Soll es künftig kirchlich geschlossene Ehen geben, die nicht zugleich Ehen im bürgerlichrechtlichen Sinne sind?
Zum evangelischen Verständnis von Ehe und Eheschließung - Eine gutachterliche Äußerung, EKD-Texte 101, 2009, Hg. Kirchenamt der EKD
I. Der konkrete Anlass und sein historisch-kultureller Kontext
1. Anlass
Zum 1. Januar 2009 ist das staatliche Verbot, eine kirchliche Trauung vor der standesamtlichen Eheschließung vorzunehmen, weggefallen. Diese Gesetzesänderung gibt der Evangelischen Kirche in Deutschland Anlass für eine neue und intensive Beschäftigung mit Eheverständnis und Traupraxis der evangelischen Kirche sowie mit dem kirchlichen und staatlichen Eherecht.
Das Eherecht steht seit den Anfängen der christlichen Kirche in einem wechselvollen Spannungsverhältnis zwischen staatlicher und kirchlicher Sphäre. Während es in den ersten Jahrhunderten den bestehenden Sitten und rechtlichen Gepflogenheiten folgte, unterlag es im Mittelalter einer zunehmenden Verkirchlichung. Für Luther ist die Ehe ein „göttlicher Stand“, der aber für die Erlangung des Heils keine Bedeutung hat und deshalb dem weltlichen Regiment unterliegt. Im Traubüchlein unterschied der Reformator bei der Eheschließung strikt zwischen weltlichen und kirchlichen Elementen. In der nachfolgenden Zeit wurde diese Trennung in der Traupraxis zunehmend undeutlich. In der Regel führte der Pfarrer bei der kirchlichen Trauung des Paares als Vertreter der Obrigkeit zugleich die weltliche Gültigkeit herbei. Diese Verschränkung fand ein abruptes Ende mit der Einführung der obligatorischen Zivilehe durch die Zivilstandsgesetzgebung des Deutschen Reiches im Jahre 1875. Fortan konnten kirchliche Trauungen keine bürgerlich-rechtlichen Wirkungen mehr vermitteln und waren vor einer standesamtlichen Eheschließung bei Strafandrohung verboten (§ 67 PStG 1875). Das Verbot der religiösen Voraustrauung wurde nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland rechtspolitisch wiederholt in Frage gestellt, doch erst zum 1. Januar 2009 abgeschafft. Seitdem ist es den Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften rechtlich nicht mehr untersagt, religiöse Trauungen ohne vorhergehende standesamtliche Eheschließung vorzunehmen. Solche Trauungen entfalten allerdings nicht die bürgerlich-rechtlichen Rechtswirkungen einer Ehe.
Die römisch-katholische Kirche begrüßt diese Entwicklung grundsätzlich als Beseitigung eines Eingriffs in die Religionsfreiheit aus der Zeit des bismarckschen Kulturkampfes. Die Deutsche Bischofskonferenz hat mit Wirkung zum 1. Januar 2009 eine Ordnung für kirchliche Trauungen bei fehlender Zivileheschließung in Kraft gesetzt, nach der ausnahmsweise eine rein kirchliche Trauung vorgenommen werden kann, wenn eine standesamtliche Eheschließung für die Brautleute unzumutbar ist und das nihil obstat des Ortsordinarius eingeholt wurde.
Im Bereich der evangelischen Kirchen finden sich hingegen bis heute in den Lebensordnungen der gliedkirchlichen Zusammenschlüsse und in den gliedkirchlichen Traubestimmungen mit §§ 67, 67a PStG (alte Fassung)[1] korrespondierende Bestimmungen. Das im evangelischen Kirchenrecht fortbestehende Verbot der kirchlichen Voraustrauung galt bislang auch als Ausdruck des evangelischen Eheverständnisses.
2. Historisch-kultureller Kontext
Die evangelische Kirche hat sich zunächst gegen die obligatorische Zivilehe gewehrt, konnte sich aber nach 1875 mit dem Verbot der religiösen Voraustrauung schnell arrangieren, weil sie sich mit ihrem Eheverständnis hinreichend im staatlichen Eherecht wiederfand. Die wesentlichen Merkmale des christlichen Ehebegriffs wurden im Zuge dieser Entwicklung von der staatlichen Rechtsordnung übernommen: die öffentlich dokumentierte, dauerhafte, ausschließliche und freiwillig eingegangene Verbindung von Mann und Frau, die für Kinder offen ist. Allein in der bürgerlich-rechtlichen Ehe mit rechtlich umfassender Wirkung nach außen konnten im Ergebnis wesentliche sowohl für das christliche als auch das staatliche Eheverständnis konstitutive Merkmale verwirklicht werden. Die so definierte zivile Ehe war der Sache nach weitgehend identisch mit dem evangelischen Leitbild der Ehe, weil sie auf gegenseitigen Rechten und Pflichten und den Prinzipien der Solidarität und Verantwortung beruhte und den Ehegatten und in der Ehe aufwachsenden Kindern maximalen Schutz gewährleistete.
