Deutsche in Russland
Geschichte der Deutschen im russischen Zarenreich und in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion
Ein Überblick der wechselhaften russlanddeutschen Geschichte: Seit über 1000 Jahren leben Deutsche auf dem Territorium des heutigen Russlands. Diverse politische und gesellschaftliche Ereignisse haben dazu geführt, dass sich mal mehr, mal weniger Deutsche dort angesiedelt haben oder in ihre Heimat beziehungsweise in die Heimat ihrer Vorfahren zurückgekehrt sind.
Seit über 1000 Jahren leben Deutsche in Russland
- Händler der Deutschen Hanse siedeln sich an (z.B. in Nowgorod).
- Deutsche Fachleute werden unter lwan dem Schrecklichen (1533-1584) vermehrt ins Land geholt (Handwerker, Baumeister, Ärzte, Offiziere, Verwaltungsspezialisten und andere).
- Eine deutsche Vorstadt in Moskau entsteht. 1575 wird die erste deutsche Kirche in Moskau gebaut.
- Deutsche Wissenschaftler, Ärzte, Künstler, Bauern und Fachleute holt Peter der Große (1672-1725) ins Land. Im 18. und 19. Jahrhundert arbeiten sie in verantwortlichen Posten in Diplomatie, Verwaltung und Heer, an der Akademie der Wissenschaften zu Petersburg oder an Universitäten (z.B. in Kazan/Wolga). Sie tragen viel zu der kulturellen Entwicklung Russlands bei.
- Adelige aus den deutschen Ländern haben vielfältige Beziehungen zum Zarenhof. Einige sitzen sogar auf dem Zarenthron wie Peter der III. (1728-1762) und seine Gemahlin, Katharina II. (1729-1796), die mit der planmäßigen Ansiedlung von Landbevölkerung beginnt.
Erste große Einwanderungswelle in der russlanddeutschen Geschichte: 1764-1773
22.07.1763: Manifest der Zarin Katharina II. (1729 – 1796) lädt zur Ansiedlung ein. Versprochen werden Land, freie Religionsausübung, Wehrdienstfreiheit, Steuererleichterungen, günstige Kredite, Selbstverwaltung, deutsches Bildungswesen und manch andere Privilegien, die die deutschen Einwanderer erheblich besserstellten als die russische Landbevölkerung, die sich noch in Leibeigenschaft befindet.
1764-1773: Massenansiedlung im Wolgagebiet in der Nähe der Stadt Saratow: Gründung von 104 deutschen Kolonien. Etwa 30.000 deutsche Zuwander*innen siedeln sich an.
Zweite große Einwanderungswelle in der russlanddeutschen Geschichte: 1804-1861
20.02.1804: Das Manifest von Zar Alexander I. lädt Deutsche zur Ansiedlung im Schwarzmeergebiet ein.
1816-1861: Westpreußen (darunter viele Mennoniten), Rheinländer, Pfälzer und Schwaben wandern in Wolhynien (heutiges Gebiet der Ukraine) ein.
Bis 1862 wandern etwa 100.000 Deutsche nach Russland aus.
1853-1856: Krimkrieg; deutsche Kolonist*innen leisten Russland im Krieg gegen die Türkei materielle Hilfe, werden als loyale Untertanen des Zaren geschätzt.
Die Wende der russlanddeutschen Geschichte: ab 1871
04.06.1871: Beginn der Russifizierung: Aufhebung der Privilegien, nachdem eine Bewegung gegen die weitere Ausbreitung des Deutschtums in Russland eingesetzt hat.
1874: Einführung der Wehrpflicht für die Russlanddeutschen
1874-1883: Tausende deutscher Mennoniten wandern nach Kanada und in die USA aus.
1887/88: Wolgadeutsche emigrieren nach Südamerika, gründen in Argentinien Kolonien.
1887: Manifest Alexanders III: „Russland muss den Russen gehören“
1891: Die russische Sprache wird Pflichtfach an deutschen Schulen im Zarenreich.
1897: Eine Volkszählung ergibt, dass 390.000 Deutsche an der Wolga, 342.000 im Süden Russlands, 237.000 im Westen Russlands und 18.000 in Moskau leben.
1901-1911: Rund 105.000 Russlanddeutsche emigrieren nach Amerika. Andere bilden neue Kolonien in der kasachischen Steppe, im Omsker Gebiet und im Altai.
1908: Bei Slawgorod/ Westsibirien entsteht ein deutsches Siedlungsgebiet.
Der Erste Weltkrieg: 1914-1918
Bis zum ersten Weltkrieg leben 2.448.500 Deutsche in Russland.
01.08.1914: Beginn des Ersten Weltkrieges. Circa 1,7 Mio. Deutsche leben im russischen Reich, 300.000 Deutsche dienen als Sanitäter bzw. als Forstarbeiter in der zaristischen Armee.
1915: Liquidationsgesetze: Grenznah lebende Deutsche – vor allem in Wohlynien – werden enteignet und nach Sibirien deportiert. Betroffen sind 200.000 Wolhynien-Deutsche. In Moskau kommt es zu Pogromen gegen Deutsche.
07.11.1917: Bolschewistische Oktoberrevolution
03.03.1918: Frieden von Brest-Litowsk beendet den Krieg zwischen Deutschland und Russland.
