Gewalterfahrungen und Traumata
Wie Seelsorgende die (Spät-)Aussiedler*innen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion begleiten können
Migration verunsichert. Mit dem Umzug geht der Verlust der Sprache, der Kultur, der Arbeit und des sozialen Status einher. Aber auch schon zuvor in der Sowjetunion haben Deutsche viele Traumata erfahren. Viele erlebten Vertreibung, Verfolgung und Gewalt. Der Umgang mit diesen Verletzungen ist eine Herausforderung für Seelsorgende.
Der Verlust der Alltagssprache, der Kultur, der Arbeit, des sozialen Status und überhaupt aller Selbstverständlichkeiten kann zu Krisen und tiefen persönlichen Brüchen führen. Jeder Neuankömmling muss die Schwierigkeit meistern, im neuen Land Fuß zu fassen. Für viele Deutsche aus der ehemaligen Sowjetunion gibt es noch andere Belastungen: Lücken in der Familien- oder eigenen Lebensgeschichte, untergründige, ständig präsente Angst, grundlose Schuldgefühle, vielleicht sogar Depressionen oder chronische Krankheiten.
Schwere Gewalterfahrungen
Zwischen 1918 und 1960 mussten die Deutschen in der Sowjetunion sehr viele schwere Gewalterfahrungen machen: angefangen von Enteignungen, über das Verbot der Religion, Verhaftungen, Verschleppungen, Inhaftierungen in Arbeitslagern, Ermordungen und Denunziationen. Es gibt keine russlanddeutsche Familie, die in dieser Zeit nicht mindestens ein Familienmitglied gewaltsam verlor und unter ständiger Angst vor Repressionen lebte. Nach dem 56. Parteitag und der Entstalinisierung verbesserte sich die Situation, aber Demütigungen als „Faschisten“ bezeichnet zu werden, Ausbildungsverbote sowie Karrierehemmnisse gehörten für die Deutschen in der Sowjetunion bis zur Ausreise zum Alltag. Deutsch zu sein war ein Makel, der je nach Situation sehr bestimmend werden konnte.
Opfer der sowjetischen Diktatur
Gewalt als Mittel politischer Gestaltung bedeutete in der Zeit der sowjetischen Diktatur auch das konsequente Verschweigen der Opfer. Jede und jeder, der oder die aus Inhaftierung und GuLag entlassen wurde, musste unterschreiben, dass er oder sie niemals über das Erlittene sprechen würde. So erfuhren oftmals auch enge Familienangehörige nicht, was den Rückkehrer*innen widerfahren war. Für Kinder und Enkel wurden Fiktionen aufgebaut. Während die Alten an dem Erlebten oftmals psychisch oder physisch erkrankten, spürten die Jüngeren oft, dass etwas nicht stimmte; so entwickelten sich Mauern des Schweigens, des Misstrauens und der Schuldgefühle.
Eine historische und sozialpsychologische Aufarbeitung der Erlebnisse wurde bis heute durch die Regierungen der Sowjetunion und Russlands unterbunden. Die Archive wurden nach einer kurzen liberalen Periode am Anfang der 1990er Jahre wieder geschlossen.
Einwanderung als psychische Belastung
Zusätzlich stellte die Einwanderung in Deutschland für viele Deutsche aus der ehemaligen Sowjetunion eine große psychische Belastung dar, zumal die Integrationsbedingungen nicht ideal und die Erwartungen an Deutschland als Lebens- und Kulturort realitätsfremd waren. Deutschland verstand sich in den 1990er Jahren politisch nicht als Einwanderungsland. So wurden russlanddeutschen Erwachsenen zum Beispiel Berufsabschlüsse häufig nicht anerkannt und keine adäquaten Bildungschancen eingeräumt. Die Teilnahme an Sprachkursen wurde längst nicht allen Menschen zugestanden. Was häufig als persönliche Entwürdigung und Erniedrigung erlebt wurde, gilt heute als ein entscheidender Faktor dafür, dass etwa 20 Prozent der Russlanddeutschen ins soziale Abseits gerieten.
Herausforderung für die Seelsorger:innen
Wir Aussiedlerseelsorgerinnen und -seelsorger haben in den letzten Jahrzehnten die Erfahrung gemacht, dass Zuwander*innen aus der ehemaligen Sowjetunion unter Angst- und Stresssymptomen leiden, viele sogar unter Traumatisierungen. Es gibt nahezu keine russlanddeutsche Familie, die nicht die Ermordung oder das Verschwinden wenigstens eines männlichen Familienangehörigen durch das Verfolgungs- und Zwangsarbeitssystem der sowjetischen Diktatur zu beklagen hätte. Ähnlich betroffen sind übrigens auch andere russischsprachige Zuwander:innen wie Kontingentflüchtlinge. Hinzu kommt die tiefe Verunsicherung, die der Zusammenbruch des sowjetischen Staates und die damit einhergehenden Wirtschaftskrisen hinterlassen haben. Auch kollektive Traumata aus den Kriegen in Afghanistan und Tschetschenien haben die jüngeren Generationen getroffen.
„Traumata können Lebenswege zerstören“
Heute steht der Aussiedlerseelsorge der Zusammenhang von Lebensgeschichten und Traumata deutlich vor Augen und ist Bestandteil der seelsorgerlichen und/oder psychologischen Arbeit. Denn wenn Traumata nicht kundig begegnet wird, um diese zu verarbeiten, können sie ganze Lebenswege zerstören und transgenerational weitervererbt werden.
Traumatherapie und -pädagogik sind junge Wissenschaften; das Wissen um Traumata kommt deshalb erst langsam in der Öffentlichkeit an. Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass der Grund für die psychischen Leiden bei Russlanddeutschen in den letzten Jahrzehnten weder von den Betroffenen selbst noch von Außenstehenden und sozialen Unterstützer*innen vollständig erfasst wurden. Hilfreiche Maßnahmen konnten nicht ergriffen werden. Umso dringender ist es jetzt, in der Aussiedlerseelsorge, in Kirchengemeinden und in therapeutischen Zusammenhängen auf die Traumatisierungen zu schauen und heilsame Begegnungen zu entwickeln.