Nutztier und Mitgeschöpf!
Tierwohl, Ernährungsethik und Nachhaltigkeit aus evangelischer Sicht. Ein Impulspapier der Kammer für nachhaltige Entwicklung, EKD-Text 133, September 2019
2. Zum Verhältnis von Mensch und Tier im Kontext landwirtschaftlicher Produktion in Deutschland
2.1 Tiere auf dem Hof – Verbindung von Fürsorge und Nutzung im Tier-Mensch-Verhältnis im Kontext kleinbäuerlicher Haus- und Subsistenzwirtschaft
Das Mensch-Tier-Verhältnis blickt hinsichtlich der Beziehung zu Nutztieren[49] auf eine lange Entwicklungsgeschichte zurück: Erst in der neolithischen Revolution, das heißt vor ca. 10.000 Jahren begann die Domestizierung von Nutztieren gemeinsam mit der Kultur des Ackerbaus. Über Jahrhunderte hinweg war die vorindustrielle Mensch-Tier-Beziehung geprägt von einer vielfältigen Nutzung von Tieren und Tier-Rassen einschließlich einer vielfältigen Verwertung durch und für den Menschen: Schweine, Geflügel, Rinder, Schafe, Ziegen. Nicht nur die durch Tiere gewonnenen Erzeugnisse wie Milch und Eier, sondern der gesamte Schlachtkörper wurde genutzt: Fleisch zur Nahrung, Häute, Felle, Hörner, Knochen zur Herstellung von Alltagsgegenständen und Bekleidung. Im Mittelpunkt stand die subsistenzwirtschaftliche Eigenversorgung. In diesem unmittelbaren überschaubaren Bezug zwischen Tiernutzenden und Tier entstand eine besondere Beziehung aus Respekt und Achtung im Mensch-Tier-Verhältnis, bei dem das Tier nicht ausschließlich auf seine materielle Nutzung reduziert wurde, sondern eine Co-Evolution zwischen Mensch und Tier bestand: Der Mensch konnte sich nicht ohne Gemeinschaft mit dem Nutztier entwickeln.
Damit wurde auch eine besondere Kultur der Hauswirtschaft aus Arbeit, Familie, Ernährung und sozialer Sicherung geprägt. Über lange Jahrhunderte war es normal, dass Bewohner von Dörfern und Städten selber Kleinvieh hielten (zum Beispiel Geflügel, Ziegen und Kaninchen), um zur Selbstversorgung beizutragen. Ziegen waren die Kühe des kleinen Mannes und wurden vielfach an den Wegrändern geweidet.[50] Hoher Fleischverzehr war sehr lange ein exklusives Privileg der Reichen (Jagdrechte nur des Adels) und wurde auch immer wieder als Überkonsum kritisiert. Der durchschnittliche Fleischverzehr lag in Deutschland noch 1816 bei ca. 11 – 14 kg/Kopf/Jahr und auch am Beginn des 20. Jahrhunderts erst bei etwa 40 kg/Kopf/Jahr.[51] Hohe Fleischverbrauchsraten wie zum Beispiel 90 kg/Kopf/Jahr (im Jahr 1990 in Deutschland) waren über Jahrhunderte hinweg vor der Industrialisierung von Landwirtschaft und Tierproduktion völlig unvorstellbar. In den vorindustriellen Formen der Subsistenzwirtschaft liegen – in Deutschland wie in Kulturen nicht-westlicher Länder – Traditionen und Ansätze einer hauswirtschaftlichen Ernährungskultur begründet und verwurzelt, die durch eng miteinander verwobene Wirtschafts-, Umwelt- und Sozialkreisläufe geprägt waren. Was heute als Leitbild nachhaltiger Ernährung verstanden wird, das heißt Ernährungssicherung in Verantwortung für Mensch, Tier und Umwelt sowie die nachfolgenden Generationen zu betreiben, kommt dieser früheren Form der Subsistenzlandwirtschaft durchaus nahe.[52] Allerdings ermöglichte erst die ausreichende, professionelle Produktion von Lebensmitteln durch die Landwirtschaft die gesellschaftliche Arbeitsteilung und damit die bisherigen zivilisatorischen Fortschritte. Ein Zurück zur Subsistenzkultur kann heute weder in Industrie- noch in Entwicklungsländern das Ziel sein. Entscheidend ist vielmehr, das traditionelle langfristige Denken in Naturkreisläufen, in komplexen Zusammenhängen und auf Ressourcenerhalt hin ausgerichtet, wieder zu beleben.
2.2 Von Bauernhöfen zu Agrarfabriken – Folgen der Industrialisierung der Nutztierhaltung für das Mensch-Tier-Verhältnis
Die entscheidende historische Wende in der Tierhaltung in Deutschland ist mit der Industrialisierung der Landwirtschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbunden: Der Landwirtschaftssektor wurde »professionalisiert« und »verwissenschaftlicht«. Durch Einsatz moderner Technologien erfolgte eine erhebliche Ertragssteigerung sowohl im Ackerbau als auch eine massive Leistungssteigerung bei Nutztieren. Das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Wildtieren und den vom Menschen domestizierten Nutztieren hat sich dadurch weltweit stark zu Ungunsten der Wildtiere verschoben.[53] Vom »Hausgenossen« des Menschen wurde das Tier zum »Produktionsfaktor« einer boomenden Agrarwirtschaft, die sich vor die Herausforderung gestellt sah, Grundlagen für den Massenkonsum von Fleisch zu schaffen. Es bildete sich nicht zuletzt durch die Integration aller agrarischen Produktionsketten das sogenannte Agrobusiness aus der traditionellen agrarkulturellen Nutztierhaltung heraus, das die Tierhaltung einem extremen ökonomischen Verwertungsdruck aussetzte. Kennzeichen solcher modernen landwirtschaftlichen Nutztierhaltung sind zunehmende Professionalisierung und Spezialisierung, Größenwachstum und Konzentrationstendenzen im Rahmen des agrarwirtschaftlichen Strukturwandels und nicht zuletzt zunehmende Arbeitsteilung und Kommerzialisierung der gesamten Prozesskette innerhalb der Tierhaltung aus Zucht, Futtermittelproduktion, Stallbau, Tierhygiene und Tiergesundheit, Transport, Schlachtung, Be- und Verarbeitung. Schlachtereien und Tierhaltungsanlagen wurden zunehmend weiter arbeitsteilig spezialisiert und aus dem Sichtfeld der normalen Bevölkerung heraus wegverlagert.
Der Ost-West-Konflikt im Nachkriegseuropa beförderte die forcierte Industrialisierung der Landwirtschaft, denn der Wettkampf und Wettlauf der Systeme übertrug sich auch auf Ernährungs- und Fleischfragen: Die von Rockefeller und anderen forcierte erste sogenannte »Grüne Revolution«[54] sollte auch als Instrument dienen, den Sozialismus einzudämmen, indem die Nahrungsmittelverfügbarkeit im Westen kurzfristig durch vermehrten Inputeinsatz gesteigert wurde. Die Folgen für das Mensch-Tier-Verhältnis waren immens, selbst wenn sich in überschaubaren familienbezogenen Höfen und Restbereichen der kleinformatigen Nutztier-Haltung noch Traditions- und Haltungselemente der engen und durch Fürsorge bestimmten Symbiose zwischen Mensch und Nutztieren erhielten. Doch es dominierte eine massive Industrialisierung von Landwirtschaft und Tierhaltung. Und verbunden mit ihr entwickelte sich ebenso eine Form der Agrarwissenschaft, die von einem rein rationalistisch und ökonomisch geprägten Wissenschaftsverständnis geleitet war und die – jedenfalls in ihren ersten Jahrzehnten – für Themen der Tierethik bzw. der ökologischen Ethik so gut wie keinen anerkannten Platz in der landwirtschaftlichen Ausbildung bereithielt. Aus Bauern und Bäuerinnen wurden wissenschaftlich versierte und betriebswirtschaftlich orientierte Landwirte. Aus einem familienbetriebenen Bauernhof wurden landwirtschaftliche Produktionsstätten. Es wurde weithin das Optimum dessen umgesetzt, was wissenschaftlich, technisch und ökonomisch möglich war und betriebswirtschaftlichen Output und materiellen Wohlstand maximierte.[55] Nach Ethik und Moral wurde in der Hoch-Zeit agrarwissenschaftlicher Modernisierung und Industrialisierung in den 1960er und 1970er Jahren wenig gefragt, auch relativ wenig aus der kirchlichen Perspektive, schließlich profitierten gerade ländliche Regionen ökonomisch durchaus vom Aufschwung industrialisierter Landwirtschaft. Das beginnt sich erst langsam zu ändern.
Kasten 1: Tierhaltung und Ernährungssicherung
Positive Aspekte der Tierhaltung für die Ernährungssicherung
Die Nutztierhaltung trägt wesentlich zur globalen Ernährungssicherung bei. Tierisches Eiweiß macht ca. 33 % der gesamten Proteinversorgung sowie 14 % der gesamten Kalorienaufnahme aus.1
Tierische Lebensmittel sind reich an essentiellen Mikronährstoffen wie Vitamin A, Vitamin B12, Eisen, Zink, Calcium etc. Diese Mikronährstoffe können vom menschlichen Körper aus tierischen Produkten oft besser aufgenommen werden als aus pflanzlichen Lebensmitteln.2
Viele dieser Nährstoffe sind essentiell für das gesunde Heranwachsen von Kindern. Fleisch und Milchprodukte können bei gemäßigtem Verzehr eine positive Rolle für Ernährung und Gesundheit spielen. Sie wirken gegen den versteckten Hunger – insbesondere bei Kindern, Frauen und Älteren. Gerade unterernährte oder einseitig ernährte Personen in Entwicklungsländern haben oft einen starken Mangel an tierischen Produkten. Hier kann bereits eine leichte Erhöhung des Konsums tierischer Lebensmittel große gesundheitliche Vorteile bringen – insbesondere auch für stillende und schwangere Frauen. Wegen der hohen Nährstoffdichte von Milchprodukten und Fleisch eignen sie sich außerdem besonders für Kinder und Kranke, da diese oft nur geringe Mengen essen können.3
Umgekehrt erhöht der Überkonsum tierischer Produkte bestimmte Gesundheitsrisiken stark (Herzerkrankungen, Diabetes, einige Krebserkrankungen) und trägt zur Entstehung von Übergewicht bei.4
Gesundheitsverträglicher Fleischverzehr
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt eine gesunde Mischkost, bei der der jährliche Fleischverzehr für Frauen bzw. Männer 20 bzw. 30 kg pro Kopf nicht überschreitet. Die FAO fordert für Entwicklungsländer, dass jedem Menschen ein Fleischverzehr von mindestens 7,3 kg pro Jahr ermöglicht werden sollte.5
Gefahren für die menschliche Gesundheit
Die Verbesserung der Tiergesundheit und der Tierhygiene ist eine wichtige Voraussetzung zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit nicht nur in Entwicklungs- und Schwellenländern. Gesundheitsgefahren durch Nutztiere bestehen durch Zoonosen, Antibiotikaresistenzen, Lebensmittelinfektionen (z. B. Salmonellen, Trichosen), Feinstaub und Aerosole.
Besonders Zoonosen sind gefährlich (z. B. Vogelgrippe). Etwa 60 % der Tierkrankheiten können Zoonosen auslösen – also auch Menschen infizieren. Nutztiere sind außerdem die Quelle einiger vernachlässigter tropischer Krankheiten. Diese Tierkrankheiten verursachen täglich erhebliche ökonomische Schäden bei Tier und Mensch.
Die Nutztierhaltung bildet außerdem ein wichtiges Bindeglied zwischen den Wildtieren und der menschlichen Gesundheit. Etwa 70 % aller neu auftretenden Krankheiten des Menschen stammen von Nutztieren, teilweise waren diese Krankheiten vorher aber bei Wildtieren verbreitet.
Gerade arme Menschen sind übermäßig stark von Zoonosen betroffen, da sie oft unter unhygienischen Bedingungen einen sehr engen Kontakt zu den Nutztieren haben. Hygienische Belastungen von Wasser und Lebensmitteln aus der Tierhaltung führen in Entwicklungsländern zu vielen unerkannten Lebensmittelinfektionen.