Zwischen den Weltkriegen: 1918-1939
06.01.1924: Gründung der Autonomen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (ASSR), in der es eine deutsche Infrastruktur mit eigenem Schulwesen, Theater, einem Verlag, etlichen Zeitungen und einem Deutschen Rundfunk gibt.
1928-1932: Zwangskollektivierung in der UdSSR und Deportation der enteigneten Bauern in den hohen Norden und nach Sibirien (sog. Entkulakisierung). Geistliche und Küsterlehrer werden deportiert und fast alle ermordet.
1937: Schließung der letzten deutschen Kirchen. Das öffentliche kirchliche Leben kommt zum Erliegen. Christ:innen treffen sich heimlich.
1935/38: Höhepunkt des stalinistischen Terrors – „Die große Säuberung“: In Schnellverfahren werden wahllos angebliche Volksfeinde, Spione, Geistliche und Bauern, darunter auch viele Deutsche, von den so genannten Troikas abgeurteilt und anschließend erschossen oder in Zwangsarbeitslager deportiert.
Der Zweite Weltkrieg: 1939-1945
01.09.1939: Beginn des Zweiten Weltkrieges
23.08.1939: Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt lässt die Russlanddeutschen hoffen.
22.06.1941: Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges
28.08.1941: Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets über die Deportation der Deutschen aus der Wolgarepublik. Sämtliche Deutsche, die sich nicht im deutsch besetzten Gebiet befinden, werden systematisch vertrieben und mit Schiffen und Güterzügen nach Sibirien und Kasachstan deportiert (etwa 700.000 Menschen). Dort gibt es weder Unterkünfte noch ärztliche Versorgung noch Nahrungsvorräte. Entweder werden sie der ortsansässigen Bevölkerung zur Beherbergung zugewiesen oder in die unbesiedelte Steppe gebracht, wo viele Menschen im harten Winter 1941/42 verhungern oder erfrieren. Circa 100.000 deutsche Trudarmisten (Männer und Frauen zwischen 16 und 60 Jahren) leisten Schwerstarbeit.
1943/44: Nach der Niederlage von Stalingrad werden beim Rückzug der deutschen Wehrmacht aus der Ukraine circa 250.000 Deutsche in den Warthegau (heutiges Polen) umgesiedelt und dort durch das Deutsche Reich eingebürgert.
08.05.1945: Ende des Zweiten Weltkrieges. Beginn der so genannten „Repatriierung“: circa 200.000 Russlanddeutsche aus dem Warthegau sowie allen Besatzungszonen werden von der Roten Armee nach Sibirien und Mittelasien deportiert.
1946 – 1956: Nach Auflösung der Trudarmee leben die Rückkehrer in Sondersiedlungen unter Kommandantur.
Von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart der russlanddeutschen Geschichte
1941 – 1956: Rund 300.000 Russlanddeutsche kommen in diesen 15 Jahren ums Leben.
Oktober 1946: 2,5 Mio. Menschen leben noch in den Sondersiedlungen (überwiegend Deutsche, aber auch Tataren und andere Volksgruppen).
13.12.1955: Das Stalin-Dekret zur Deportation der Deutschen vom 28.8.41 wird aufgehoben.
Ab Januar 1956: Entlassung aus den Sondersiedlungen. Aber: Rückkehr in die ursprünglichen Gebiete bleibt verboten und keine Entschädigung für das im Jahr 1941 beschlagnahmte Eigentum. Erste Anträge zur Ausreise werden von Deutschen gestellt. Sie werden fast alle abgelehnt.
29.08.1964: Erlass des Obersten Sowjets über Teilrehabilitierung der Russlanddeutschen. Dennoch ist die Rückkehr in die ehemaligen Siedlungsgebiete nicht vorgesehen.
Nach 1964: Wachsende Autonomiebewegung der Russlanddeutschen in der Sowjetunion; andere wollen ausreisen.
Ab 1975: Die KSZE (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) erwirkt für einige tausend Russlanddeutsche pro Jahr die Ausreise.
Ab 1987: Lockerung des Ausreiseregimes der UdSSR für Russlanddeutsche: Der Zustrom deutscher Aussiedler*innen aus der UdSSR nach Deutschland wächst kontinuierlich.
Januar 1992: Für das Anliegen, sich wieder an der Wolga niederlassen zu können, vermag weder die deutsche noch russische Regierung gewonnen werden.
21.12.1992: Inkrafttreten des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes in Deutschland, das den Zuzug von Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion auf 220.000 pro Jahr begrenzt. Nach 1992 Geborene können keinen eigenständigen Spätaussiedlerstatus mehr erlangen. In den folgenden Jahren werden Integrationshilfen und Rechtsprivilegien für Spätaussiedler*innen stark reduziert.
1950-2012: Rund 4,5 Millionen Aussiedler*innen und Spätaussiedler*innen (inkl. Familienangehörige) werden in Deutschland aufgenommen.
2013: Durch die 10. Überarbeitung des Bundesvertriebenengesetzes wird die Einreise von Deutschen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion für Familienangehörige ermöglicht.
Seither kommen jährlich zwischen 6 und 9 Tausend Deutsche aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland.