Auf Grenzen achten - Sicheren Ort geben
Prävention und Intervention. Arbeitshilfe für Kirche und Diakonie bei sexualisierter Gewalt
Teil 1: Sexualentwicklung und der Umgang mit Nähe und Distanz
II. Sexualentwicklung und der Umgang mit Nähe und Distanz
1. Sexualentwicklung von Kindern und Jugendlichen als Teil ihrer psychosozialen Entwicklung
Diese Kurzdarstellung der psychosozialen Entwicklung eines Menschen soll grundlegende Kenntnisse der Sexualentwicklung von Kindern und Jugendlichen vermitteln. Ein Wissen darum und die Auseinandersetzung mit eigenen Reaktionen und Empfindungen kann gerade im Kontext von Prävention und Intervention gegen sexualisierte Gewalt sinnvoll und hilfreich sein. Ein Beispiel dazu: die sogenannten „Doktorspiele“ gehören in die Kindergartenzeit. Diese Experimentierspiele dienen den Kindern dazu, sich gegenseitig zu erkunden.
Erleben Kinder von vertrauenswürdigen Eltern, Erzieherinnen und Erziehern im geschützten Rahmen und in Anerkennung ihrer kindlichen Sexualität eine wohlwollende Zustimmung ihrer körperlichen Neuentdeckungen, entwickelt sich das die Persönlichkeit stabilisierende Gefühl, selber Initiative ergreifen zu können.
Treffen Kinder in dieser Entwicklungsphase auf verbietende und / oder entwertende Bezugspersonen, entwickelt das Kind eher Schuldgefühle als ein prägendes Identitätsgefühl. Dies wiederum erleichtert möglichen Tätern und Täterinnen den Zugang zum Kind: mit Schuldgefühlen beladene Kinder sind in der Regel wenig selbstbewusst.
Die Kenntnis der Entwicklungsphasen unterstützt die Prävention und Intervention bei sexualisierter Gewalt also in zweifacher Hinsicht:
- Sie unterstützt eine kindgerechte sexualfreundliche Haltung der Bezugspersonen da, wo sie dem Alter der Kinder entspricht und wirkt damit präventiv.
- Sie erkennt schneller die dem Alter und der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen unangemessenen sexuellen Verhaltensweisen und ermöglicht damit die frühzeitige Intervention.
Phasen der natürlichen Sexualentwicklung eines Kindes und Jugendlichen [47]
„Sexuelle Gesundheit ist die Erfahrung eines fortlaufenden Prozesses körperlichen, seelischen und soziokulturellen Wohlbefindens in Bezug auf Sexualität.“ [48] Dabei entfalten sich die unterschiedlichen Aspekte von Sexualität wie Identitätsentwicklung, Beziehung, Lust, Zärtlichkeit, Freude an der Körperlichkeit, Leidenschaft, Erotik zu unterschiedlichen Zeiten. Für den professionellen Umgang mit dem Thema kindliche Sexualität ist es bedeutsam, dass sich diese erheblich von der Erwachsenensexualität unterscheidet.
So ist die Sexualentwicklung als wichtiger Baustein der Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen gekennzeichnet durch Phasen, die ein Kind in seinem Entwicklungsprozess zum Erwachsenen erlebt.
Der Psychoanalytiker Sigmund Freud beschrieb diese Phasen in einem ersten psychosexuellen Entwicklungsmodell [49]. Erik H. Erikson erweiterte dieses Modell zu einem „Stufenmodell psychosozialer Entwicklung“, indem er die Entwicklung des Menschen von der Geburt bis zum Tod in acht Phasen einteilt. In dem Kontext der Sexualentwicklung von Kindern und Jugendlichen sind nur die ersten fünf Phasen von Interesse. Den Kern von Eriksons Modell bildet die Entfaltung von Ich–Identität im Verlauf des Lebens (siehe Identitätssätze). Die Sexualentwicklung bettet sich hierin ein.
1. Lebensjahr: Orale Phase
Identitätssatz: „Ich bin, was man mir gibt.“ – Vertrauen versus Misstrauen
Schon in der schützenden Gebärmutter, wo während der Schwangerschaft alle Bedürfnisse per se erfüllt werden, beginnt das Leben als Sinneswahrnehmung. Lustvolle sinnliche Wahrnehmungen werden als angenehm erlebt und wiederholt.
