Maria als Brückenbauerin in der Ökumene
Wittenberger Ausstellung zeigt „Maria zwischen den Konfessionen“
Man kann es etwas überspitzen und sagen: Maria ist in. Die Gottesmutter, Maria von Nazareth, eine jüdische Frau aus Galiläa an der Zeitenwende, ist in der Kirche und Theologie viel präsenter als noch vor ein paar Jahren. Da gibt es einen Frauenstreik in der katholischen Kirche, der sich „Maria 2.0“ nennt. Da finden sich vor allem evangelische Theologinnen, die Maria feministisch und innovativ deuten. Und da ist eine ganz erstaunliche Ausstellung in Wittenberg, die – das sei schon vorweg genommen – allen nur zu empfehlen sei: „Verehrt. Geliebt. Vergessen. Maria zwischen den Konfessionen“.
Ausgerechnet im Augusteum, dem reformationsgeschichtlichen Museum gleich neben dem Lutherhaus, dem Wohnhaus des Reformators über viele Jahre, präsentiert die Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt so kurz nach dem großen Reformationsjubiläum vor zwei Jahren eine spektakuläre und schlicht schöne Ausstellung. Es ist eine Schau, die noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar gewesen wäre. Sie kreist um die Frage: Was sagte die Figur Maria den Katholiken und den Protestanten zur Zeit der Reformation – und was bedeutet dies für uns heute? Dabei ist die Ausstellung selbst eine Art Brücke zu der Erkenntnis: Maria wurde von beiden Konfessionen genutzt, ja missbraucht zur Abgrenzung von der anderen.
Maria als „Himmelskönigin“
Die katholische Seite betont bis in unsere Tage hinein ihre traditionelle Marienfrömmigkeit, um sich von den abtrünnigen Protestanten leichter distanzieren zu können, ja sie als irgendwie nicht gläubig genug diskreditieren zu können. Die evangelische Seite dagegen unterstrich die absurden Seiten der katholischen Liebe zu Maria, um zu unterstellen, dass sie den Glauben an Christus zu oft überlagerten, ja dies am Ende an Aberglaube grenze. So wurde Maria zur Kampffigur, zum Marker, zum Graben, einer konfessionellen Gretchenfrage ähnlich: Wie hältst Du’s mit Maria?
Wie die Figur Maria zu einer Spalterin der Christenheit werden konnte, das beschreibt die Ausstellung, und dabei fängt sie, durchaus sinnvoll, von vorne an. Im oberen Stockwerk der zweigliedrigen Schau wird die Marienfrömmigkeit im deutschen Raum an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert gezeigt, also am Vorabend der Reformation. Im unteren Stockwerk wird die Reaktion Luthers und der reformatorischen Bewegung auf diese Marienfrömmigkeit thematisiert.
Schon der erste Eindruck ist lehrreich: Die obere Etage explodiert geradezu katholisch-sinnlich, vor allem mit elf großen, zentral platzierten und wunderschönen Marien-Schnitzplastiken aus vorreformatorischer Zeit. Das untere Stockwerk ist dagegen viel evangelisch-nüchterner. Während das „katholische“ Stockwerk einen mit seiner bunten Pracht fast überwältigt, regt das untere eher zum Nachdenken an. Und beides hat seinen Wert.
Zu lernen ist, dass die Marienfrömmigkeit in den Jahrzehnten unmittelbar vor dem Urknall der Reformation ab 1517 geradezu überschwänglich war. Die wenigen Aussagen des Neuen Testaments über Maria wurden in Theologie und Volksfrömmigkeit über alle Maßen hochgejazzt. Maria erschien auf vielen Bildnissen und Skulpturen dieser Zeit, die ja in einer überwiegend analphabetischen Gesellschaft Theologe bildhaft transportierten, als mindestens so wichtig wie der Heiland selbst, wenn nicht wichtiger für das Heil des einfachen Gläubigen. Die „Himmelskönigin“ versprach Rettung für Menschen, die gerade in diesen Jahrzehnten zu großen Teilen das Ende der Welt nahe wähnten, die, vor allem als Arme, schutzlos unheilbaren Krankheiten, andauernden Schmerzen, einem plötzlichen Tod und einer schrecklichen Angst vor der Hölle ausgeliefert waren.