Die WHO schätzt, dass jährlich allein die Durchfallerkrankungen 1,8 Millionen Tote verursachen und ökonomische Schäden in der Höhe von 33 – 77 Milliarden Dollar erzeugen.6
Antibiotikaeinsatz in der Nutztierhaltung
Die Tierhaltung ist global mengenmäßig das größte Einsatzgebiet. Zum Teil werden sie immer noch als Wachstumsförderer eingesetzt – trotz der damit verbundenen sehr hohen Risiken einer Resistenzbildung. Antibiotikaresistenzen nehmen international schnell zu. Die menschliche Gesundheit kann dadurch global massiv bedroht werden. In den letzten Jahrzehnten wurden für die Humanmedizin kaum neue Antibiotikawirkstoffe entwickelt. Trotzdem werden in der Tierhaltung sogar die raren für die menschliche Behandlung vorbehaltenen Reserveantibiotika eingesetzt. Die FAO prognostiziert trotz der erheblichen Risiken für die menschliche Gesundheit eine Zunahme des Antibiotikaeinsatzes in der Tierhaltung um 70 % bis 2030.7
In Deutschland wurden 2018 – im Rahmen der Umsetzung der Deutschen Antibiotikaresistenzstrategie DART – die Regelungen zum Einsatz von Antibiotika in der Nutztierhaltung weiter verschärft. Dies gilt insbesondere für Reserveantibiotika. In Deutschland gelten seit 2014 schärfere Regelungen zum Antibiotikaeinsatz in der Tierhaltung, verbunden mit einem intensiveren Verwendungs-Monitoring. Dadurch hat sich der Antibiotika-Einsatz zwischen 2011 bis 2015 ungefähr halbiert.8
Auch das EU-Parlament hat 2018 beschlossen, dass ab 2021 keine Reserveantibiotika mehr in der Nutztierhaltung eingesetzt werden sollen. Importiertes Futter darf zukünftig keine Antibiotika als Wachstumsförderer mehr enthalten.9
1 FAO 2017: More Fuel for the Food/Feed Debate; http://www.fao.org/ag/againfo/home/en/news_archive/2017_More_Fuel_for_the_Food_Feed.html.
2 Verbraucherzentrale (2018): Fleisch hat viele gute Seiten – Ernährungsphysiologie; https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/lebensmittel/lebensmittelproduktion/fleisch-hat-viele-gute-seiten-ernaehrungsphysiologie-5542.
3 FAO (2014): Towards Sustainable Livestock; http://www.livestockdialogue.org/fileadmin/templates/res_livestock/docs/2014_Colombia/2014_Towards_Sustainable_Livestock-dec.pdf.
4 FAO 2018: Meat and Health; http://www.fao.org/docrep/T0562E/T0562E05.htm. Deutsches Krebsforschungszentrum 2018: Ernährung und Krebsvorbeugung. Kann gesunde Kost das Krebsrisiko senken? https://www.krebsinformationsdienst.de/vorbeugung/risiken/ernaehrung-praevention-index.php#inhalt21.
5 DGE 2018: Vollwertig essen und trinken nach den 10 Regeln der DGE; https://www.dge.de/index.php?id=52.
6 FAO (2014): Towards Sustainable Livestock; http://www.livestockdialogue.org/fileadmin/templates/res_livestock/docs/2014_Colombia/2014_Towards_Sustainable_Livestock-dec.pdf.
7 FAO 2017: Synthesis – Livestock and Sustainable Development Goals; http://www.fao.org/3/CA1201EN/ca1201en.pdf.
8 BMEL 2018: Antibiotika in der Landwirtschaft; https://www.bmel.de/DE/Tier/Tiergesundheit/Tierarzneimittel/_texte/Antibiotika-Dossier.html;jsessionid=A369121DD48BC1C3749EE48B698BA91C.2_cid288?nn=539690¬First=false&docId=7020278.
9 EU-Parlament (2018): Bekämpfung der Ausbreitung der Antibiotikaresistenz von Tieren auf Menschen; http://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20181018IPR16526/bekampfung-der-ausbreitung-der-antibiotikaresistenz-von-tieren-auf-menschen.
2.3 Lust auf Fleisch – Das Fleisch ist mein Gemüse: exponentielle Zunahme des Fleischverzehrs in Deutschland und ihre Hintergründe
Die Veränderung der Fleischnachfrage ist eng gekoppelt mit dem Übergang von einer Mangel- zu einer Überfluss- und Konsumgesellschaft in Deutschland in den 1960er Jahren. Viele ältere Bürger können sich noch daran erinnern, dass die Tradition zurücktrat, nur einmal in der Woche Fleisch auf den Mittagstisch zu bekommen (der »Sonntagsbraten«). In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wurde Fleisch zu einem Massenprodukt, am sinnfälligsten durch den großen Sprung des durchschnittlichen Fleischverbrauchs in Deutschland von 35 kg/Kopf/Jahr im Jahre 1950 auf 79 kg/Kopf/Jahr im Jahre 1970.[56] Das Fleisch wurde zum Lockvogelprodukt, nur noch bestimmte Tierteile wurden für den unmittelbaren Konsum in Deutschland verwendet. Es verbreitete sich die Praxis, andere weniger interessante Teile des Tierkörpers zu exportieren, was zu großen Problemen in Entwicklungsländern führte und führt,[57] oder zu Hunde- und Katzenfutter zu verarbeiten. Dabei bestehen zwischen den Ernährungsstilen und dem Fleischkonsum auf der einen Seite und dem Entwicklungsverständnis der beginnenden Wohlstandsgesellschaft enge Korrespondenzen: Die Veränderungen der Ernährungspräferenzen werden als symbolischer Ausdruck von persönlichem wie gesellschaftlichem Wohlstand verstanden. Die Zusammensetzung des Essens spiegelt den sozialen Aufstieg innerhalb der Gesellschaft wider: Man kann sich Fleisch auf dem Teller leisten.
Als Wohlstandsindikator gelten regelmäßiger Fleischkonsum, Urlaubsreisen, ein Auto und später ein Fernseher – wer es dahin geschafft hatte, hatte in der Nachkriegszeit Anteil am bürgerlichen Wohlstandsmodell des Wirtschaftswunderlandes Deutschland. Natürlich war die Einstellung zum Fleischkonsum in Deutschland in der Nachkriegszeit auch Reaktion auf die Kriegserfahrungen des Hungers und des Mangels.
Die Konzentration auf die Befriedigung der Massennachfrage nach Fleisch und Milch führte im Kontext des deutschen Wirtschaftswunders zu einer umfassenden Agrarmodernisierung mittels der Übernahme industrieller Produktions- und Organisationsprinzipien:[58] Mechanisch-technischer Fortschritt, biologisch-technischer Fortschritt und organisatorisch-technischer Fortschritt ermöglichten Rationalisierungsschübe und eine zunehmend arbeitsteilige Spezialisierung in der Landwirtschaft.[59] In der tierischen Produktion zeigten sich solche Modernisierungen in der Fortentwicklung der Zucht, Tiergesundheit, Stallhygiene und Tierernährung, begleitet von baulichen Veränderungen der Stallanlagen und zunehmender Stalltechnik mit Blick auf Fütterung, Melken, Entmisten und Lüftung. Die agrartechnischen Fortschritte führten zu einer weitgehenden Eingliederung der Landwirtschaft in die Industriegesellschaft und die Ausweitung industrieller Produktion tierischer Erzeugnisse in einer mechanisierten Tierhaltung.
Kasten 2: Landwirtschaft als Wirtschaftsfaktor
Der primäre Sektor (Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft) trug in Deutschland zwischen 2008 und 2018 durchschnittlich mit 0,7 % zum amtlichen Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei. Im Jahr 2018 generierte er eine Bruttowertschöpfung von 16,7 Mrd. EUR. Im Jahr 2016 sind etwa 940 Tsd. Personen im agrarischen Sektor tätig, darunter viele Familienarbeitskräfte (450 Tsd.) und Saisonarbeiter (290 Tsd.). Etwa 1,3 % (540 Tsd.) aller Erwerbstätigen beziehen den größten Teil ihres Erwerbseinkommens aus der Landwirtschaft. Die Zahl landwirtschaftlicher Betriebe sinkt kontinuierlich, die durchschnittliche Betriebsgröße steigt. Derzeit gibt es rund 270 Tsd. landwirtschaftliche Betriebe, darunter 120 Tsd. Haupterwerbsbetriebe. Etwa 70 % der Betriebe sind in der kommerziellen Nutztierhaltung aktiv. Im Jahr 2018 betrugen die Verkaufserlöse aller landwirtschaftlichen Betriebe ca. 43,5 Mrd. EUR, davon entfielen über 27,4 % auf tierische Erzeugnisse.
Damit kommt der Landwirtschaft in quantitativer Hinsicht keine überragende gesamtwirtschaftliche Bedeutung in Deutschland zu. Der Automobilsektor trägt im Vergleich mit rund 4,5 % zum BIP und 2 % zur Erwerbstätigkeit bei, der Gesundheitssektor mit etwa 12 % und 13 %.
Ungeachtet des relativ geringen Anteils der Landwirtschaft am BIP und der Beschäftigung ist die deutsche Landwirtschaft volkswirtschaftlich durchaus recht bedeutsam, denn:
- Sie ernährt die Bevölkerung. Der Selbstversorgungsgrad liegt bei den meisten Agrarerzeugnissen deutlich über 100 %. Ausnahmen sind Obst, Gemüse und Eier, bei welchen Deutschland Nettoimporteur ist (BMEL 2016, S. 5).
- Deutsche Haushalte geben etwa 14 % ihrer Ausgaben für Nahrungsmittel (2016) aus.
- Außerdem nutzt die Landwirtschaft mit knapp 17 Tsd. ha etwa 50 % der gesamten Bodenfläche, wovon fast Dreiviertel als Weideland oder der Futtermittelproduktion dienen.
- Schließlich spielt die Land- und Forstwirtschaft bei der Energieversorgung mittlerweile eine wichtige Rolle. Der Anteil ihrer Erzeugnisse an der Bruttostrom- und Wärmeversorgung liegt bei knapp 8 % bzw. 12 % (BMEL 2016, S. 5).
Quellen: Statistisches Bundesamt (www.destatis.de, 14.01.2018); BMEL 2016 (Landwirtschaft verstehen, Berlin 2016); BMEL 2019: Landwirtschaftliche Gesamtrechnung; https://www.bmel-statistik.de/landwirtschaft/landwirtschaftliche-gesamtrechnung/
Fleisch wurde als modernes Lebensmittel entdeckt, als »ein Stück Lebenskraft«, so der Werbeslogan der Fleischwirtschaft, die Lebensqualität auch sozial neu bewertete. »Wer hat, der hat« wurde zum Leitspruch, mit dem auch ein mengenmäßiges, von Kalorienzählen gänzlich unbelastetes Ernährungsverhalten einherging: Fleisch und Wurst, Käse, Sahne, Butter, Eier, Speck – all das wurde zum Inbegriff von Wohlstandsentwicklung, erkennbar auch an dem sogenannten »Wohlstandsbauch« der Bevölkerung. Fleisch wurde zur für jedermann verfügbaren Speisequelle zu erschwinglichen Preisen und gehörte auf die tägliche Speisekarte. Und die Entwicklung in der DDR hatte ihren eigenen Anteil an dieser Wende zu einem fleischorientierten Wohlstandsverständnis: Dort waren es zunächst weniger die Supermarktangebote, wohl aber die extra Angebote von Fleisch zu wichtigen sozialistischen Tagen, die gezielt vom Politbüro gesteuert wurden, die die neue Ernährungsdoktrin einer betont fleischreichen Ernährung mit untermauerte. Überspitzt gesagt: »Fleisch als Opium des Volkes«.[60] Bei der Ausbreitung industrieller Landwirtschaft und Tierhaltung hat jedenfalls der globale Ost-West-Konflikt und die Konkurrenz, gerade auf dem Gebiete hoher Fleischproduktionsraten Systemgleichrangigkeit bzw. Überlegenheit zu zeigen, eine nicht unerhebliche Rolle gespielt.
2.4 Woher kommt unser Fleisch heute? – Daten und Trends rationalisierter und computerisierter Tierhaltung und des deutschen bzw. europäischen Fleischhandels
In den 1980er Jahren erfolgte eine zunehmende Beschleunigung und Internationalisierung aller Lebenswelten einschließlich des Agrarsektors: Die Europäische Union wurde immer stärker erweitert, die Auslandsbeziehungen zu Südamerika und den vier ostasiatischen sogenannten Tigerstaaten wurden vertieft und die Kommunikationstechnologien entwickelten sich mit enormer Geschwindigkeit: Beschleunigung und Globalisierung als gesellschaftliche Trends hatten Auswirkungen auch auf den Fleischkonsum. Die Fast Food-Kultur aus den Vereinigten Staaten fasste Fuß in Deutschland und neben der deutschen Wurst kam der sogenannte Burger als Standardschnellgericht auf den Markt. Parallel entwickelte sich das sogenannte Convenience-Speiseangebot aus Teil- oder Ganzfertiggerichten, zunehmend auch als Tiefkühlware in breiter Varietät und unterschiedlichsten Zubereitungs- und Qualitätsstandards weiter.
Kasten 3: Ökonomische Bedeutung der weltweiten Nutztierhaltung
Die Viehwirtschaft trägt weniger als 1,5 % zur globalen Wirtschaftsleistung bei. An der globalen landwirtschaftlichen Wertschöpfung macht der Tierhaltungssektor jedoch etwa 40 % aus. In Industrieländern stammen aus der Tierhaltung sogar ungefähr 53 % der landwirtschaftlichen Wertschöpfung.