Von der ersten Lebensminute an ist der Mund für den Säugling das lustvoll erlebte Organ – sein erstes Tor zur Welt. Saugend befriedigt der Säugling sein elementares Hungerbedürfnis, Nuckeln und Lutschen werden zur Lieblingsbeschäftigung. Über die Haut als weiteres wichtiges Sinnesorgan nimmt der Säugling beim Wickeln, Baden, Streicheln liebevoller Eltern / Bezugspersonen Kontakt mit seiner Umwelt auf und erfährt lustvolle Befriedigung.
Bindung und Urvertrauen entstehen in dem Maße, wie Säuglinge eine feinfühlige reaktionsfähige Bezugsperson erleben, die bereit ist, sich auf die körperlichen und emotionalen Bedürfnisse des Kindes einzustellen und diese zu befriedigen. Wenn sie dazu in der Lage ist, die Signale des Kindes wahrzunehmen, zu deuten und angemessen zu beantworten, wächst das Kind angstfrei in Übereinstimmung mit seinen existentiellen Empfindungen auf.
2. – 3. Lebensjahr: Anale Phase
Identitätssatz: „Ich bin, was ich will“ – Autonomie versus Scham und Zweifel
Kinder erleben in dieser Phase zuerst bei der Ausscheidung, später auch beim Zurückhalten ihrer Ausscheidungen, Lustgefühle in einer neuen Körperregion, daher die Bezeichnung „anale Phase“. Die gesamte motorische Körperentwicklung gibt dem Kind neue Möglichkeiten: Durch den Erwerb des Laufens kann es erstmals „selbstbestimmt“ von der Bezugsperson weglaufen [50]. Entscheidend für eine förderliche Entwicklung ist hierbei erstens, ob die Bezugsperson diese neue Autonomie ertragen, vom eigenen Bedürfnis nach kindlicher Anhänglichkeit absehen kann und das Kind ohne Strafe wieder aufnimmt, wenn es zurückkehrt. Zweitens fällt es den Erwachsenen schwer, die Sphäre der Ausscheidungen, die wir mit Schmutz und Geruch assoziieren, mit Lust in Verbindung zu bringen und dem Kind diese Erlebnisqualität zu gewähren. Stehen zu Beginn eher zufällige Erkundungen der Geschlechtsteile, so fassen die Kinder jetzt zunehmend zielgerichtet an ihre Genitalien – sie spielen mit sich und erleben eine lustvolle Erregung.
Es kommen darüber hinaus emotionale Fortschritte zum Tragen, so dass sich das Kind als Inhaber von Willen erleben kann. Es hat jetzt die Sprache zur Verfügung, um „ich“, „nein“ und „will alleine!“ sagen zu können. Dabei ist es noch ungeübt und plötzlich einsetzenden, heftigen Impulsen ausgeliefert, etwas zu wollen oder gerade nicht zu wollen, die häufig ohne praktischen Nutzen und Logik zu sein scheinen.
Es gilt der Satz: „Ich bin, was ich will!“ (Trotzalter). Hier bedarf es der Bezugspersonen, die das Kind in seinem Bedarf nach Übung und Anleitung sehen können, mit Geduld und Klarheit hilfreich sind, das Beharren auf eigenem Willen als wertvollen Entwicklungsschritt für die Zukunft des Kindes begrüßen können. Wiederum sind es die eigenen Bedürfnisse des Erwachsenen – oftmals nach einem fügsamen und umgänglichen Kind – und dessen Neigung, die ständigen Widerworte als kränkend und kraftraubend zu erleben, die eine unterstützende Haltung durchaus schwer machen können.
Ein Kind geht gestärkt aus dieser „Entdeckungszeit“ hervor, wenn sich Autonomie stärker als Scham und Zweifel entwickeln konnte.
