Es gibt wohl keinen stärkeren Motor, der das Opfer zum Schweigen bringt, als das Gefühl der Mitschuld, des Verantwortlichseins für das Geschehen. Gefühle der Scham und der Schuld verhindern, dass es sich zum Beispiel seinen Eltern anvertraut.

Täter und Täterinnen aus Einrichtungen oder Gemeinden kennen den Tagesablauf von Mädchen und Jungen sehr genau. Es kostet sie keine besondere Mühe, einen Tatort und einen Zeitpunkt zu wählen, an oder zu dem sie unbeobachtet ein Kind oder Jugendlichen missbrauchen können. Oftmals unterlaufen sie Absprachen von festen Tagesabläufen und verändern in einzelnen Fällen sogar örtliche Gegebenheiten (zum Beispiel Umbau von Türschlössern, Einbau von Verdunklungsmöglichkeiten). Auch schaffen sie Gelegenheiten, um mit den Kindern oder Jugendlichen regelmäßig alleine zu sein. Sie bieten zum Beispiel Kolleginnen und Kollegen an, entgegen den Vorschriften Dienste alleine zu übernehmen ("Du kannst doch schon früher Feierabend machen.") oder laden die ihnen anvertrauten Mädchen und Jungen zu sich nach Hause ein [37].

Ein Merkmal taucht bei fast allen Tätern und Täterinnen auf: Sie schüchtern ihre Opfer ein und üben Druck auf sie aus. Sie drohen zum Beispiel mit Liebesentzug oder der Zerstörung der Familie. Die Wahrnehmung der Betroffenen wird zunehmend manipuliert. Abwertungen oder Bevorzugungen sind zum Beispiel probate Mittel, die Kinder oder Jugendlichen einzuschüchtern. Ebenso "erfolgreich" ist es, Intrigen zwischen ihren Opfern und deren Eltern beziehungsweise den anderen Mitarbeitenden der Einrichtung zu säen.

5.3 Strategien bezogen auf das berufliche und familiäre Umfeld

Missbrauchende Mitarbeitende wägen das Risiko genau ab, ob das von ihnen geplante Verbrechen innerhalb der Einrichtungen oder Gemeinden erkannt und benannt werden könnte. Sie bereiten den sexuellen Missbrauch systematisch vor: Als "Künstler der Manipulation" haben Täter und Täterinnen die Fähigkeit entwickelt, Menschen täuschen zu können [38].

Diese Fähigkeit nutzen sie nicht nur im Kontakt mit dem Opfer, sondern auch im Kontakt mit Kolleginnen, Kollegen, Müttern und Vätern und den übrigen ihnen anvertrauten Mädchen und Jungen.

Sie nutzen ihre Machtposition als professionell Helfende und ihre Kenntnis institutioneller Strukturen, um gezielt die Wahrnehmung der Umwelt zu vernebeln. Diese Strategien können sehr unterschiedlich sein. Das Bemühen geht dahin, sich unentbehrlich zu machen und / oder möglichst unauffällig zu bleiben. In jedem Fall ist ein guter Kontakt für den Täter oder die Täterin zur Leitung der Organisation von großer Bedeutung und häufig festzustellen.

Wenn Kontakt zu den Eltern der Kinder oder Jugendlichen besteht, sorgen die Täter und Täterinnen in der Regel auch in diesem Kontext dafür, dass Verdachtsmomente von vorn herein entkräftet werden.

Als hilfreicher Ansprechpartner oder hilfreiche Ansprechpartnerin für Fragen und Nöte der Eltern erarbeiten sie sich deren Anerkennung, indem sie ihnen gegenüber besonders viel Verständnis für ihre Anliegen entgegenbringen. Je nach Situation bieten Täter und Täterinnen ihre Hilfe auch in privaten Dingen an, die sie dann in ihrer arbeitsfreien Zeit leisten. Durch falsche Informationen über das Opfer (zum Beispiel die Behauptung, das Kind habe Probleme in der Gruppe und sei deshalb gegenwärtig sehr verschlossen) wird dem vorgebeugt, dass familiäre Bezugspersonen bei eventuellen Auffälligkeiten des Kindes das Verhalten der Täter oder der Täterin genau hinterfragen [39] und diese als potentielle Ursache überhaupt in Betracht ziehen.

6. Risikofaktoren in Institutionen

Neben den bereits beschriebenen, in den Personen angelegten Gefährdungsrisiken können auch bestimmte Strukturen dazu beitragen, dass Taten unbeobachtet bleiben und letztlich nicht aufgedeckt werden. Es sind sowohl Führungsstrukturen als auch Organisationsformen, in denen Machtverhältnisse ausgenutzt werden können.