Mit der evangelischen Trauung erhielt eine solchermaßen qualifizierte Verbindung die Fürbitte und den Segen, nicht, weil sich das christliche Eheverständnis vom staatlichen Eheverständnis abhängig machte, sondern weil letzteres die äußeren Bedingungen für ein Leben gemäß dem evangelischen Leitbild schaffte.
Die beschriebenen Grundannahmen des evangelischen Eheverständnisses und Traurechts werden durch die Veränderung staatlicher Rahmenbedingungen im letzten Jahrzehnt tendenziell in Frage gestellt. Falls sich diese Entwicklung fortsetzt, könnte es zu einer Abkoppelung des staatlichen Eherechts vom evangelischen Eheverständnis kommen.
Veränderungen im staatlichen Eheverständnis bewirkt insbesondere ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Juli 2002. Diese Entscheidung lässt sich so verstehen, dass das Gebot der Förderung der Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG keine zwingende Besserstellung der Ehe im Vergleich zu anderen Lebensformen umfasst.
In der Linie einer solchen Deutung des Grundgesetzes liegt die zunehmende Verrechtlichung anderer Lebensformen durch die Schaffung besonderer Rechtsformen wie der Lebenspartnerschaft als Eheersatz für gleichgeschlechtliche Partner im Jahre 2001 oder auch der Einrichtung des gemeinsamen Sorgerechts für Eltern nichtehelicher Kinder. Für diese Entwicklungen gibt es gewichtige eigene Gründe. Freilich wird mit ihnen eine Dynamik in Gang gesetzt, deren Ausgang momentan noch nicht absehbar ist. Doch Tendenzen zeichnen sich ab. Lange Zeit hat das verfassungsrechtliche Förderungsgebot von Ehe und Familie – als Abstandsgebot verstanden – andere Lebensformen in einem weitgehend rechtsfreien Raum belassen. Die Betroffenen haben teils bewusst, teils mangels Alternativen die mit der Ehe verbundenen Rechte und Pflichten vermieden. Infolge der zunehmenden rechtlichen Aufwertung anderer Lebensformen entsteht nun ein graduelles Schutzsystem. Die Absage an einen festen Mindestabstand zwischen Ehe und anderen Lebensformen bewirkt zudem einen politischen Druck, die anderen Lebensformen dem hergebrachten Institut der Ehe rechtlich anzunähern. Insgesamt bricht mit der beschriebenen Entwicklung die Frage auf, ob der Abschluss der Zivilehe weiterhin als Teil des evangelischen Leitbildes der Ehe zu verstehen ist – und, wenn ja, aus welchen Gründen.
3. Gesellschaftliche Veränderungen
Die beschriebene Rechtsentwicklung findet ihre Bestätigung und Erklärung durch entsprechende sozial-empirische Beobachtungen.
Im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen und eines durch reformorientierte soziale Bewegungen unterstützten Wertewandels wurden Ehe und Familie seit den 1970er Jahren von einem tief greifenden Strukturwandel erfasst, der auf das Verständnis der Ehe und die Praxis der Eheschließung eingewirkt hat. Wesentliche Kennzeichen dieser Veränderungen – nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern in einem europäischen Trend, der auch die DDR einschließt – sind: die Veränderung der Familiengröße infolge sinkender Kinderzahlen, die abnehmende Zahl der Eheschließungen und Zunahme der Ehescheidungen sowie die Zunahme der nichtehelichen Lebensgemeinschaften und alternativer Lebensformen.
Grundsätzlich gleich geblieben und statistisch immer wieder bestätigt ist der Wunsch der meisten Menschen, in einer verbindlichen Partnerschaft zu leben und Kinder in einer Familie aufzuziehen. Trotz der wachsenden Bedeutung alternativer Lebensformen lebten 2006 in Westdeutschland gut drei Viertel der minderjährigen Kinder (77% gegenüber 1996: 84%) bei ihren verheirateten Eltern, in Ostdeutschland waren es zur gleichen Zeit nur noch gut die Hälfte (58% gegenüber 1996: 72%).