Die häufig in dieser Zeit verehrte „Schutzmantelmadonna“ war das zwei- oder dreidimensionale Sinnbild dieser Not, dieser Glaubensnot: Maria beschützt unter ihrem Mantel alle Menschen, groß und klein, wichtig und unwichtig, ob Papst, ob Bettelmann, ja sie schützt sogar auf manchen Bildern vor den Pfeilen, die Gottvater oder Christus auf die Gläubigen als Strafen abschießen – am Mantel Mariens prallen sie ab. Da der richtende, strafende Gott, hier die fürbittende, barmherzige Mutter Gottes. Wenig verwunderlich, an wen die Gläubigen dieser Zeit am liebsten ihre Gebete richteten, an Maria wohl vor allem, wie die Ausstellung nahe legt.
Luther hatte kein Problem mit Maria
Und genau das störte Martin Luther immens. Ungezählt sind in der Ausstellung die Belege, wie der Reformator diese verzerrte Volksfrömmigkeit und überspannte Mariologie angriff. Denn – solus Christus! – nur der Heiland gibt Heil und Erlösung, wie es der Theologe immer wieder seinen Gläubigen einhämmerte. Die ausufernde Marienfrömmigkeit seiner Zeit verdunkelte nur diesen Grundpfeiler des erneuerten Glaubens protestantischer Prägung. Luther, als langjähriger Augus-tiner-Mönch selbst stark marienfromm erzogen und geprägt, brachte das einmal mit Blick auch auf den durchaus üblichen Aberglauben einer besonderen Wunderkraft der Muttermilch Mariens so auf den Punkt: „Ach, was haben wir der Maria Küsse gegeben, aber ich mag Marias Brüste und auch ihre Milch nicht, denn sie hat mich nicht erlöst und auch nicht selig gemacht.“ Gleichzeitig aber, und das vermag die Ausstellung mithilfe seiner Exponate schlüssig zu belegen, war Martin Luther keineswegs ein Marien-Hasser. Der Reformator besaß offenbar ein Marienbild, vielleicht von Lucas Cranach dem Älteren, an deren entblößtem Busen der gerade gestillte Jesus-Säugling schläft. Es ist eine Szene, die Luther in seinen Tischreden mit Blick auf ein solches Bild in seinem Haus erwähnt. Luther hatte also kein wirkliches Problem mit Maria, ob stillend oder nicht, im Gegenteil. Es findet sich in der Schau auch ein Rosenkranz, der der Überlieferung nach aus dem Besitz von Katharina von Bora stammt.
Luther hat in einer Auslegung des Magnificats Mariens Stellung 1521 so beschrieben: Sie sei ganz „niedrige Magd“, eben nicht Himmelskönigin – vielmehr wie ein leeres, reines und einfaches Gefäß für das Heil. Maria als eine Art schlichtes Instrument, das das Heilswirken Gottes um so eindrucksvoller mache, weil es eben so unbedeutend sei. Insofern sei sie auch ein exemplum fidei, ein Vorbild im Glauben: dass der Herr auch das Niedrigste groß machen könne.
Maria und „die anderen Heiligen“
Aber der Mensch und auch Maria seien, so Luther, eben nicht groß durch sich selbst, sondern nur im Glauben und im Gehorsam vor Gott. Fein schreibt er über Maria: „Für eine Fürsprecherin wollen wir sie nicht halten, für eine Fürbitterin wollen wir sie halten wie die anderen Heiligen.“ Denn: „Sie will nicht, dass du zu ihr kommst, sondern durch sie zu Gott.“ Dass man sie in den Himmel gehoben habe, könne ihr selbst nicht recht sein, vermutet der Kirchenreformer.
So war es konsequent, dass Luther nicht alle Marienfeiertage abschaffen, sondern ihre Zahl nur reduzieren wollte. Er schrieb für Maria ein Lied „Sie ist mir lieb, die werte Magd“ – wobei in poetischer Weise Kirche und Maria in eins zu verschmelzen scheinen. Immer wieder kam Luther in seinen Predigten auf Maria zurück. Aber er interpretierte sie eben als einfache Mutter. Und das zeigte sich dann auch in der reformatorischen oder nachreformatorischen Bilderproduktion: Maria ist darin nur noch die zärtliche, fürsorgende Mutter, nicht mehr wirklich heraus gehobene im Heilsplan und deshalb auch nicht mehr in der protestantischen Bildsprache. Eine von vielen Heiligen oder Gläubigen unterm Kreuz.