Die Fachwelt geht inzwischen von einer "Täter-Opfer-Dynamik bei Übergriffen in Institutionen" [40] aus, da sich Ursachen als schwierige Gemengelage in Systemen und sogenannten "Soziokulturen" darstellen. Es wird davon ausgegangen, dass es sich bei sexualisierter Gewalt nie um ein singuläres Geschehen handelt, das sich lediglich zwischen missbrauchender Person und Opfer abspielt. Vielmehr gibt es nicht nur "Täter und Opfer", weil ein komplexes Beziehungsgeflecht es auch für Dritte nahezu unmöglich macht, bei solchen Vorgängen unbeteiligt zu sein. Die Entstehung von Gewalt hängt mit der Soziokultur in einer Einrichtung oder Gemeinde zusammen, die Risiko und Schutzfaktoren aufweisen kann [41].

Tatbegünstigende Strukturen sind solche, in denen die potentiellen Täter und Täterinnen nicht auffallen. Sowohl eher autoritär geführte Institutionen als auch Institutionen, die durch eine Kultur des Laissezfaire gekennzeichnet sind, weisen diese täterbegünstigenden Strukturen auf.

Autoritär strukturierte Einrichtungen sind hierarchisch organisiert und lassen wenig oder keine Kritik zu. Haben diese Einrichtungen viel mit Macht beziehungsweise Konkurrenz kämpfen zu tun und werden Kollegen oder Kolleginnen oft gemobbt, kann keine vertrauensvolle Atmosphäre entstehen, in der offen über Grenzsituationen gesprochen wird. Die Folge ist, dass Aufdeckung verhindert wird [42]. Das Entstehen von Seilschaften wird erleichtert.

In Institutionen, die durch eine Kultur des Laissezfaire gekennzeichnet sind, wird oft ohne Kontrolle, Strukturen und klare Aufgabenverteilung gehandelt. Wenn es jedoch keine klaren Zuständigkeiten und Verantwortungsverteilung gibt, kann es zum Beispiel kein Krisenmanagement geben. Es herrscht wenig Transparenz in Hinsicht auf die Handlungsabläufe der Mitarbeitenden, so dass unprofessionelles und übergriffiges Agieren nicht auffällt oder unerkannt bleibt [43].

Neben den unterschiedlichen Führungsstilen lassen sich Institutionen auch unter dem Gesichtspunkt betrachten, ob es sich dabei eher um ein sogenanntes geschlossenes oder ein offenes System handelt. Mit Blick auf diese Unterteilung lassen sich noch weitere Aspekte beschreiben, die sexuell übergriffiges Verhalten begünstigen können.

In den sogenannten "geschlossenen Systemen" (Internaten, Heimen) werden Kinder und Jugendliche in einem separierten Umfeld betreut. Für Außenstehende ist das pädagogische Handeln der Mitarbeitenden nur schwer einseh- und kontrollierbar. Kindern und Jugendlichen fällt es oft schwer, eine kritische Distanz zu ihrer institutionellen Lebenswelt zu entwickeln und Fehlentwicklungen zu melden. In solchen Einrichtungen kommt es nicht selten dazu, dass mehrere Täter und Täterinnen gleichzeitig agieren sowie missbrauchen und es dadurch zu einer für die Betroffenen irritierenden "Vernebelung" der Normen und Werte kommt [44].

Ein erhöhtes Risiko besteht auch in sogenannten "offenen unstrukturierten Systemen". Hier arbeiten viele Hauptamtliche oder ehren amtlich Engagierte mit und ohne berufliche Qualifikationen beziehungsweise mit sehr unterschiedlichen Qualifikationen zu unterschiedlichen Zeiten. Das macht die Arbeit schwer kontrollierbar [45].

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Strukturen mitverantwortlich sind für das Klima und die Kultur, die in Institutionen herrschen und die das Handeln von Tätern und Täterinnen erleichtern oder unbeabsichtigt unterstützen. Klima und Kultur einer Einrichtung sind im Übrigen auch Voraussetzung dafür, welche pädagogischen Interventionen gewählt werden und wie sich professionelle Beziehungen zu den Kindern und Jugendlichen gestalten [46]. So sind es vor allem Transparenz und offene Kommunikation, die Orte der Achtsamkeit schaffen und risikogefährdenden Strukturen entgegenwirken.

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