3. – 6. Lebensjahr: Phallische Phase
Identitätssatz: „Ich bin, was ich mir zu werden vorstellen kann“ – Initiative versus Schuldgefühl
Die eigene Identität wird in dieser Phase in körperlicher und sozialer Hinsicht geschlechtlich ausgeprägt, das heißt, die Erkenntnis, entweder ein Mädchen oder ein Junge zu sein, bildet sich heraus. Experimentierspiele, die dem kindlichen Erkunden der unterschiedlich ausgebildeten Körper dienen, gehören in diese Phase: „Wie sehen die anderen Kinder nackt aus? Wie ist das Geschlecht geformt, wie fühlt es sich an, wenn ich es berühre? Was machen die anderen Kinder auf der Toilette?“ Alles dies sind vor allem von der Neugierde angetriebene Erkundungen, die die Kinder außerordentlich spannend finden. Psychosexuell und psychosozial sind die Kinder damit befasst, sich mit den Geschlechtsrollen auseinander zu setzen. Sie bemerken, dass sie verschieden gebaut sind und dass sie in Zukunft so sein werden (müssen) wie Mütter oder Väter. Sie versuchen diese Rollen spielerisch einzuüben.
Moralische Normen und Werte entwickeln sich. Kinder wissen zunehmend, was sie dürfen und was sie nicht dürfen. Mit Zuwachs von Selbstständigkeit und Eigeninitiative lernt das Kind auch Schuldgefühle kennen.
Die Genitalien werden als Quelle selbstbestimmter Lust entdeckt. Mädchen und Jungen stimulieren sich selbst, um sich zu spüren und zu erregen. Diese Selbstberührung ist noch frei von Schamgrenzen, geschieht also auch in der Öffentlichkeit [51].
Für Erwachsene kann es ziemlich schwierig sein, von den eigenen anerzogenen und für ihre erwachsenen Handlungen geltenden Schamgrenzen abzusehen, zu entscheiden, wie sie angemessen auf die Aktionen des Kindes reagieren können. Die teils heftige Sinnlichkeit und aktiv gelebte Autoerotik der Kinder verlangt eine Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualmoral, erfordert das Verfügen über Begrifflichkeiten und die Bereitschaft, sie im Gespräch mit den Kindern auch auszusprechen.
Wenn Kinder von in diesem Sinne reflektierten, fördernden Erwachsenen erleben, dass ihre sexuelle Entwicklung mit ihren Neuentdeckungen auf Freude und Zustimmung treffen, lernen sie ihre eigenen Lustquellen zu genießen. Gelingt dies, prägt nicht Schuldgefühl, sondern die Initiative zum Entdecken der Welt und des eigenen Körpers die kindliche Entwicklung.
6. Lebensjahr – Pubertät: Latenzphase
Identitätssatz: „Ich bin, was ich lerne“ – Werksinn [52] versus Minderwertigkeitsgefühl
„Die Ruhe vor dem Sturm“ – so wurde sie lange bezeichnet, diese ruhige Phase psychosexueller Entwicklung. Nun liegt der Schwerpunkt mit Freude zu lernen und schöpferisch tätig zu sein. Die enge Beziehung zu den Eltern wird langsam offener, auch andere Beziehungen werden wichtig. Lehrerinnen und Lehrer werden idealisiert und „angehimmelt“. Die Geschlechtszugehörigkeit – es bilden sich erste kleine Cliquen – steht im Vordergrund, um im „Sich – Vergleichen – mit – anderen“ die eigene Geschlechtsidentität zu festigen. Vielfach finden Mädchen die Jungen „doof“ und umgekehrt. Gegen Ende der Grundschulzeit nähert man sich mit Neckereien und Provokationen wieder an.
Neben ihrer Lernfreude haben die Kinder einen hohen Bewegungsbedarf. Sie genießen die Lust an Bewegung und lernen ihren Körper dadurch spielerisch kennen. Sportliche Erfolgserlebnisse wirken hier stärkend. Neben dem Drang zum Spielen entwickelt das Kind einen Werksinn, das heißt es ist ihm wichtig, etwas zu leisten. Der Wunsch, etwas Nützliches zu leisten, ist in dem Bedürfnis begründet, zumindest partiell an der Welt der Erwachsenen teilnehmen zu können. Die Kinder werden sicherer im Umgang mit dem eigenen Körper und entwickeln Schamgefühle. Das Selbstbewusstsein der Kinder wird gestärkt, wenn die Erwachsenen diese Distanzwünsche anerkennen.