Am sinnbildlichsten ist diese Neu-Interpretation der Mutter Gottes in dem bezaubernden Werk „Maria mit dem sie umhalsenden Kinde“ aus der Werkstatt Cranachs des Älteren, das in den Jahren nach 1537 entstanden ist. Es ist zugleich das Titelbild des hervorragenden Katalogs der Ausstellung. Die Lebendigkeit und Zärtlichkeit der Umarmung von Maria mit ihrem Jesuskind ist faszinierend – aber heilige oder göttliche Attribute fehlen völlig. Theoretisch könnte es irgendein Kind irgendeiner Mutter dieser Zeit sein.
Maria verbindet anstatt zu trennen
So bezeichnend wie verrückt ist, dass eine Variante dieses Bildes auf Umwegen im Hochaltar des Innsbrucker Doms landete, wo es „als Mariahilf-Bild zum Kultbild avancierte und nicht mehr als protestantisches Trostbild ausgelegt wurde, sondern als katholisches Andachtsbild“, wie die Kuratorin der Schau und Herausgeberin des Katalogs, Katja Schneider, im Ausstellungskatalog schreibt, der übrigens ganz ausgezeichnet ist. Das Innsbrucker Kultbild reformatorischen Ursprungs ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Maria die Konfessionen eher verbinden als trennen müsste.
So aber dachten im Überschwang der Reformation und Gegenreformation nur die allerwenigsten. Der reformatorische Bildersturm hat gleichwohl, wie die Ausstellung vermutet, in den lutherischen Gebieten Mitteldeutschlands viel weniger schlimm gewütet, als spätere Generationen es befürchteten. Auch deshalb haben viele Marienstatuen und -bilder diese Zeit unbeschadet überstanden. Dazu trug ein Phänomen bei, das die Schau eindrucksvoll inszeniert: Da viele Marienschnitzplastiken gerade in Dorfkirchen auch den protestantisch gesonnenen Christen zu lieb und wertvoll blieben, sie aber in den lutherischen Kirchen nicht mehr recht passten, wurden sie in so genannte Götzenkammern weggeschlossen.
Beitrag für eine Annäherung der Konfessionen
„Götzenkammern“ waren meist schwer zugängliche Verschläge oder Rumpelkammern alter evangelischer Gotteshäuser. Dort aber wurden die Statuen nicht selten Jahrhunderte lang vergessen. Häufig wurden sie erst im 19. Jahrhundert wieder entdeckt – und die unversehrten Marienplastiken der vorreformatorischen Zeit wieder ans Licht gebracht. Eine absurde Geschichte und zugleich ein kunstgeschichtlicher Glücksfall. Die Ausstellung empfindet so eine Götzenkammer nach, worin durch Sehschlitze wunderbare Marienstatuen zu erspähen sind. Eine gute Idee der Schau.
So sei die Ausstellung in Wittenberg, die – leider! – ganz offensichtlich bisher nur mäßig Publikum anzieht, allen dringend ans Herz gelegt. Wenn heutzutage einerseits katholische Christen die überspannte Marienfrömmigkeit früherer Jahrhunderte in der Regel hinter sich gelassen haben. Und andererseits, ganz im Sinne Luthers, evangelische Christen Maria auch als eine der ihren wieder entdecken – dann wird Maria fünfhundert Jahre nach der Reformation endlich wieder zu einer Brückenbauerin statt einer Spalterin. Dass die kluge Ausstellung in Wittenberg dies zu vermitteln vermag, ja vielleicht sogar einen Beitrag für diese Annäherung liefert, ist ihr nicht hoch genug anzurechnen.
Philipp Gessler (zeitzeichen)
Die Sonderausstellung „Verehrt. Geliebt. Vergessen. Maria zwischen den Konfessionen“ ist im Wittenberger Augusteum bis zum 18. August 2019 täglich von 9 bis 18 Uhr (donnerstags bis 20 Uhr) zu sehen.