Ungefähr 900 Millionen Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze von 1,9 Dollar pro Tag. Etwa die Hälfte von ihnen hängt ökonomisch direkt von der Nutztierhaltung ab. Von diesen etwa 450 Millionen armen Nutztierhaltern sind zwei Drittel – also 290 Millionen Menschen – Frauen. Weltweit leben ungefähr 1 Milliarde arme und sehr arme Menschen von der Nutztierhaltung.1
Die Nutztierhaltung ist für sehr Arme oft die letzte verfügbare ökonomische Ressource (lebende Sparkassen). In finanziellen Krisen können Tiere verkauft werden. Es können Mikrokredite für Zuchttiere vergeben werden. Allerdings bestehen erhebliche Defizite bei der Marktfähigkeit der tierischen Produkte, der Logistik. Eine Steigerung der Marktteilnahmemöglichkeiten ist nötig, damit die Tierhaltung maßgeblich zur Armutsreduktion beitragen kann.
Die Tierhaltung hat teilweise neben der hochqualitativen Ernährung mit tierischem Eiweiß weitere positive soziale und kulturelle Funktionen. Nutztiere leisten neben dem Ernährungszweck z. B. Zugarbeit, tragen Lasten, geben über ihren Mist Dünger und Brennmaterial, Leder etc.2
Bei der Kleintierhaltung (kleine Wiederkäuer wie Schafe und Ziegen, Geflügel) sind in Entwicklungsländern besonders Frauen aktiv – je nach Tradition teilweise auch bei der Milchkuhhaltung. Für die Frauen sind die Tiere eine wichtige Einkommensquelle. Da der Sektor wächst und sehr arbeitsintensiv ist, bietet er insbesondere auch für Frauen zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten. Den Frauen fehlt jedoch oft der Zugang zu Ressourcen wie Kapital und Land.
Der Nutztiersektor und die nachgelagerten Sektoren wie Schlachtereien expandieren weltweit stark. Der Nutztiersektor ist einer der am schnellsten wachsenden ökonomischen Sektoren in Entwicklungsländern (2,5 % pro Jahr während der letzten beiden Jahrzehnte).3 Dabei entstehen jedoch auch neue Probleme bei Kinderarbeit und arbeitsschutzrelevanten Risiken in der Tierhaltung. Kinderarbeit ist sehr verbreitet beim Herdenhüten und der Tierpflege. Als Hirten beginnen Kinder im Alter von 5 bis 7 Jahren, was wiederum ihre Schulbildung stark einschränkt.4
Professionalisierung der Tierhaltungspraktiken
In vielen Entwicklungs- und Schwellenländern ist die Nutztierhaltung bisher sehr ineffektiv und wenig nachhaltig. Es wird eine breite Palette an Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsproduktivität sowie zur Professionalisierung der Tierhaltungspraktiken benötigt in den Bereichen Tierfutter, Tiergesundheit, Tierzucht, nachhaltiges Beweidungsmanagement, Verhinderung von Zoonosen, Lebensmittelhygiene etc.
Die großen Potentiale zur Einkommensgenerierung können nur dann genutzt werden, wenn ganz erhebliche Verbesserungen gegenüber den heutigen Praktiken stattfinden. Eine nachhaltige Ausweitung der Anzahl der Nutztiere sowie Effizienzsteigerungen der Nutztiere sind nur dann möglich, wenn ein entsprechender Know-How-Transfer, Technologietransfer, Infrastrukturaufbau, praxisbezogene Forschung und Innovationen, Erhöhung des Wissensniveaus von Tierhaltern, Tierzüchtern und Veterinären etc. erfolgen.5
Urbane Nutztierhaltung
Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit leben heute weltweit mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Etwa 800 Millionen Stadtbewohner in Entwicklungs- und Schwellenländern betreiben urbane Landwirtschaft – vom Gemüseanbau bis zur Nutztierhaltung. In den Städten dienen Nutztiere wie Hausschweine, Hühner, Ziegen oder selbst Rinder zur Selbstversorgung und zur Einkommensgenerierung. In urbanen Regionen kann z. B. die Weiterverarbeitung tierischer Produkte eine gute Einkommensquelle für Frauen darstellen. In den dicht besiedelten Städten gehen von der städtischen Tierhaltung jedoch auch immense Infektionsrisiken und hygienische Risiken aus.6
Verschiedene Tierhaltungssysteme parallel auf der Welt
Weltweit werden auch in Zukunft sehr verschiedene Tierhaltungssysteme nebeneinander existieren. Sehr schnell expandieren die modernen, hochintensiv betriebenen Tierhaltungsanlagen – z. B. in China. Parallel dazu bleiben in anderen Weltgegenden traditionelle extensive Haltungsverfahren erhalten.
Noch heute hat die Weidetierhaltung durch sog. Pastoralisten (Hirtenvölker) in einigen Regionen der Erde eine große ökologische und ernährungsphysiologische Bedeutung. Die FAO schätzt 2018 die Anzahl auf 200 – 500 Millionen Pastoralisten.7 Diese produzieren etwa ca. 10 % der weltweiten Fleischmenge. Im Vergleich zu den niedergelassenen Bauern auf dem afrikanischen Kontinent werden in den ariden Regionen Afrikas, wo Ackerbau aufgrund des fehlenden Wassers und der Böden nicht möglich ist, 50 – 70 % der Milch, des Rindfleischs und des Schaffleischs in Weidetierhaltung produziert.8 Für die Entwicklungsländer wird auch in den kommenden Jahren mit einem jährlichen Wachstum von 3 % im Tiersektor gerechnet. Die zukünftig erwartete globale Ausdehnung der Fleischproduktion ist im prognostizierten Maßstab jedoch nur durch grundlegende Änderungen der Tierhaltungssysteme möglich. Das angestrebte Wachstum wird vermutlich vor allem durch Großbetriebe abgedeckt werden. Die technik- und kapitalintensiven Haltungsverfahren samt sehr großen hochprofessionellen Mastanlagen der Industrieländer werden auf die stark wachsenden Märkte der Schwellenländer übertragen.
Kleine Tierhalter werden zunehmend verdrängt werden, falls sie nicht gezielt gefördert werden, da sie mit der ökonomischen Konkurrenzsituation, steigenden Standards etc. nicht mithalten können.9
1 FAO 2017: Synthesis – Livestock and Sustainable Development Goals; http://www.livestockdialogue.org/fileadmin/templates/res_livestock/docs/2016/Panama/FAO-AGAL_synthesis_Panama_Livestock_and_SDGs.pdf.
2 FAO (2018): Dairy Development’s Impact on Poverty Reduction; http://www.livestockdialogue.org/fileadmin/templates/res_livestock/docs/2018_Ulaanbataar/Dairy_Development_s_Impact_on_Poverty_Reduction.pdf.
3 S. Fußnote 1.
4 Ebd.
5 FAO (2014): Towards Sustainable Livestock; http://www.livestockdialogue.org/fileadmin/templates/res_livestock/docs/2014_Colombia/2014_Towards_Sustainable_Livestock-dec.pdf. BMEL (2018): Global Forum for Food and Agriculture 2018: Die Zukunft der tierischen Erzeugung gestalten – nachhaltig, verantwortungsbewusst, leistungsfähig; https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Ministerium/Beiraete/Agrarpolitik/GAP-GrundsatzfragenEmpfehlungen.pdf.
6 S. Fußnote 1.
7 Vgl. FAO (2018): 7th Capitalization Meeting. Pastoralism in the world; https://de.slideshare.net/FAOoftheUN/pastoralism-in-the-world; s. a. FAO (2019): Pastoralist Knowledge Hub; http://www.fao.org/pastoralist-knowledge-hub/en/.
8 Nori, M., Taylor, M. and Sensi, A. (2008), Browsing on Fences: Pastoral land rights, livelihoods and adaptation to climate change. Issue paper. International Institute for Environment and Development, Nottingham, UK.
9 FAO (2018): Shaping the future of livestock; http://www.fao.org/3/i8384en/I8384EN.pdf.
Zu Beginn des neuen Jahrtausends dominiert die Discounter-Mentalität bei den deutschen Verbrauchern. »Geiz ist geil« als Leitbild für Konsum zeigte seine Auswirkungen auch im Bereich der Fleischwaren. Statt regionaler Qualitätsware vom Metzger setzte sich zunehmend die Discounterisierung mit dem Übergang zur Selbstbedienungs-Fleischtheke durch. Der Lebensmittelhandel entdeckte die Eignung von Fleisch- und Wurstwaren als Lockangebot für die Verbraucher, und bis heute unterbietet man sich mit den günstigsten Preisen.
Die Rationalisierung des Fleischkonsums führt zu einer Verengung des Speiseangebots rund ums Fleisch. Dies entspricht dem allgemeinen Trend der Zeitreduzierung der mit der Nahrungszubereitung verbundenen Arbeit. Ein breites Sortiment standardisierter, qualitativ gleichwertiger, abgepackter und konsumreifer Fleischwaren zum Kurzbraten bietet der Handel heute dem Verbraucher in den Selbstbedienungs-Theken an. Aus dem einstigen agrarkulturellen ganzheitlichen Fleischverzehr entwickelte sich eine hohe Spezialisierung: Nur bestimmte Fleischstücke werden von den Verbrauchern bevorzugt. Herz, Niere, Lunge, Leber, Hirn werden mehrheitlich als minderwertig, ja »eklig« kulturell geächtet, auch ganze Bratenstücke verschwinden zunehmend von den Speisezetteln. Stattdessen bildet preisgünstig erzeugtes Stückfleisch das Warenangebot. Der klassische Schweine- oder Rinderbraten, ob als Roll-, Schmor- oder Sauerbraten wird zunehmend verdrängt von Spießchen, Streifen, Filetstückchen, Steaks, Schnitzelchen, Hackbällchen – eben schnell in der Pfanne oder auf dem Grill zubereitbar statt länger im Topf oder in der Röhre köcheln zu lassen. Gegenüber solchem Fleischverzehr zeichnet sich zunehmend ein neuer gesellschaftlicher Trend ab: die Frage der Qualität des Endprodukts wird mit Fragen der sogenannten Prozessqualität aus Fütterung, Transport und Schlachtung der Fleisch liefernden Tiere verknüpft.
Der Fleischverbrauch in Deutschland im Jahr 2017 betrug 88 kg pro Kopf/Jahr, davon landet 20 Prozent im Müll: »ein Drittel der Schweine landet im Müllcontainer und nicht im Magen der Verbraucher« und leidet damit umsonst, titelte eine Fernsehsendung einen Bericht.«[61] Aber selbst die tatsächlich verzehrten 60 kg Fleisch pro Kopf/Jahr entsprechen der doppelten bis dreifachen Menge dessen, was von Ernährungsmedizinern und der Deutschen Gesellschaft für Ernährung als gesund und angemessen empfohlen wird. Interessant ist, dass der Fleischverzehr durchaus geschlechtsspezifisch unterschiedlich aussieht und sich je nach sozialer Schicht verschieden ausprägt: Männer nehmen durchschnittlich 1.120 Gramm pro Woche, Frauen 580 Gramm pro Woche Fleisch zu sich. Männer essen mehr und lieber Fleisch als Frauen – fast ein Drittel der deutschen Männer, aber nur knapp 13 Prozent der Frauen sagen, sie würden mehr als viermal pro Woche Fleisch essen. Experten weisen auf den paradoxen Trend hin, dass in Deutschland immer mehr Tiere geschlachtet werden, während der tatsächliche Fleischkonsum der deutschen Bevölkerung tendenziell leicht gesunken ist.[62] Ursache dafür sind die großen Steigerungsraten des Fleischexports großer deutscher Schlachthöfe. Die deutsche Fleischindustrie (Deutschland ist der drittgrößte Fleischexporteur weltweit) bedient einen wesentlichen Teil der globalen Nachfrage nach Fleischimporten vor allem aus China (so hat zum Beispiel Deutschlands größter Schlachtbetrieb Tönnies eine Exportquote von etwa 50 Prozent).[63] Seit der Jahrtausendwende hat sich der Export von deutschen Fleisch- und Milchprodukten nach China verdreißigfacht – der Trend zur »Massentierhaltung« bleibt deshalb in Deutschland trotz leicht sinkendem Fleischkonsum auf dem Binnenmarkt ungebrochen.
Kasten 4: »Massentierhaltung«
Es gibt keine genaue Definition des Begriffes »Massentierhaltung«. Oft werden synonym auch Bezeichnungen wie Intensivtierhaltung, industriemäßig betriebene Tierproduktion, Megaställe, Agrarfabriken oder industrielle bzw. gewerbliche Tierhaltung benutzt. Teilweise handelt es sich dabei um politische Kampfbegriffe. Als Kontrast dazu wird oft der ebenso wenig spezifizierte Ausdruck »bäuerliche Tierhaltung« verwendet. Die Nordkirche hat sich 2017 in ihrer Diskussionshilfe »Zwischen Landwirtschaft und Industrie« sehr differenziert zu dieser Problematik geäußert.
Entscheidend ist, dass es bei der Diskussion um »Intensivtierhaltung« nicht lediglich um die hohe Anzahl der Tiere pro Stalleinheit bzw. pro Standort geht. Typisch ist, dass es sich um eine nicht-flächengebundene Tierhaltung handelt. Das heißt, die Tierbestandshöhen der Betriebe sind oft so hoch, dass die betriebseigenen Flächen weder den Futtermittelbedarf noch die sinnvolle Verwendung der anfallenden Wirtschaftsdünger abdecken können.