Erlebt das Kind zudem mit vielen körperlichen und geistigen Erfolgserlebnissen diese Latenzzeit, hat es eine wirksame Methode entwickelt, um mit Minderwertigkeitsgefühlen umzugehen.
Pubertät – 20. Lebensjahr: Genitale Phase
Identitätssatz: „Ich bin Ich“ – Identität versus Identitätsdiffusion
Mit dem Eintritt in die Pubertät (ungefähr mit elf Jahren) beginnt quasi eine neue Zeit: Nichts ist mehr wie es war, die behütete Kinderzeit ist vorbei, aber zu den Erwachsenen zählen die Jugendlichen auch noch nicht. Mit der rasanten körperlichen Entwicklung entsteht immer deutlicher die Frage nach dem eigenen Sein: „Wer bin ich?“
Mädchen und Jungen unterliegen großen hormonellen Veränderungen. Mädchen erleben ihre erste Menstruation, Jungen ihren ersten Samenerguss – beides Zeichen einer gesunden Entwicklung zur jungen Frau beziehungsweise zum jungen Mann. Die kindliche und bisher auf sich selbst bezogene Sexualität sucht ein Gegenüber und wendet sich diesem gedanklich immer mehr zu. Jungen suchen die Sicherheit zunächst in geschlechtshomogenen Cliquen, Mädchen in emotional starken Freundschaften. Sexuelle Phantasien entwickeln sich, zunächst werden sie verbal in den stabilen Beziehungen ausgetauscht. Im Anschluss daran kommt es zu ersten sexuellen Kontakten und zu ersten Liebesbeziehungen.
Heftige Schwankungen in ihrem Erleben von Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein bestimmen die Jugendlichen häufig in ihrem Alltag. Die Ablösung von den Eltern ist nicht leicht zu bewältigen. Wichtig ist hier eine Peergroup, die versteht, ohne viel zu reden. Sie gibt Rückhalt. Wertvorstellungen und Ideale werden dort verhandelt, gelebt und ausgetauscht. Die Schere körperlicher und psychischer Reifung klafft zunehmend auseinander. Pubertät wird meist krisenhaft erlebt.
Anfällig sind Jugendliche in dieser Phase psychosexueller Entwicklung für Störungen wie Süchte, Depressionen, Essstörungen, narzisstische Größenideen, die hier stellvertretend genannt werden sollen. Setzt man diese Störungsbilder in Bezug zu gelungenen oder nicht gelungenen Phasen psychosexueller Entwicklung, wird ihr Entstehen verstehbar.
Gelungene Schritte im Prozess der psychosozialen Entwicklung beantworten jedoch die Frage: „Wer bin ich?“ mit: „Ich bin ICH.“ Mit zunehmender Sicherheit in der eigenen Identität werden in der Adoleszenz Partnerschaften eingegangen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Kinder Wohlbefinden erleben in einer gesunden psychosexuellen Entwicklung, die im liebevollen und geschützten Kontext stattfindet und positiv von Bezugspersonen, in der Regel den Eltern, verstanden und begleitet wird. Wir sprechen von einer für Kinder und Jugendliche notwendigen sexualfreundlichen Haltung.
2. Professioneller Umgang mit Nähe und Distanz
Pädagogische Arbeit, ob in Kirchengemeinden, der Kindertagesstätten, der Jugendarbeit, den Eingliederungs- oder Erziehungshilfen, ist immer (auch) Beziehungsarbeit [53]. Der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses ist ein elementarer Bestandteil der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen [54]. Gelungene Beziehungen und Vertrauen zwischen Kindern und Pädagoginnen beziehungsweise Pädagogen bilden die Grundvoraussetzung für gelingende Entwicklungsprozesse der Kinder. Dabei müssen sich die Fachkräfte allerdings dessen bewusst sein, dass diese entstehenden Beziehungen in zweierlei Hinsicht Besonderheiten aufweisen: zum einen besteht rein räumlich eine körperliche Nähe zwischen Erwachsenen und Minderjährigen; zum anderen entstehen diese Beziehungen im Rahmen eines professionellen Kontextes, in dem die Kinder ihre Bezugspersonen in der Regel nicht frei auswählen können und dem Kontakt mit diesen nur sehr begrenzt ausweichen können.