In diesen Befunden treffen unterschiedliche Entwicklungsstränge aufeinander, die eine Orientierung und Bewertung erschweren:
- Die Rechtsentwicklung hat zu mehr Gleichberechtigung und Autonomie, auch innerhalb von Ehe und Familie, geführt. Gleichzeitig hat sie Entdiskriminierung und Anerkennung alternativer Lebensformen mit sich gebracht. Das betrifft insbesondere die Gleichberechtigung von Mann und Frau. In Westdeutschland wurde dies durch die Familienrechtsreform von 1977 umgesetzt, verbunden mit der Aufgabe des Leitbildes der Hausfrauenehe und des Schuldprinzips bei Ehescheidungen und unter Beibehaltung einer nachehelichen Solidarität für den ökonomisch schwächeren Teil. In diesen Zusammenhang gehören auch noch die zunehmende Anerkennung eigenständiger Rechte des Kindes und die Gleichstellung der nicht in einer Ehe geborenen Kinder im Kindschaftsrecht.
- Diese Entwicklung wird begleitet von veränderten Geschlechterrollen, insbesondere der Frau, von größeren Erwartungen an die Qualität einer ehelichen Beziehung und einer stärkeren Zentrierung auf das Wohl und die Erziehung der Kinder. Die Verheiratung ist heute jedoch nicht mehr die Voraussetzung, sondern eher eine mögliche Folge einer Familiengründung; in Ostdeutschland wird mehr als die Hälfte (2006: 60 %), in Westdeutschland ein Viertel (24%) der Kinder außerhalb der Ehe geboren. Da zudem jede dritte Ehe nicht mehr lebenslang hält und nichteheliche Lebensgemeinschaften und Lebenspartnerschaften in der Gesellschaft gleichermaßen anerkannt sind und gelebt werden, konstatiert die Familienforschung einen Bedeutungsverlust der Ehe.
- Bei der Beurteilung gesellschaftlichen Wandels sind in Deutschland seit 1989 grundsätzlich zwei unterschiedliche historische Prägungen und politische Entwicklungen zu berücksichtigen. Dies gilt auch für die Formen des privaten Lebens. Die Gleichberechtigung der Frau wurde in der DDR vor allem durch ihre Einbeziehung in das Erwerbsleben vorangetrieben. Wie die Daten zum Strukturwandel der Familie im Ost-West-Vergleich zeigen, wurden die Entwicklungen etwa zur Entkoppelung von Ehe und Familie oder zur Vielfalt anderer Lebensformen in der DDR vorweggenommen. Bis heute ist es nicht zu einer völligen Angleichung der Lebensformen und Orientierungen in Ost- und Westdeutschland gekommen. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang, dass andere, auch westeuropäische, Länder ähnliche Veränderungen der Familienstruktur aufweisen, etwa im Hinblick auf Ehescheidungen, Zunahme der nichtehelichen Lebensgemeinschaften und nichtehelichen Geburten (vgl. zu letzteren: 2005 in Großbritannien 43%, Frankreich 48% und Schweden und Norwegen 52 bzw. 55%).
- (West-)Deutschland hat sich seit den 1960er Jahren zu einer Zuwanderungsgesellschaft entwickelt. Legt man nicht die Staatsbürgerschaft, sondern die Migrationsgeschichte zugrunde, so kommt man auf einen Anteil von 18,6 % der Wohnbevölkerung mit Migrationshintergrund; bei Kindern unter 6 Jahren steigt der Anteil auf 32,5 %. Die Zahl der binationalen – und damit meistens auch: bireligiösen – Eheschließungen steigt langsam, aber deutlich: Im Jahr 2006 waren 6 % aller bestehenden, aber 12 % aller neu geschlossenen Ehen binational.
Fußnoten:
1
§ 67 PStG [Kirchliche Trauung]
Wer eine kirchliche Trauung oder die religiösen Feierlichkeiten einer Eheschließung vornimmt, ohne dass zuvor die Verlobten vor dem Standesamt erklärt haben, die Ehe miteinander eingehen zu wollen, begeht eine Ordnungswidrigkeit, es sei denn, dass einer der Verlobten lebensgefährlich erkrankt und ein Aufschub nicht möglich ist oder dass ein auf andere Weise nicht zu behebender schwerer sittlicher Notstand vorliegt, dessen Vorhandensein durch die zuständige Stelle der religiösen Körperschaft des öffentlichen Rechts bestätigt ist.
§ 67 a PStG [Anzeigepflicht bei kirchlicher Trauung]
Wer eine kirchliche Trauung oder die religiöse Feierlichkeit einer Eheschließung vorgenommen hat, ohne dass zuvor die Verlobten vor dem Standesamt erklärt hatten, die Ehe miteinander eingehen zu wollen, begeht eine Ordnungswidrigkeit, wenn er dem Standesamt nicht unverzüglich schriftlich Anzeige erstattet.