Bei der Frage der Flächenbindung der Tierhaltung ist zwischen der Viehbesatzdichte (Großvieheinheiten je ha; GVE/ha) und absoluten Bestandsobergrenzen je Nutztierhaltungsbetrieb zu unterscheiden. In den Niederlanden wurden zudem regionale Bestandsobergrenzen eingeführt.
Laut Baugesetzbuch gilt als »landwirtschaftlicher Betrieb« derjenige, der das Futter für die Tierhaltung überwiegend selbst produziert. So definierte Betriebe besitzen unter anderem ein Privileg im Blick auf das Bauen im Außenbereich. Bei Stallneubauten müssen sie wesentlich weniger gesetzliche Auflagen erfüllen als die »gewerbliche Tierhaltung«. Im Fall der gewerblichen Tierhaltung müssen zum Beispiel für die Zulassung von Intensivtierhaltungsanlagen Genehmigungen nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz vorab eingeholt werden. Hinzu kommt bei großen Tierhaltungsanlagen die Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung.
Oft geht die »Intensivtierhaltung« mit einer regionalen Konzentration der Tierhaltung einher wie z. B. in den Regionen Vechta und Cloppenburg. Die Clusterbildung in der Nutztierhaltung hat zwar diverse ökonomische Vorteile im Blick auf Logistik, Schlachtereien, Know-How bei Tierärzten etc. Gleichzeitig führt die räumliche Konzentration teilweise zu erheblichen regionalen Umweltbelastungen. Starke Emissionen von Geruch, Ammoniak, Aerosolen, Feinstaub oder Treibhausgasen können auftreten. Boden- und Gewässerbelastungen mit Nitrat und Phosphat können durch Überdüngung verursacht werden. Hohe regionalspezifische Risiken bestehen z. B. bezüglich der Tierseuchenbekämpfung. Seit mehreren Jahrzehnten gibt es politische Diskussionen darüber, ob und wie die Tierhaltung wieder stärker an die Fläche gekoppelt werden kann.
In der Intensivtierhaltung existieren spezifische Herausforderungen im Blick auf die Tiergesundheit. Das System Intensivtierhaltung ist sehr wissens- und kapitalintensiv. Es umfasst zum Beispiel die gezielte Auswahl bestimmter sehr leistungsstarker Tierrassen (oft Hybridrassen bei Huhn und Schwein), den Einsatz moderner Reproduktionstechniken, Digitalisierung der Tierernährung, Automatisierung des Stallmanagements und ein detailliertes Tiergesundheitsmanagement.
Die Frage des Tierwohls ist aber nicht direkt von der Tierbestandsgröße abhängig. Viel wichtiger sind Aspekte wie Zuchtwahl, Tierbesatzdichten, tiergerechte Ausgestaltung der Stallbauten, gutes Stallklima, bedarfsgerechte Fütterung, gute Tiermanagementfähigkeiten der Tierbetreuer etc. Es gibt geeignete aggregierte Indikatoren für Tierwohl, die sich z. B. an Verhaltensauffälligkeiten, Fütterungszustand, Verletzungen, Verschmutzungen, überhöhten Mortalitätsraten der Tiere, Schlachtkörperkontrollen, durchschnittlicher Anzahl der Laktationsperioden bei Milchvieh etc. orientieren.
Die Frage der Tierbestandsgrößen spielt dagegen bei der Ausbreitung von Tierkrankheiten eine entscheidende Rolle. Bei großen Tiergruppen können sich Infektionskrankheiten, Parasiten und Tierseuchen entsprechend schnell und massiv ausbreiten. Da Einzeltierbehandlungen oft nicht möglich sind, werden zum Beispiel Antibiotika breit eingesetzt, was entsprechend starke Antibiotikaresistenzbildungen zur Folge haben kann.
Quellen: Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland: Zwischen Landwirtschaft und Industrie. Diskussionshilfe zur Tierhaltung am Beispiel der Situation in Mecklenburg-Vorpommern. Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland, 2017; https://www.kda-nordkirche.de/f/e/Beitraege/Landwirtschaft/Zwischen-Landwirtschaft-und-Industrie_2017.pdf; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (2017): Besatzobergrenzen in der Tierhaltung. Rechtliche Steuerungsmöglichkeiten des Bundes. Vgl. auch Kayser, M., Schlieker, K., Spiller, A. (2012): Die Wahrnehmung des Begriffs »Massentierhaltung« aus Sicht der Gesellschaft. In: Berichte über Landwirtschaft 90 (3), 417 – 428.
2.5 Vom Tier als Mitgeschöpf zum Tier als Fleischprodukt – Ertrags- und Leistungssteigerung um jeden Preis und die Folgen
Die Ökonomisierung und Rationalisierung von Tierhaltung und Fleischproduktion ging einher mit einem tiefgreifenden Wandel der Einstellung des Menschen zum Tier, einer Einstellung, die man durchaus als zwiespältig bezeichnen kann: Auf der einen Seite gibt es im Bereich der Haustierhaltung eine Emotionalisierung und gewissermaßen Anthropomorphisierung des Verhältnisses zum Tier. Auf der anderen Seite gibt es im Bereich der Nutztierhaltung einen radikalen Trend zur Mechanisierung, Verdinglichung und Instrumentalisierung des Tieres, das oftmals nach wie vor als rein materielles Industrieprodukt angesehen wird.[64] Der Philosoph Precht fasst dies in die zeitkritische These: »Noch nie war die Kluft so groß, die das, was Menschen im Umgang mit Tieren für richtig halten, und das, was tatsächlich praktiziert wird, voneinander trennt.«[65] Hintergrund ist tatsächlich, dass sich die deutschen Tierbestände infolge des agrarischen Strukturwandels in den letzten Jahren ständig und massiv vergrößert haben. Damit verbunden ist eine Durchrationalisierung der Tierhaltung, die unter betriebswirtschaftlich optimierten Bedingungen (»economics of scale«) und dem Einsatz aller technischen Möglichkeiten der Mechanisierung, Automatisierung und Roboterisierung unter dem Diktat der Leistungs- und Ertragssteigerung um jeden Preis steht. Alle wesentlichen Bereiche, von der Zucht (z. B. Klontechnik), über die selektive Aufzucht (z. B. männliche Kükentötung)[66] bis hin zum Fütterungs-, Gesundheits- und Stallmanagement stehen unter der Maßgabe, möglichst der Leistungs- und Effizienzsteigerung zu dienen. Statistiken belegen entsprechend eine sehr starke Zunahme der Durchschnittszahlen für Ferkelwürfe, Schlachtgewicht, Milch- und Eierlegeleistung.[67]
Das Prinzip des industriellen Taylorismus (Prinzip einer Prozesssteuerung von Arbeitsabläufen) hat damit auch in der Tierhaltung seine Umsetzung erfahren. Die meisten der landwirtschaftlichen Betriebe entsprechen heute nicht mehr dem traditionellen Bild des Bauernhofes mit unterschiedlichem Tierbestand, sondern spezialisieren sich hin zu einer Produktionseinrichtung. So wurden zum Beispiel Schweinemastbetriebe sukzessive in arbeitsteilige Produktionsprozesse zerlegt, so dass zwischen Sauenhaltung, Ferkelaufzucht, Ferkel- und Schweinemast unterschieden wird und diese Aktivitäten in zentralisierten unterschiedlichen Produktionsstätten stattfinden. Einerseits können sich solche spezialisierten Großbetriebe durch eine spezifische Aus-, Fort- und Weiterbildung ein entsprechendes Fachpersonal leisten, mit dem sie sich hochprofessionell und kompetent auf einen einzigen Betriebszweig konzentrieren können. Andererseits besteht die Gefahr eines »technischen Tunnelblicks« auf das Tier als reinem Produktionsfaktor bzw. Bioreaktor, was einen empathischen Umgang mit dem Tier aufgrund des zu bewältigenden Arbeitspensums in zahlenmäßig immer größer werdenden Tierbeständen und des technik-fixierten Datenmanagements erschwert, ja nahezu unmöglich macht.
Kasten 5: Ökologische Tierhaltung
Im Ökologischen Landbau werden deutlich höhere Anforderungen an eine tiergerechte Haltung gestellt als im konventionellen Bereich. Das betrifft zum Beispiel den größeren Platzanspruch in den Ställen, Weidegang, bedarfsgerechte Grundfutterbereitstellung, Vermeidung von nicht-kurativen Eingriffen etc. Das Leitbild im Ökolandbau ist eine möglichst artgerechte Haltung, die das Ausleben arteigener Verhaltensweisen und eine hohe Tiergesundheit ermöglichen.1
Die Überprüfung der Ökobetriebe erfolgt regelmäßig sowohl staatlicherseits als auch von den Ökoanbauverbänden. Die EU-Verordnung Ökologischer Landbau verlangt geringere Tierhaltungs-Standards als die anerkannten deutschen Ökolandbauverbände.2
Die Tierhaltung ist im Ökolandbau flächengebunden. Die Gesamtbesatzdichte darf den Grenzwert von 170 Kilogramm Stickstoff pro Jahr und Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche nicht überschreiten (entspricht 2 Großvieheinheiten/ha). Das Futter soll weitestgehend betriebseigen sein. Daher gibt es zum Beispiel keinen Einsatz von importiertem Soja-Kraftfutter.
Die ursprünglich für den Ökolandbau konstitutive Kopplung von Pflanzenbau und Tierhaltung hat sich im Rahmen der Ausdifferenzierung der Betriebe teilweise aufgelöst. Um trotzdem die Bodenfruchtbarkeit zu erhalten, gibt es dann Wirtschaftsdünger-Kooperationen.3
Trotz hoher Tierhaltungsstandards gibt es auch im Ökolandbau spezifische Probleme und Verbesserungsbedarf im Blick auf Tierwohl und Tiergesundheit. Innerhalb des Ökolandbaus gibt es dazu zahlreiche selbstkritische Initiativen. Zielkonflikte zwischen Tierwohl, Ökonomie und Arbeitsbelastung der Tierbetreuer bestehen auch hier.4
Probleme bestehen z. B. mit Parasitenerkrankungen und Federpicken bei Biohühnern. Problematisch und stressreich können lange Tiertransporte und das Schlachten der Biotiere sein, da es nur noch wenige dezentrale Schlachthöfe gibt. Auch die Präventionsansätze zur Förderung der Tiergesundheit müssten verstärkt ausgebaut werden. So gibt es auch bei Biohühnern beispielsweise Parasitenerkrankungen und Federpicken.
Im Jahr 2016 lag in Deutschland der Anteil von Biofleisch am gesamten Fleischabsatz bei deutlich unter 2 %.5 In 2017 lag der Anteil an Biomilch an der insgesamt erfassten Milchmenge bei 3,1 %, Tendenz steigend.6 2015 machten bei den privaten Haushalten Bioeier 11,5 % der Gesamteinkäufe an frischen Eiern aus.7 Der Umsatzanteil von Biofleisch und Biofisch am gesamten Fleisch- und Fischkonsum in der Schweiz betrug 5,6 % im Jahr 2017.8 In Dänemark betrug der wertmäßige Anteil von Biofleisch am gesamten Fleischumsatz 8 % im Jahr 2017.9
1 Ökolandbau.de (2018): Grundlagen der ökologischen Tierhaltung; https://www.oekolandbau.de/erzeuger/tierhaltung/grundlagen/.
2 Umweltinstitut München e. V. (2014): Unterschiede zwischen der EU-Verordnung Ökologischer Landbau und den Richtlinien der Anbauverbände Bioland, Naturland und Demeter; https://www.umweltinstitut.org/fileadmin/Mediapool/Downloads/07_FAQ/Lebensmittel/vergleich_richtlinien.pdf.
3 BLE (2018): Ökologische Tierhaltung; https://www.praxis-agrar.de/tier/artikel/oekologische-tierhaltung/.
4 Bioland (2014): Große Koalition für höchstes Tierwohl. Bioland, Demeter und Naturland führen gemeinsames Kontrollverfahren ein; https://www.bioland.de/presse/presse-detail/article/grosse-koalition-fuer-hoechstes-tierwohl.html.
5 https://www.foodwatch.org/de/informieren/bio-lebensmittel/mehr-zum-thema/zahlen-daten-fakten/.
6 https://www.topagrar.com/markt/news/biomilchpreise-auf-rekordniveau-9372414.html.
7 https://www.oekolandbau.de/haendler/marktinformationen/marktberichte/nachfrage-nach-bioeiern-erreicht-spitzenwert/.
8 Biosuisse (2018): Marktspiegel Biofleisch 2018; https://www.bioaktuell.ch/fileadmin/documents/ba/Markt/Fleisch/2018_04_Marktspiegel_Biofleisch.pdf.
9 Ökolandbau.de (2018): Bio in Europa; https://www.oekolandbau.de/haendler/marktinformationen/marktberichte/bio-in-europa/.