Eine zentrale Anforderung an das pädagogische Personal ist, Nähe zu Kindern zuzulassen, Kindern Vertrauen entgegen zu bringen, Beziehungen aufzubauen und als Person authentisch zu sein. Der Umgang mit körperlicher Nähe ist dabei ein Bestandteil professioneller Beziehungsarbeit. Bewegungs- und Sportspiele, Trösten bei Schmerz und Umarmungen bei Freude bilden im alltäglichen Umgang eine Einheit. Das vertrauensvolle Beziehungsverhältnis einschließlich körperlicher Nähe respektiert die kindliche Individualität und ist in Abhängigkeit von Alter, Entwicklungsstand, biografischem und kulturellem Hintergrund unterschiedlich zu gestalten. Je jünger die Kinder, desto zentraler ist der direkte körperliche Kontakt zwischen Kind und Pädagoginnen beziehungsweise Pädagogen: Wickeln, Säubern, Verarzten sind pflegerische Notwendigkeiten. Streicheln, an die Hand nehmen, sich auf den Schoß setzen, sind emotionale Grundbedürfnisse der Kinder. Deutlich wird dies auch in der Eingliederungshilfe, wo körperbehinderte Jugendliche und Erwachsene dauerhaft Hilfe bei täglichen Verrichtungen brauchen. Es können gerade diese körperlichen Kontakte sein, die den Menschen die Orientierung in ihrer Umwelt ermöglichen. Andererseits besteht Professionalität wesentlich auch darin, ein zu starkes Nähebedürfnis von Kindern und Jugendlichen zu erkennen (zum Beispiel von „Schmusekindern“ oder Verliebtheit in die Erziehungsperson) und gegenüber diesem Verhalten Grenzen zu setzen.
Ohne körperliche Nähe ist pädagogische Arbeit undenkbar, ohne sie würden kleine Kinder schweren Schaden nehmen. Dabei ist auch die Sexualentwicklung ab der Geburt als wesentlicher Teil der menschlichen Entwicklung im Alltag und in Trägerkonzepten zu (be-)achten und wertzuschätzen [55].
Gerade diese zentralen Anforderungen machen pädagogische Arbeitsfelder für Täter und Täterinnen attraktiv. Die zentrale, zum Teil als widersprüchlich empfundene Herausforderung besteht darin, einerseits die beschriebene körperlich notwendige Nähe nicht in Frage zu stellen und sie nicht aufgrund von Ängsten und Unsicherheiten einzuschränken. Andererseits sollen Maßnahmen ergriffen werden, die Tätern und Täterinnen ein sexualisiertes, gewalttätiges Handeln im Arbeitsfeld erschweren.
Hierbei gibt es zwei elementare Regeln zur Orientierung:
- Körperliche Nähe in professionellen Beziehungen, insbesondere zwischen Erwachsenen und Minderjährigen, darf nicht zur Befriedigung eigener körperlicher und emotionaler Bedürfnisse genutzt werden [56]. Deshalb sind die Grenzen der körperlichen Nähe konkret zum Beispiel im Sexualpädagogischen Konzept zu benennen (zum Beispiel sind Zungenküsse, Stimulation der Geschlechtsorgane tabu).
- Die professionelle Beziehung unterscheidet sich zudem von der (elterlichen) privaten Beziehung durch engere Grenzen körperlicher Nähe (zum Beispiel sind Küsse auf den Mund, Nacktheit der erwachsenen Person und Schmusen nicht angemessen).
Darüber hinaus ist eine professionelle Beziehungsarbeit im Unterschied zum Privaten durch die Aspekte Zeit (1), Aufgabe (2) und Interesse (3) gekennzeichnet [57]. In diesem Zusammenhang wird auch von der „professionellen Rolle“ gesprochen.
- Die Beziehung zwischen Kind, Pädagoginnen und Pädagogen endet mit dem Ende der Betreuung, dem Ende der Beratung ;oder dem Ende der Teilnahme am Angebot. Über diese Zeit im Ausnahmefall hinausgehende Kontakte sind in der Institution transparent zu gestalten, zu begründen und zu thematisieren.