Mit dem »technischen Tunnelblick« in der praktischen Tierhaltung korrespondiert dabei die weitgehende Leerstelle bzw. Fehlanzeige im Hinblick auf den Stellenwert der Tierethik in der traditionellen landwirtschaftlichen Ausbildung bzw. in den agrarwissenschaftlichen Studiengängen. Die Tatsache, dass in den landwirtschaftlichen Ausbildungsberufen und Studiengängen der ethische Diskurs lange entweder systematisch unterdrückt oder jedenfalls vernachlässigt wurde und wichtige Erkenntnisse dadurch nicht an die nachfolgenden Generationen von gut ausgebildeten Landwirten weitergegeben wurden, hat Auswirkungen bis in die gegenwärtigen Kommunikationsprobleme zwischen Kirche und Landwirtschaft: Eine Reihe junger oder auch älterer extrem gut wissenschaftlich ausgebildeter Agraringenieure hat Probleme damit, dass ihre Produktionsweise aus kirchlicher und entwicklungspolitischer Perspektive kritisiert wird, setzen sie doch nur in der landwirtschaftlichen Produktionspraxis um, was die anerkannte moderne landwirtschaftliche Wissenschaft an den Universitäten und Fachhochschulen jahrzehntelang gelehrt und empfohlen hat. Erst allmählich gelangen Ansätze einer ergänzenden und alternativen ganzheitlichen Agrar-Wissenschaft auch in die Ausbildungs- und Studiengänge der zukünftigen Landwirte, und es können Brücken gebaut werden.[68]
2.6 Die Wurst war ein Tier – Anfänge eines neuen Diskurses über Tierwohl
Seit den 1990er Jahren entstand gesellschaftlich in Deutschland eine Gegenbewegung zur einseitigen Definition des Wohlstands durch das Ausmaß des Fleischkonsums: Es begann eine zunehmende Ökologisierung der Nahrungsdebatte, die schon in den 1980er Jahren (nach Tschernobyl verstärkt) als Alternativbewegung in kleinen Bio-Läden bzw. in der Naturschutzbewegung begann. Die Biowelle startete in den 1990er Jahren in gesellschaftlichen Nischen noch behutsam und ohne großen ökonomischen Umsteuerungseffekt. Erste kritische Stimmen wurden laut, die im Blick auf einen unbeschränkten, weiter anwachsenden Fleischkonsum Anfragen stellten. »Die Wurst war ein Schwein« – mit Slogans wie diesem wird die Erinnerung wachgehalten und zum Teil auch für ein neues Marketing von Bio-Fleisch eingesetzt, dass hinter jedem Fleischprodukt ein individuelles Tier steht, das mehr oder weniger glücklich aufgewachsen ist.[69] Konsumenten werden daran erinnert: »Wer ein Schwein essen will, der muss auch bereit sein, es zu töten.«[70]
Ein wichtiger politischer Meilenstein, der den Wandel des gesellschaftlichen Bewusstseins allerdings eher ausdrückt als ihn selbst hervorrief, ist die Verankerung des Tierschutzes in das Grundgesetz Deutschlands Anfang des neuen Jahrhunderts: Deutschland war das erste Land der Europäischen Union, das den Tierschutz im Jahr 2002 ins Grundgesetz aufnahm. Im gleichen zeitlichen Kontext wurden innerhalb der EU – durch den Ständigen Ausschuss des Europäischen Übereinkommens zum Schutz von Tieren in landwirtschaftlichen Tierhaltungen – erste Orientierungspapiere für den Tierschutz verschiedener Nutztiergruppen (Hühner [1995], Puten [2001] und Schweine [2004]) vereinbart.[71]
Neben der eigenen Bedeutung des Tierwohls hat die zentrale alte Überzeugung wieder neu an Geltung gewonnen, dass das Tierwohl zusammenhängt mit dem Menschenwohl, ja geradezu auch ein konstitutiver Faktor für das Letztere darstellt. Diejenigen Stimmen in der Gesellschaft gewannen an Gewicht, die die »political correctness« der Nahrung, das Moralprofil von Fleischerzeugnissen stärker hinterfragten und damit auch die ethische Legitimation des Fleischgenusses. Damit verbunden sind Ende der 1990er Jahre grundsätzliche Anfragen an einen Paradigmenwechsel in der Agrar- und Ernährungswirtschaft, bis hin dazu, dass eine »Agrarwende«, »Ernährungswende« oder »Konsumwende« gefordert wird.[72]
Kasten 6: Tierwohl
Die Debatte um das Tierwohl fokussiert sich auf Nutztiere, nicht einbezogen sind dagegen Haustiere. Im englischen Sprachraum wird von »animal welfare« gesprochen, eine annähernde Übersetzung ist »Tiergerechtheit«. Dieser Begriff wird in der Fachdebatte überwiegend verwendet. In den 1980er Jahren entwickelte das britische Farm Animal Welfare Council (FAWC) das Konzept der »5 Freiheiten« als Grundlage für die Bewertung von Tiergerechtheit:
-
Freiheit von Hunger und Durst – die Tiere haben Zugang zu frischem Wasser und gesundem, gehaltvollem Futter.
-
Freiheit von haltungsbedingten Beschwerden – die Tiere sind geeignet untergebracht, zum Beispiel auf adäquaten Liegeflächen.
-
Freiheit von Schmerz, Verletzungen und Krankheiten – die Tiere werden durch schnelle Diagnose und Behandlung sowie den Verzicht auf Amputationen versorgt.
-
Freiheit von Angst und Stress – durch Verfahren und Management werden Angst und Stress vermieden, zum Beispiel durch Verzicht auf Treibhilfen.
-
Freiheit zum Ausleben normaler Verhaltensmuster – die Tiere können sich artgemäß verhalten, zum Beispiel durch ein ausreichendes Platzangebot.
Zur Überprüfung dieser Aspekte wurden Indikatoren entwickelt, die jedoch nicht allgemein anerkannt sind.1
Gravierende Mängel in der Gewährleistung des Tierwohles, z. B. in der Schweinehaltung in Deutschland, werden intensiver öffentlich diskutiert und wahrgenommen.2
Das deutsche Tierschutzgesetz3 nennt als Zweck des Gesetzes (§ 1) »aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.« § 2 benennt Kriterien für die Tierhaltung:
»Wer ein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat,
-
muss das Tier seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend angemessen ernähren, pflegen und verhaltensgerecht unterbringen,
-
darf die Möglichkeit des Tieres zu artgemäßer Bewegung nicht so einschränken, dass ihm Schmerzen oder vermeidbare Leiden oder Schäden zugefügt werden,
-
muss über die für eine angemessene Ernährung, Pflege und verhaltensgerechte Unterbringung des Tieres erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen.«
Tierschutz im Grundgesetz (seit 2002)
Grundgesetz, Artikel 20a:4 »Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.« Die Tierwohldebatte erkennt an, dass Tiere kognitive Fähigkeiten, Wahrnehmungsfähigkeit und Empfindungsfähigkeit besitzen.
____________________
1 https://www.thuenen.de/de/thema/nutztiershyhaltung-und-aquakultur/wie-tiergerecht-ist-die-nutztierhaltung/wie-sich-tiergerechtheit-messen-laesst/.
2 Albert Sundrum: Tierschutzmängel in der Schweinehaltung – Erläuterungen zum aktuellen Stand. Wissenschaftliches Gutachten, 2019; https://www.uni-kassel.de/fb11agrar/fileadmin/datas/fb11/Tierernährung_und_Tiergesundheit/Dokumente/Gutachten_Tierschutzmängel_in_der_Schweinehaltung.pdf.
3 https://www.gesetze-im-internet.de/tierschg/BJNR012770972.html.
4 https://www.gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949.html.
Kritisch angefragt wurde und wird zum Beispiel das jährlich millionenfache Töten männlicher Küken durch »Zerschreddern«. Wie lässt es sich rechtfertigen, den männlichen Küken das Lebensrecht zu verweigern, nur weil sie für eine Aufzucht als Masthähnchen aufgrund geringerer Produktionseffizienz der Rasse als unbrauchbar oder unrentabel angesehen werden? Solche ethischen Dilemmata und produktionsbedingten Entscheidungen stellen eine höchst problematische Entwicklung innerhalb der modernen Tierhaltung unter agrarindustriellem Ökonomisierungsdruck dar.
Kasten 7: Tötung von Eintagsküken
Weltweit werden pro Jahr etwa 2,5 Milliarden männliche Eintagsküken getötet – davon 48 Millionen Küken in Deutschland.1 Die männlichen Küken von spezialisierten Hybrid-Legehuhn-Rassen legen keine Eier und eignen sich auch nicht zur Mast, da sie nur wenig Brustfleisch ansetzen und hohe Futterkosten erzeugen. Aufgrund ihrer fehlenden ökonomischen Verwertbarkeit werden die männlichen Küken direkt nach dem Schlüpfen in den Legehennenbrütereien mit Kohlendioxideinsatz erstickt oder mechanisch zerschreddert.2
Anschließend werden die getöteten Küken zumeist als tiefgefrorenes Tierfutter in Zoos, Reptilienhandlungen oder Falknereien genutzt. Diese Futterverwertung wird einerseits
als »vernünftiger Nutzungszweck« nach Tierschutzrecht von den Aufsichtsbehörden akzeptiert. Andererseits ist die Tötung von gesunden männlichen Eintagsküken rein aus ökonomischen Gründen tierschutzrechtlich und ethisch stark umstritten. Mehrere Bundesländer (Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen) haben wegen Tierschutzwidrigkeit Verbote des Küken-Schredderns erlassen bzw. planen diese. Diese Verbote werden jedoch z. T. rechtlich angefochten.3
Das grundsätzliche Problem entstand durch die einseitige Spezialisierung der Hühnerzüchtung auf entweder Lege- oder Mastleistung. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurden sogenannte Zweinutzungsrassen eingesetzt, die sowohl zum Eierlegen als auch als Masthuhn genutzt wurden. Seit den 1950er Jahren werden durch Hybridisierung spezielle Legehuhn- bzw. Broiler-Rassen gezüchtet. Es folgte eine extreme züchterische Verengung und einseitige Selektion auf Mast- oder Legeeigenschaften der jeweiligen Hühnerrassen. Die Hühner werden oft genetisch zu Leistungen gezwungen, die sich gegen ihre Selbstregulationsmechanismen richten. Freilandhaltung ist bei vielen Rassen nicht mehr möglich, da sie nicht mehr über das nötige Verhaltens- und Regulierungsspektrum gegenüber einer sich verändernden Umwelt verfügen.4
Hinzu kommt eine extreme Monopolisierung in der Hühnerzucht. Vier Konzerne dominieren weltweit den Zuchtmarkt für Legehennen, Mastküken und anderes Geflügel. Die deutsche Erich Wesjohann-Gruppe liefert die Großelterntiere für rund 70 % aller weltweiten Legehennen, die weiße Eier legen. Der holländische Konzern Hendrix Genetics liefert die Großelterntiere für etwa 65 % aller Legehennen, die braune Eier legen.5
Suche nach Alternativen zur Kükentötung6
- Geschlechtsselektion vor dem Ausbrüten: Für große, hochtechnisierte Brütereien wird derzeit die Geschlechtsbestimmung im Ei (In Ovo-Geschlechtsbestimmung) erprobt. Bei befruchteten Hühnereiern werden jene Eier, aus denen sich männliche Küken entwickeln würden, aussortiert statt ausgebrütet. Diese Eier können als Futter verwendet werden. Zwei Methoden der Geschlechtsbestimmung haben sich bewährt: eine endokrinologische Methode am neunten Bebrütungstag sowie eine spektroskopische Methode am vierten Bebrütungstag. Die normale Bebrütungszeit beträgt 21 Tage. Sobald eines dieser Verfahren Praxistauglichkeit besitzt, gibt es für das Töten der männlichen Küken keine gesetzliche Rechtfertigung mehr, da eine Alternative vorhanden ist. Der bisher als »vernünftig« eingeschätzte Grund für die Tötung fällt dann weg.7
Im November 2018 verweist das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) auf einen Durchbruch des marktreifen patentierten Verfahrens »SELEGGT«. Dabei wird ein 0,3 Millimeter kleines Loch in die Eierschale gebrannt und sogenannte Allantoisflüssigkeit entnommen. Diese Flüssigkeit wird in Hinblick auf das geschlechtsspezifische Hormon Östronsulfat untersucht, was als Selektionsmarker dient.8
Die Kritik an der In Ovo-Geschlechtsbestimmung richtet sich zum einen gegen die damit einhergehende einseitige Stärkung sehr großer Brütereien, welche sich diese Technologie in Zukunft überhaupt nur leisten werden können. Zum anderen wird darauf verwiesen, dass bei diesem Verfahren die Tötung männlicher Tiere lediglich in das erste Drittel der Brut vorverlagert wird und sogar größere Eierzahlen pro erfolgreicher Brut weiblicher Tiere nötig sind.9
- Zweinutzungsrassen züchterisch weiter entwickeln: Mittelfristig wird die Rückzüchtung von wirtschaftlich erfolgreichen Hühner-Zweinutzungsrassen angestrebt, welche sowohl zur Fleisch- als auch zur Eierproduktion eingesetzt werden können. Dies ist jedoch ein mittel- bis langfristigeres Unterfangen. Zweinutzungsrassen sind deutlich weniger spezialisiert, sollten aber bestimmte Züchtungsschwerpunkte betonen. So würden sowohl legebetonte als auch fleischbetonte Zweinutzungshühner gezüchtet werden können.10
- Bruderhähne großziehen: Im Bereich der Ökologischen Tierzucht gibt es seit einigen Jahren Initiativen, aus tierethischen Gründen männliche Küken aus Legehennenhaltung zu mästen – trotz der hohen Futterkosten und langen Mastzeiten (»Bruderhahn Initiative Deutschland«).
______________________________
Fußnoten im Text
1 Zahlen aus: Windhorst, W. (2018): Wird die Tötung männlicher Küken von Legehybriden schon bald nicht mehr notwendig sein? Wissenschafts- und Informationszentrum nachhaltige Geflügelwirtschaft (WING) Universität Vechta.
2 BMEL (2018): Alternativen zum Töten männlicher Küken; https://www.bmel.de/DE/Tier/Tierwohl/_texte/Tierwohl-Forschung-In-Ovo.html.
3 Verbraucherzentrale (2018): Tötung von Eintagsküken. Diese Alternativen gibt es; https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/lebensmittel/lebensmittelproduktion/toetung-von-eintagskueken-diese-alternativen-gibt-es-11924.
4 Der Kritische Agrarbericht 2014. Katharina Reuter: Vermeintlich wertlos. Alternativen zum millionenfachen Töten von Küken; https://www.kritischer-agrarbericht.de/fileadmin/Daten-KAB/KAB-2014/KAB2014_234_240_Reuter.pdf.
5 Susanne Gura (2015): Das Tierzucht-Monopoly – ein Update. Über die praktisch konkurrenzlose und weitgehend geheime Machtkonzentration auf dem Gebiet der Tierzucht. Kritischer Agrarbericht 2015; http://www.kritischer-agrarbericht.de/fileadmin/Daten-KAB/KAB-2015/KAB2015_227_231_Gura.pdf.
6 Aufwind für das Ökohuhn der Zukunft, Pressemitteilung Demeter e. V. 25.04.2018; https://www.oekotierzucht.de/demeter-gegen-in-ovo/.
7 S. Fußnote 2.
8 BMEL (2018): Pressemitteilung Nr. 171 vom 08.11.18. Durchbruch: Gemeinsam Kükentöten beenden! Die Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft und SELEGGT stellen marktreife Methode zur Geschlechtsbestimmung im Brut-Ei vor; https://www.bmel.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/2018/171-BMEL_Seleggt-Methode.html.
9 Demeter (2016): Geschlechtsbestimmung im Ei löst das Problem der sinnlosen Tötung von männlichen Küken nicht; https://www.demeter.de/verbraucher/aktuell/geschlechtsbestimmung-im-ei-keine-loesung.
10 S. Fußnote 4.
Als Resultat aus der grundgesetzlichen Verpflichtung zum Schutz des Tierwohles und der weitergehenden gesellschaftlichen Debatte hat das Bundeslandwirtschaftsministerium 2014 eine Tierwohl-Initiative gestartet.[73] Inzwischen gibt es für bestimmte Nutztierarten klare Richtlinien für Tierhaltung und im Dialog mit Veterinärmedizinern verbesserte Kriterien für die Stallhaltung von Tieren.
Kurz vorher, auf dem Bauerntag des Deutschen Bauernverbandes 2013 in Dresden, wurde ein »Leitbild Nutztierhaltung« beschlossen. Dort heißt es: »Wir sehen Tiere als Teil der Schöpfung. Wir halten Tiere, um Lebensmittel zu erzeugen, erwirtschaften damit unser Einkommen und sichern so die Lebensgrundlage unserer Familien und Betriebe. Wir wissen, dass die Haltung von Nutztieren stets ein verantwortungsvolles Abwägen zwischen vielfältigen Anforderungen (z. B. Tierwohl, Umwelt- und Klimaschutz, Lebensmittelsicherheit, Wirtschaftlichkeit) bedeutet. Wir stellen uns dieser Verantwortung und fühlen uns dem Schutz der Tiere verpflichtet.«[74]
Dieses Leitbild erfordert eine Umsetzung in konkrete und kontrollierbare Selbstverpflichtungen der einzelnen Betriebe und eine Übersetzung veränderter Tierwohlstandards in die QS- und QM-Zertifizierungssysteme.
Im März 2015 wurde zudem vom Wissenschaftlichen Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft ein umfangreiches Gutachten »Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung« veröffentlicht.[75] Veränderte Strukturen in der Nutztierhaltung, ein anderes ethisches Bewusstsein zur Nutztierhaltung in der Gesellschaft und verschiedene Problemfelder der Nutztierhaltung finden dabei ebenso Erwähnung wie Ausführungen zur Steuerungsrolle von Markt, Staat und Zivilgesellschaft sowie Aspekte und Empfehlungen für eine zukunftsfähige Tierhaltung.
Folgende Leitlinien werden in diesem Gutachten empfohlen:
- Zugang aller Nutztiere zu verschiedenen Klimazonen, vorzugsweise Außenklima,
- Angebot unterschiedlicher Funktionsbereiche mit verschiedenen Bodenbelägen,
- Angebot von Einrichtungen, Stoffen und Reizen zur artgemäßen Beschäftigung, Nahrungsaufnahme und Körperpflege,
- Angebot von ausreichend Platz,
- Verzicht auf Amputationen,
- routinemäßige betriebliche Eigenkontrollen anhand tierbezogener Tierwohlindikatoren,
- deutlich reduzierter Arzneimitteleinsatz,
- verbesserter Bildungs-, Kenntnis- und Motivationsstand der im Tierbereich arbeitenden Personen und
- eine stärkere Berücksichtigung funktionaler Merkmale in der Zucht.
Zu den Kosten und der politischen Durchsetzbarkeit dieser neuen, in sich schlüssigen Standards der Tierhaltung heißt es allerdings:
Die in dem Gutachten konkretisierte Umsetzung der Leitlinien (würde) zu Mehrkosten in der überschlagsmäßig ermittelten Größenordnung von 13 bis 23 Prozent (insgesamt etwa 3 bis 5 Mrd. Euro jährlich) (führen). Diese Mehrkosten würden bei einem Wertschöpfungsanteil der Landwirtschaft am Endpreis des Verbrauchers von rund 25 Prozent bei einfacher Überwälzung zu einer Erhöhung der Verbraucherpreise von etwa 3 bis 6 Prozent führen. Dies entspricht größenordnungsmäßig der bekundeten Zahlungsbereitschaft eines erheblichen Teils der Bevölkerung, die jedoch aufgrund fehlender Konzepte und der internationalen Marktintegration zurzeit nicht realisiert wird. Ohne politische Begleitmaßnahmen würde eine solche Kostensteigerung aufgrund des Wettbewerbsdrucks in der durch Kostenführerschaft geprägten Fleisch- und Milchwirtschaft zur Abwanderung von Teilen der Produktion in Länder mit geringeren Tierschutzstandards führen, wodurch die Tierschutzziele konterkariert würden.
Bei dieser Kalkulation der Mehrkosten setzt der Wissenschaftliche Beirat allerdings eine deutliche finanzielle Umschichtung innerhalb der bisherigen Agrarförderung zugunsten einer tiergerechteren Haltung voraus. Eines wird dennoch klar: Es fehlt nicht so sehr an grundsätzlicher Einsicht und wissenschaftlicher Expertise für die Notwendigkeit einer Wende zu einer tiergerechteren Tierhaltung bzw. zu mehr Nachhaltigkeit in der Agrarwirtschaft. Es fehlt vielmehr am politischen Willen und an verbindlichen politischen Vorgaben und Begleitmaßnahmen, die dem Druck der internationalen Wettbewerbssituation und dem Einfluss des Agrobusiness etwas entgegensetzen. Außerdem fehlt es an Vorgaben für eine Neuorientierung der landwirtschaftlichen Ausbildung in Deutschland im Kontext der Agenda 2030 und eines ganzheitlichen Konzeptes der ökologischen Nachhaltigkeit.
2.7 Vegetarische Ernährung als Lifestyle: Differenzierung der Ernährungsstile und erhöhtes Verbraucherbewusstsein in Deutschland
Längst hat sich auch in Deutschland eine Pluralisierung der Ernährungsstile herausgebildet: Die Hochphase des Fleischkonsums in Deutschland scheint nach 2010 überschritten, die ritualisierten »Routinen des Fleischkonsums« werden mehr und mehr kritisch öffentlich diskutiert.[76] Eine 2013 durchgeführte Studie der Universität Hohenheim in Kooperation mit der Universität Göttingen teilt die Konsumenten in drei Lager ein:
- 75,1 Prozent sind als »unbekümmerte Fleischesser« einzuordnen
- 9,5 Prozent der Befragten sind »reduktionswillige Fleischesser«
- 11,6 Prozent der Befragten wollen ihren Fleischkonsum bewusst geringhalten (Flexitarier)
- 3,7 Prozent der Befragten sind Vegetarier
Lebens- und Ernährungsstile der vegetarischen oder der veganen Ernährung sind dabei bisher soziologisch gesehen eher »weiblich und jung« sowie »gut ausgebildet«.[77] Die Zahl der sich vegetarisch ernährenden Bevölkerung nimmt augenscheinlich zu, Märkte reagieren mit einer Umsortierung bzw. Ergänzung des Angebotes.[78] Über den kulturellen Einstellungswandel und Alltagsdiskurse über Ernährungsstile sowie Vorurteile hinsichtlich des Wechsels zu vegetarischen oder veganen Ernährungsformen wird inzwischen wenigstens in Deutschland breit und in großen Zeitungen intensiv diskutiert.[79]
Das häufigste Motiv, das bereits seit Langem Anstoß für Menschen gibt, zur fleischfreien Ernährung überzugehen, ist ethischer Art und bezieht sich auf das Tierwohl und die Rechte von Tieren. Die philosophisch-ethische Devise »Essen Sie nur, was Sie auch selbst töten!« hat bei vielen, gerade jüngeren Menschen an Attraktivität gewonnen.[80] Doch haben sich ebenfalls und als zweithäufigstes Motiv gesundheitliche Argumente gegen überhöhten Fleischkonsum herumgesprochen:[81] Die neue Ethik einer freiwilligen Selbstbegrenzung eines maßlosen Konsums an tierischen Erzeugnissen verweist als Begründung auf das Ansteigen von Zivilisationskrankheiten wie Gicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder Darmkrebs als Ausdruck und Folge einer falschen oder einseitigen Ernährung mit zu viel Fleisch. Epidemiologisch-ernährungswissenschaftliche Studien der Harvard Medical School verweisen darauf, dass ein Drittel aller frühen Todesfälle vermieden werden könnte, wenn Menschen ihre Ernährung auf fleischärmere oder vegetarische Kost umstellen.[82] Zugleich hat die Debatte um Antibiotikaresistenzen in der Medizin, mit verursacht durch die moderne Tierhaltung, ihren Einfluss auf ein neues Nachdenken über die Grenzen des Fleischkonsums: Wo viele Tiere für einen massenhaften Fleischkonsum gemästet werden, ist eine möglichst schnelle Aufzucht erforderlich. In einigen Nicht-EU-Staaten wie den USA werden nach wie vor pharmazeutische Hilfsmittel wie Antibiotika als Masthilfe eingesetzt. Diese wandern über Abwässer und Gülle in Gewässer mit entsprechenden negativen Folgewirkungen für Gesundheit und Umwelt.[83]
Kasten 8: Statistik zu Veganern und Vegetariern in Deutschland
Durch die hohe öffentliche Präsenz der Themen Vegetarismus und Veganismus wird der Anteil der Bevölkerung, die konsequent kein Fleisch isst, oft überschätzt. Im Jahr 2018 gaben 0,96 Millionen deutschsprachige Personen in Deutschland an, überwiegend vegan zu leben.1
Hinzu kommen 2018 rund 6,31 Millionen Personen, die sich als Vegetarier bezeichnen bzw. überwiegend auf Fleisch verzichten. Im Jahr 2014 waren es erst 5,31 Millionen Vegetarier.2
Das Robert Koch-Institut (RKI) berichtet 2016 in der Studie »Verbreitung der vegetarischen Ernährungsweise in Deutschland«, dass 6,1 % der Frauen und 2,5 % der Männer vegetarisch leben. Bei jungen Erwachsenen (18- bis 29-Jährige) sind die Anteile wesentlich höher: 9,2 % der Frauen und 5,0 % der Männer sind Vegetarier. Vegetarismus ist bei höherem Bildungsstand, Großstadtbewohnern und Sportlern weiter verbreitet als im Bevölkerungsdurchschnitt.3
Im Jahr 1983 waren nur rund 0,6 % der Bevölkerung Vegetarier.4
___________________________
1 Personen in Deutschland, die sich selbst als Veganer einordnen oder als Leute, die weitgehend auf tierische Produkte verzichten, in den Jahren 2015 bis 2018; https://de.statista.com/statistik/daten/studie/445155/umfrage/umfrage-in-deutschland-zur-anzahl-der-veganer/.
2 Anzahl der Personen in Deutschland, die sich selbst als Vegetarier einordnen oder als Leute, die weitgehend auf Fleisch verzichten, von 2014 bis 2018 (in Millionen); https://de.statista.com/statistik/daten/studie/173636/umfrage/lebenseinstellung-anzahl-vegetarier/.