- Professionelle Beziehungen finden im Rahmen der jeweiligen Aufgabe statt. Die jeweilige Aufgabe muss klar definiert sein. Auch hier gilt: Finden, auch im Ausnahmefall, Kontakte außerhalb der eigentlichen Aufgaben statt, sind diese transparent zu gestalten, zu begründen und abzustimmen.
- Mit dem Interessenaspekt ist gemeint, dass die Fachkräfte sich in professionellen Beziehungen zu Kindern weder von eigenen Bedürfnissen noch persönlichen Interessen leiten lassen. Authentisch sein bedeutet zwar, seine Persönlichkeit einzubringen. Es bedeutet aber nicht, seine eigenen Interessen in der Arbeit zu verfolgen. Pädagoginnen und Pädagogen treten mit den Kindern nicht in eine Art „Austauschverhältnis“ im Sinne von „Vertrauen gegen Vertrauen“, „Leistung gegen Gegenleistung“.
Als Grenzüberschreitung von körperlicher Nähe hin zu sexualisierter Gewalt verstandene Verhaltensweisen sind im sexualpädagogischen Konzept klar zu benennen. Übertretungen werden arbeitsrechtlich und strafrechtlich verfolgt [58]. Die Grenzen professioneller Beziehungen müssen bewusst sein und thematisiert werden. Demnach ist sexualisierte Gewalt nicht Folge fehlender Nähe-Distanz-Regulation, sondern Folge fehlender Achtung von Grenzen und Ausdruck des Vertrauens- und Machtmissbrauchs durch Professionelle [59].
Der angemessene professionelle Umgang mit Grenzziehungen und der professionellen Rolle als Ergebnis eines gründlichen Lern- und ständigen Reflexionsprozesses ist konsequent anzustreben:
- Die Ausbildung legt den Grundstein für die Wahrnehmung des Gegenübers und Sensibilität für die körperlichen Abgrenzungsbedürfnisse anderer Personen. Sie vermittelt, dass auf der meist nonverbalen Beziehungs- und Kommunikationsebene wichtige Aspekte von Respekt für das Gegenüber verwirklicht oder eben auch missachtet werden können. Einrichtungen, die Praktikantinnen und Praktikanten oder Studierende im Praxissemester bei sich aufnehmen und damit an deren Ausbildungsprozess teilhaben, kommt eine Vorbildfunktion zu. Insoweit haben Mitarbeitende die Aufgabe, den Auszubildenden Achtsamkeit in den Arbeitsabläufen vorzuleben und zu vermitteln.
- Fortbildungen bieten Gelegenheit, das bereits erreichte Niveau der Achtsamkeitskultur zu festigen und weiter auszubauen. Regelmäßige Einzel- und Gruppensupervision bietet zudem einen Rahmen, das eigene Verhalten zu reflektieren.
- Die Arbeitsteams besprechen für ihr konkretes Arbeitsumfeld den Umgang mit körperlicher Nähe. Dabei werden sich die Teammitglieder darüber klar, welche Arbeitsvorgänge fachlich betrachtet besondere (gegebenenfalls sogar intime) Nähe mit sich bringen. Sie erörtern, ob sich daraus ambivalente Situationen entwickeln können und wie man mit solchen umgeht. Zum Beispiel: Wie bespricht man diese Vorgänge mit dem Gegenüber und gibt diesem die Möglichkeit, seine beziehungsweise ihre Grenzen klarzumachen? In welchem Rahmen und wie verarbeitet man problematische Situationen, die sich nicht immer ausschließen lassen? Für neu eingestellte Mitarbeitende ist die Einbeziehung in diese Verständigungen unverzichtbarer Teil ihrer Einarbeitung, für den die dienstälteren Mitarbeitenden verantwortlich sind.
- Die Einrichtung verankert das Bekenntnis zu einer Kultur der Achtsamkeit in ihrem Leitbild. Zu dessen Umsetzung achtet sie darauf, dass dieses Bekenntnis Bestandteil der Einarbeitungsprozesse ist. Sie bietet entsprechende Fortbildungen an und lässt bei der Arbeitseinteilung Raum für die team- oder einzelpersonenbezogenen Reflexionsprozesse.