3 Robert Koch-Institut: Verbreitung der vegetarischen Ernährungsweise in Deutschland – Focus – JoHM 2/2016; https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsJ/JoHM_2016_02_ernaehrung1a.html.
4 Anzahl der Veganer und Vegetarier in Deutschland; https://vebu.de/veggie-fakten/entwicklung-in-zahlen/anzahl-veganer-und-vegetarier-in-deutschland/.
Ernährungsstile des Vegetarismus, des Veganismus oder des Flexitariertums beziehen sich – bei allen Unterschiedlichkeiten der Argumentation im Einzelnen – auf ein Leitbild einer Ethik der Selbstbegrenzung,[84] wie sie in der Auseinandersetzung um »weniger ist mehr« oder »besser leben statt mehr haben« propagiert wird. Das Gemeinsame liegt in der Abkehr von der Produktionslogik einer an ständigem Wachstum orientierten Industriegesellschaft. Diese Einstellungsveränderungen haben erhebliche Auswirkungen im Blick auf die landwirtschaftliche Tierhaltung. Es entstehen Forderungen nach überschaubaren Vieh-Einheiten und geänderte Erzeugungsbedingungen in der Tierhaltung. Für den Fleischkonsum impliziert dies Forderungen wie »lieber weniger Fleisch«, oder »zurück zu einem höchstens zwei bis drei Mal wöchentlichen Fleischkonsum« oder aber zur Forderung nach gänzlicher Vermeidung von Fleischkonsum. Der Einstellungswandel von Teilen der fleischkonsumierenden Bevölkerung wird ebenfalls spürbar in der Entstehung von neuen und alternativen Vermarktungsstätten von teurer produziertem Fleisch aus regionaler Herkunft und in der Forderung nach Achtung des Tierwohles sowie entsprechender Konsequenzen bei Zucht, Haltung und Fütterung in Tierhaltungsbetrieben. Eine Ethik der Selbstbegrenzung führt auch zu einer (Rück-)Besinnung auf den räumlichen Aktionsradius der Fleischproduktion: Statt globaler Produktions- und Verwertungszusammenhänge moderner Tierzucht, -fütterung, -haltung, -transporte, -schlachtung und -verwertung werden Alternativen räumlich begrenzter und überschaubarer Prozessketten propagiert. Regionale Vermarktungs- und Wertschöpfungsinitiativen sehen daher auch für die Tierhaltung Vorteile: regionalen Futteranbau, flächengebundene Tierhaltung, identifizierbare Akteure in Landwirtschaft, Schlachtung und Fleischerei sowie kürzere Tiertransporte.
Kasten 9: Transporte von lebenden Tieren
Regelung von Tiertransporten in der EU: Der Transport von Nutztieren ist in der EU durch die EU-Tiertransport-Verordnung von 2005 geregelt (Verordnung [EG] Nr. 1/2005 zum Schutz von Tieren beim Transport). In Deutschland werden die europäischen Vorgaben durch die detailliertere Tierschutztransportverordnung (TierSchTrV) umgesetzt. Tiertransporte sind für die Nutztiere oft sehr belastend. Die Belastung steigt u. a. mit der Transportdauer. Als Langstreckentransporte gelten Transporte mit einer Dauer von mehr als 8 Stunden.
Tiertransporte in Staaten außerhalb der EU dauern oft mehrere Tage, was das Wohlbefinden der Tiere stark beeinträchtigt. Hinzu kommen oft Belastungen durch Luftmangel, Hitze, Kälte, Platz- und Bewegungsmangel, Durst, Hunger, Angst, Stress, fehlende Einstreu etc. Transportunfähige, kranke Tiere werden ignoriert. Trotzdem setzen die EU sowie Deutschland keine absoluten Begrenzungen der Transportzeiten fest, sondern erlauben zahlreiche Ausnahmen, die Langstreckentransporte ermöglichen. Seit Langem gibt es deshalb aus dem Bereich des Tierschutzes die Forderung nach der Begrenzung von Lebendtiertransporten innerhalb Deutschlands auf maximal 4 Stunden und bei Auslandstransporten auf maximal 8 Stunden (jeweils zuzüglich maximal 2 Stunden Ladezeit). Langstreckentransporte von über 8 Stunden sollten grundsätzlich verboten werden.
Vollzugsdefizite: Bei Tiertransporten im Inland, aber ganz besonders im Ausland, bestehen gravierende Defizite bei der Überwachung und Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben. Die bestehenden Gesetze sind zudem stark unzureichend: Mastschweine von 100 Kilogramm dürfen bis zu 24 Stunden lang ohne Unterbrechung auf einem halben Quadratmeter bei Temperaturen von 0 °C bis zu 35 °C transportiert werden. Ausgewachsene Rinder dürfen bis zu 29 Stunden lang bei bis zu 35 °C auf eineinhalb Quadratmetern transportiert werden.
Transporte ins außereuropäische Ausland: Schafe und Rinder werden unter tierquälerischen Bedingungen per LKW und Schiff transportiert. Zahlreiche Tiere verdursten, werden massiv geschlagen, unsachgemäß verladen, mit Elektro-Treibern traktiert etc. Verletzungen, Brüche und Verenden sind die Folgen. Auch die Arbeitsweisen und Bedingungen vieler der außereuropäischen Schlachthöfe entsprechen nicht im Entferntesten deutschen Tierschutzstandards.1
Aufgrund jahrzehntelang anhaltender gravierender Tierschutzverstöße bei Lebendtiertransporten ins außereuropäische Ausland (insbesondere Türkei, Naher Osten, Nordafrika) ist ein sehr schneller und vollständiger Stopp dieser Exporte erforderlich. Bestehende Abkommen zu Lebendtiertransporten zwischen Deutschland und bestimmten Drittländern sollten schnell aufgehoben werden.
Tiertransporte in Drittstaaten – Zahlen: Die EU- Kommission geht derzeit von jährlich rund 170 Millionen Nutztiertransporten in der EU aus. Dabei handelt es sich überwiegend um Geflügel. Die Anzahl der Langstreckentransporte beträgt etwa 17 Millionen Tiere. Der Export von lebenden Tieren von der EU in Drittstaaten hat trotz der starken Tierschutzverstöße in den vergangenen Jahren extrem zugenommen. Im Jahr 2012 wurden 250.000 Schlachtschweine lebend ins EU-Ausland exportiert. Im Jahr 2015 waren es bereits 430.000 Schweine. 2012 wurden rund 300.000 Schlachtrinder aus der EU in Drittländer exportiert. Im Jahr 2015 waren es schon 810.000 Lebendrinder. Im Jahr 2012 wurden ca. 70.000 Zuchtrinder aus Deutschland exportiert, davon etwa die Hälfte außerhalb der EU.
Tiertransporte innerhalb Deutschlands: In den letzten Jahrzehnten mussten viele kleine und regionale Schlachtbetriebe schließen, da sie der Konkurrenz von wenigen Groß-
schlachtbetrieben ausgesetzt waren. Regionale Monopole sehr weniger Schlachtbetriebe führen zu immer größeren Distanzen zwischen den landwirtschaftlichen Betrieben und den Schlachthöfen. Neben der eigentlichen Transportzeit können lange Sammel-, Warte- oder Entladezeiten anfallen. Kleine regionale Schlachtbetriebe sowie mobile Schlachtunternehmen sind jedoch wichtig, um z. B. Ökofleisch oder Fleisch aus besonders tiergerechter Haltung überhaupt als Nischenprodukte erfolgreich separat vermarkten zu können.2________________________________________
1 https://www.zdf.de/dokumentation/37-grad/37-geheimsache-tiertransporte-100.html.
2 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2015): Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung. // Deutscher Bundestag Drucksache 17/14718 17. Wahlperiode 06. 09. 2013, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 17/14592 – Entwicklung der Tiertransporte // Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste (2016): Exporte von lebenden Nutztieren aus der EU in Nicht-EU-Länder. Sachstand, WD 5 – 3000 – 059/16.
2.8 Zusammenfassung: Tierwohl – Menschenwohl – Schöpfungswohl Zielkonflikte und tierethische Dilemmata im deutschen Kontext
Im raschen Durchgang durch die komplexe Nachkriegsentwicklung von Ernährungsgewohnheiten, Fleischkonsum und Wohlstandsentwicklung in Deutschland ist schon deutlich geworden: Zwischen Tierwohl, Menschenwohl und Schöpfungswohl besteht ein konstitutiver und unlösbarer Zusammenhang, den man nicht leichtfertig auflösen kann. Allerdings ist die Art und Weise, in der dieser Zusammenhang in Produktion, Konsum und Handelsprioritäten gelebt und gestaltet wird, abhängig von gesellschaftlichen Leitwerten, übergeordneten politisch-wirtschaftlichen Interessen und einem gesamtgesellschaftlichen ethischen Normenkonsens, der jeweils von geschichtlichen, soziologischen und politischen Rahmenfaktoren mitgeprägt und verändert wird.
Es macht einen Unterschied,
- ob in der Grundsituation des Versorgungsmangels einer Nachkriegssituation das übergeordnete Interesse an der möglichst raschen Versorgung großer Bevölkerungsgruppen mit Billigfleisch besteht, das als entscheidender Wohlstandsindikator angesehen und gesellschaftlich hoch (bzw. über-)bewertet wird (1960er und 1970er Jahre);
- ob in einer Grundsituation der Diversifizierung und quantitativer wie qualitativer Steigerung von Konsum- und Verbrauchergewohnheiten im Kontext einer etablierten und differenzierten Wohlstandsgesellschaft sich das dominante Interesse auf die Versorgung mit ausgewähltem Edelfleisch und Kompaktfleisch für Fast Food-Belieferungen richtet (1980er und 1990er Jahre);
- oder ob sich im Kontext eines gestiegenen Bewusstseins von der Zusammengehörigkeit von Menschenwohl und Tierwohl ein relevantes gesellschaftliches Interesse auf ethische Standards eines gesundheitlich wie entwicklungspolitisch verantwortlichen Fleischkonsums und ökologisch-medizinische Kriterien der Ernährung richtet (1990er Jahre und erstes Jahrzehnt nach 2000).
Es gibt also reale Zielkonflikte, weil die massenhafte Versorgung mit Billigfleisch, die ebenso massenhafte Versorgung mit Edelfleisch und die Einführung ökologisch verträglicher und begrenzender Ernährungsstile sich teilweise ausschließen und nicht miteinander verträglich sind. Die Ambivalenz einer modernen Landwirtschaft ist in den vergangenen Jahren vielen deutlich geworden: Einerseits hat die Land- und Viehwirtschaft seit Jahren – politisch gewollt und gesteuert – eine erhöhte Leistungsfähigkeit, sogar als Exportbranche, unter Beweis gestellt und damit auch zur wirtschaftlichen Stärkung vieler ländlicher Regionen in Deutschland beigetragen. Im Interesse von Ernährungswirtschaft und Verbrauchern wurden gesellschaftliche Erwartungen an eine kontinuierliche, preisgünstige und massenhafte Versorgung mit tierischen Lebensmitteln erfüllt, die bisher geschichtlich singulär sind. Andererseits sind zunehmend die ökologischen Folgen und globalen entwicklungsbezogenen Grenzen dieses Landwirtschaftsmodells deutlicher bewusst geworden. Die Landwirtschaft ist mit neuen tierethischen und ökologischen Herausforderungen aus der gesellschaftlichen Debatte konfrontiert, die über das bisher dominierende Konzept hinausgehen. Zwischen Tierschutz, ökologischer Nachhaltigkeit, Wirtschaftlichkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Befriedigung einer Massennachfrage gibt es reale Zielkonflikte. Diese Zielkonflikte dürfen aber nicht einfach unter dem Primat der Wirtschaftlichkeit aufgelöst bzw. einseitig ökonomisch entschieden werden, weil und insofern die Überlebensfähigkeit auch zukünftiger Generationen und die ökologische Integrität des Planeten insgesamt auf dem Spiel steht.
Damit wird auch deutlich, dass für die neuen gemeinsamen Zielentscheidungen jeweils nie nur eine Gruppe allein die Verantwortung trägt, sondern dass es um komplexe politisch-ethische Aushandlungsprozesse der beschriebenen Zielkonflikte geht. Das Bemühen um ein umfassendes Wohlstands- und Entwicklungsverständnis bedarf deshalb komplexer Aushandlungsprozesse mit allen Akteuren, mit den Landwirten ebenso wie mit dem Handel, mit der Politik ebenso wie mit den Konsumenten. Dabei darf das Maß und die Ausrichtung des Fleischkonsums nicht mehr als alleiniger Parameter von Wohlstand überhöht werden, sondern muss in Beziehung zu anderen Wohlstandsindikatoren gesetzt werden, die im Kontext der Schöpfungsverträglichkeit auch die Dimensionen des Tierwohles konstitutiv mit reflektieren.
_____________________________________
Fußnoten:
[49] Den Verfassern ist bewusst, dass das Mensch-Tier-Verhältnis sehr viel umfassender ist als das Verhältnis des Menschen zu Nutztieren. Das besondere Interesse dieser Studie aber gilt Letzterem.
[50] Ziegenmilch ist gemeinhin für den Menschen bekömmlicher als Kuhmilch, wird aber traditionell mit Armut assoziiert und wurde daher später weniger industriell genutzt.
[51] Aurelia Moniak: Fleischkonsum in Deutschland. Entwicklung und Nachhaltigkeitsperspektiven, Hamburg 2015, S. 7; http://edoc.sub.uni-hamburg.de/haw/volltexte/2015/3166/pdf/Aurelia_Moniak_BA.pdf.
[52] Zur weiteren wissenschaftlichen Debatte über die Modelle der Subsistenzwirtschaft vgl. Christian Boldt-Mitzka: Historische Theologie der Subsistenz. Grundlagen, Geschichte und Gegenwartsbedeutung selbsterhaltenden Lebens und Arbeitens, Bremen 2015; https://d-nb.info/1072303744/34.
[53] Vgl. Yuval Noah Harari: »Die Bücher unserer Kinder, unsere Ikonografie und unsere Fernsehbildschirme sind noch voller Giraffen, Wölfe und Schimpansen, aber in der wirklichen Welt sind nur noch sehr wenige übrig. Es gibt auf der Welt noch etwa 80.000 Giraffen im Vergleich zu 1,5 Milliarden Rindern, 200.000 Wölfe im Vergleich zu 400 Millionen Haushunden, 50 Millionen Pinguine im Vergleich zu 50 Milliarden Hühnern, 250.000 Schimpansen im Vergleich zu Milliarden von Menschen. Die Menschheit hat die Macht über die Welt übernommen.«, in: Ders., https://www.ynharari.com/de/topic/oekologie/; vgl. auch ders: Eine kurze Geschichte der Menschheit, München 2014.
[54] Darunter wurde damals in den 1960er Jahren eine forcierte Industrialisierung der Landwirtschaft mittels einer Entwicklung von Hochleistungs- und Hochertragssorten, nicht etwa eine ökologische Revolution der Landwirtschaft im heutigen Sinne verstanden.
[55] Vgl. Clemens Dirscherl: Zwischen Verbitterung und Anpassung. Soziale und psychische Folgen industrialisierter Landwirtschaft, in: politische ökologie 154: Zukunftstauglich: Stellschrauben für eine echte Agrarwende, 2018, S. 56 – 62.
[56] Vgl. u. a. https://www.umwelt-im-unterricht.de/hintergrund/fleischkonsum-klima-und-umweltbilanz/.
[57] Vgl. https://www.brot-fuer-die-welt.de/themen/haehnchenexport/.
[58] Vgl. ausführlicher: Clemens Dirscherl: Fleischkonsum und Tierhaltung in der aktuellen gesellschaftsethischen Debatte; http://buel.bmel.de/index.php/buel/article/view/32/Dirscherl-91_3.html.
[59] Es sollte dabei eine besondere Dimension der deutschen Teilungsgeschichte nicht unerwähnt bleiben, die für die forcierte Industrialisierung der Landwirtschaft bis in die Gegenwart massive Folgen hat: In der DDR wurde die wissenschaftliche Rationalität und die Kappung der alten bäuerlichen Wurzeln sehr systematisch betrieben. Dies hat starke Konsequenzen für die Agrarstruktur (sowohl in der Pflanzen- als auch Tierproduktion) auch noch im wiedervereinigten Deutschland. Dies gilt insbesondere für die KIM (Kombinat Industrielle Mast) Geflügelmastbetriebe, die im Gegensatz zu den industriellen Schweinemast-Betrieben der DDR schnell oder fast übergangslos unter neuen Besitzern bis heute erfolgreich fortgeführt werden. So hat der KIM Geflügelmastbetrieb mit angegliedertem Schlachthof in Königs Wusterhausen ca. 1,2 Mio. Mastplätze, der Schweinestallgroßbetrieb Haßleben hatte zu DDR-Zeiten einmal ca. 100.000 Plätze, ist aber mittlerweile auf 37.000 Plätze reduziert. Vgl. u. a.: http://www.lausitz-branchen.de/branchenbuch/2017/01/17/erweiterung-wiesenhof-schlachthof-koenigs-wusterhausen/; vgl. auch: https://www.proplanta.de/Agrar-Nachrichten/Tier/Gericht-stoppt-Schweinemastanlage_article1508215064.html.
[60] Der Fleischverbrauch in der DDR lag mit 94 kg pro Person/Jahr sogar höher als der in der BRD: http://kiezschreiber.blogspot.de/2014/11/die-ddr-fakten-zum-alltaglichen-leben.html; vgl. auch: Fleischverzehr in der DDR. Der Broiler und die Partei, in: http://www.taz.de/!5095133/; zu den genaueren Hintergründen der SED-Agrarpolitik und ihrer Auswirkungen auf Fleischproduktion und -verzehr vgl. die detaillierte Untersuchung von Anett Laue: Das sozialistische Tier: Auswirkungen der SED-Politik auf gesellschaftliche Mensch-Tier-Verhältnisse in der DDR (1949 – 1989), Köln 2017. Neben ausführlichen Kapiteln über »Heimtiere« und den »organisierten Tierschutz in der DDR« interessiert in dieser Untersuchung vor allem das Kapitel zu den »Nutztieren« in der DDR, in dem deutlich wird, wie durch die Totalisierung industriemäßiger Produktionsmethoden der Tierhaltung und »Fleischproduktion« das Tierwohl insgesamt auf der Strecke blieb.
[61] http://www.3sat.de/page/?source=/ard/sendung/174367/index.html.
[62] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/36573/umfrage/pro-kopf-verbrauch-von-fleisch-in-deutschland-seit-2000/
[63] http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/lebensmittelindustrie-in-deutschland-wird-mehr-geschlachtet-als-je-zuvor-1.2850521; vgl. auch https://www.zeit.de/wirtschaft/2018 – 01/fleischatlas-fleischkonsum-deutschland-2018.
[64] Vgl. die Recherchen zur ARD-Sendung: »Geliebt, gequält, getötet« 2018: http://www.ard.de/home/ard/Geliebt__gequaelt__getoetet__Mensch_und_Tier/4628594/index.html.
[65] Vgl. aus einem Artikel über sein Buch: Richard David Precht: Tiere denken: Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen, München 2018; https://www.zeit.de/angebote/buchtipp/precht-3/index.
[66] Auch in der Rinderhaltung wird teilweise selektive Züchtung betrieben, es wird »gesext«, um durch Embryonentransfer zum Beispiel weiblichen Nachwuchs für die Milchviehhaltung zu bekommen.
[67] Vgl. exemplarisch z. B. Deutscher Bauernverband, Situationsbericht 2016/2017: Trends und Fakten zur Landwirtschaft, Landwirtschaft im Jahrhundertvergleich; http://media.repro-mayr.de/49/664449.pdf.
[68] Deutscher Bauernverband 2019: Situationsbericht 2018/2019: https://www.bauernverband.de/35-arbeitskraefte-und-auszubildende-807292. Der berufliche Ausbildungsgrad der Landwirte hat sich gerade bei den jungen Betriebsleitern in Deutschland während der letzten Jahre deutlich erhöht. Im Jahr 2016 verfügten 35 % der Betriebsleiter lediglich über praktische landwirtschaftliche Erfahrungen. 65 % aller landwirtschaftlichen Betriebsleiter hatten eine abgeschlossene landwirtschaftliche Berufsausbildung. Von diesen ausgebildeten Betriebsleitern hatten wiederum 12 % einen Hochschulabschluss.
[69] Vgl. etwa ein Online-Shop für Wurstwaren, der Fotos der hinter ihnen stehenden individuellen Schweine ablichtete, um so den Anspruch einer tiergerechten Tierhaltung zu untermauern: https://www.tz.de/welt/wurst-zeigt-bilder-verarbeitetenschweinen-1612246.html.
[70] Das Diktum »Essen Sie nur, was Sie auch selbst töten« begegnet u. a. in neueren philosophischen Ansätzen der Tierethik wie z. B. Richard David Precht: Tiere denken. Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen, München 2016; vgl.: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/richard-david-precht-veroeffentlich-buch-tiere-denken-14485452-p2.html. Das Diktum wird in unterschiedlichen Variationen ebenso zitiert in Debatten zu bewusstem Fleischkonsum und Öko-Landbau; vgl. z. B. der Biobauer und Ökoferkelproduzent Bernd Schulz aus ostdeutschem Kontext in einem Artikel von 2012 in der Welt: https://www.welt.de/regionales/berlin/article13884221/Verbraucher-waehlen-Schwein-fuer-ihre-Wurst.html.
[71] Vgl. Europarat: Europäisches Übereinkommen zum Schutz von Tieren in landwirtschaftlichen Tierhaltungen – Empfehlungen in Bezug auf Haushühner der Art Gallus Gallus; https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Tier/Tierschutz/GutachtenLeitlinien/EU-HaltungHaushuehner.pdf?__blob=publicationFile; Europarat: Europäisches Übereinkommen zum Schutz von Tieren in landwirtschaftlichen Tierhaltungen – Empfehlungen in Bezug auf Puten (Meleagris gallopavo ssp.); https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Tier/Tierschutz/GutachtenLeitlinien/EU-HaltungPuten.pdf;jsessionid=AC01B2B4317CE210A245AF80F24B778E.2_cid288?__blob=publicationFile; Europarat: Europäisches Übereinkommen zum Schutz von Tieren in landwirtschaftlichen Tierhaltungen – Empfehlungen für das Halten von Schweinen: https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Tier/Tierschutz/GutachtenLeitlinien/EU-HaltungSchweine.pdf?__blob=publicationFile.
[72] Vgl. u. a.: Greenpeace: Kursbuch Agrarwende 2050. Ökologisierte Landwirtschaft in Deutschland; https://www.greenpeace.de/sites/www.greenpeace.de/files/publications/20170105_studie_agrarwende2050_lf.pdf; Karl-Werner Brand (Hrsg.): Von der Agrarwende zur Konsumwende? Die Kettenperspektive. Ergebnisband 2, Band 5 (der SÖF-Buchreihe), 2006; http://www.konsumwende.de/aktuelles_fr.htm; ebenso: http://ernaehrungsdenkwerkstatt.de/public-health-nutrition/nutrition-policy/ernaehrungswende.html; https://www.presseportal.de/pm/7666/3845072.
[73] Vgl. https://www.bmel.de/DE/Tier/Tierwohl/tierwohl_node.html; und: https://www.tierwohl-staerken.de/aktuelles/news-details/news/seit-15-jahren-steht-der-tierschutz-im-grundgesetz/.
[74] Leitbild Nutztierhaltung. Deutscher Bauernverband 2013. Siehe: http://www.slb-dresden.de/dokumente/Leitbild-Nutztierhaltung.pdf, Seite 3.
[75] http://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Ministerium/Beiraete/Agrarpolitik/GutachtenNutztierhaltung.pdf?__blob=publicationFile.
[76] Vgl. »Tierethiker kritisieren Routine des Fleischkonsums«, in: https://www.landeskirche-hannovers.de/evlka-de/presse-und-medien/nachrichten/2018/02/2018_02_26_3.
[77] https://de.statista.com/infografik/10875/vegetarier-und-veganer-in-oesterreich-nach-soziodemografischen-merkmalen/.
[78] Vgl. u. a. https://vebu.de/veggie-fakten/entwicklung-in-zahlen/anzahl-veganer-und-vegetarier-in-deutschland/.
[79] Vgl. u. a. Bernd Ulrich: Wie es ist, Tiere nicht mehr zu benutzen, in: Zeit-Magazin, Nummer 32, 2. August 2018.
[80] Vgl. eine Rezension zum Buch Richard David Precht: Tiere denken: Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen; http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/richard-david-precht-veroeffentlich-buch-tiere-denken-14485452.html.
[81] Nick Fox and Katie Ward: Health, ethics and environment: a qualitative study of vegetarian motivations, 2008; https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/17980457.
[82] https://www.telegraph.co.uk/science/2018/04/26/third-early-deaths-could-prevented-everyone-giving-meat-harvard/.
[83] Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland: Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben. Die Agenda 2030 als Herausforderung für die Kirchen. Ein Impulspapier der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung, EKD-Texte 130, Hannover 2018, S. 37 ff; https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/ekd_texte_130_2018.pdf.
[84] Wolfgang Huber: Selbstbegrenzung aus Freiheit. Über das ethische Grundproblem des technologischen Zeitalters, in: Ev. Theol 52, 1992, S. 128 – 145; Evangelische Kirche in Deutschland: Umkehr zum Leben. Nachhaltige Entwicklung im Zeichen des Klimawandels. Denkschrift des Rates der EKD, 2009, https://www.ekd.de/klimawandel.htm, S.155 – 157; Hans Diefenbacher et al.: Freiheit zur Begrenzung – Strategischer Rahmen für die Arbeit der EKD und ihrer Gliedkirchen im Bereich Nachhaltige Entwicklung, 2016, S. 11 – 13, https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/Freiheit%20zur%20Begrenzung%202018 %2001.pdf; vgl. Evangelische Kirche in Deutschland: Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben. Die Agenda 2030 als Herausforderung für die Kirchen. Ein Impulspapier der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung, EKD-Texte 130, Hannover 2018, S. 31 ff; https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/ekd_texte_130_2018.pdf.