Experimente zwischen Touchscreen und Orgelpfeifen
Wie ein schwäbischer Kirchenmusiker das Orgelspiel revolutioniert
Der Organist Peter Ammer kann sich beim Orgelspielen zuhören, ohne einen Finger zu krümmen. Was wie der Zaubertrick eines Magiers erscheint, ist einem technischen Meisterwerk zu verdanken: seiner digitalisierten Pfeifenorgel.
Nagold. Schon auf den ersten Blick ahnt man, dass die Orgel in der Stadtkirche von Nagold ungewöhnlich ist. Direkt neben zahllosen Pfeifen, Registern und einem Spieltisch mit vier Manualen sieht man nämlich einen Computer-Bildschirm, wie man ihn bei der ehrwürdigen „Königin der Instrumente“ nicht erwartet.
„Seit der Restaurierung 2012 digitalisieren wir unsere Weigle-Orgel“, sagt der Organist Peter Ammer. Neben dem Touchscreen, womit er unter anderem sein Spiel aufnehmen kann, gehört dazu ein elektrisches Magnetsystem, das die 60 Register steuert und den Anschlag der Tasten simuliert, sowie eine Daten-Schnittstelle. Seit Kurzem ist auch ein transportabler Spieltisch Teil der Nagolder Orgel-Landschaft. Selbst die Töne der 3932 Pfeifen hat der schwäbische Orgelpionier „sampeln“ lassen, also jede einzeln aufgenommen und digitalisiert.
„Wir können ihre Töne jetzt auch über Lautsprecher abspielen“, so der experimentierfreudige Bezirkskantor und Kirchenmusikdirektor. Mittlerweile hat der 56-Jährige, der sich die Stelle mit seiner Frau teilt, viele Neuerungen aus dem Orgelbau in sein Orgelprojekt integriert, um sie vorführen und ausprobieren zu können. Ammer sieht sich dabei als Vordenker: „Ich will herausfinden, was wir für den Gemeindegesang hier und an anderen Orten mittels Digitalisierung von Pfeifenorgeln verbessern können.“ Nicht zuletzt wolle er im Jahr der Orgel damit auch einen Beitrag für den Erhalt des Instruments leisten.
Das Projekt heißt „Singen – Orgel 4.0“ und wird von der Württembergischen Landeskirche sowie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Spendern gefördert. Ammer arbeitet außerdem eng mit dem Zentrum für Musikinformatik an der Musikhochschule Detmold zusammen. Mit Fördermitteln aus dem Innovationsfond der EKD wird beispielsweise gerade die Programmierung einer Midi-Bridge als Schnittstelle zwischen Orgel und Computer finanziert.
Um die Pfeifen der Orgel zum Klingen zu bringen, muss Ammer jetzt nicht mehr oben auf der Empore sitzen, von wo aus er die Gemeinde kaum sieht. Jetzt kann er inmitten der Gemeinde am neuen Spieltisch musizieren und unmittelbar auf ihren Gesang reagieren. „Das macht unglaublich viel aus.“ Der Spieltisch ist mit der Orgel nur durch ein Kabel verbunden.
Noch einen weiteren Vorteil bringt die Digitalisierung: Ammer, der auch Präsident des Verbandes Evangelischer Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker in Deutschland ist, kann nun den Zusammenklang von Hauptorgel, Rückpositiv und Chororgel so wahrnehmen, wie ihn auch seine Zuhörer erleben. Der Nachhall in der neugotischen Orgel beträgt immerhin mehr als fünf Sekunden.
Ammer ist überzeugt, dass sich für die Orgelmusik durch sein Projekt neue klangliche Möglichkeiten eröffnen. „Ich kann mit der Orgel mittels Laptop und entsprechender Software Klavier- oder Saxophonsounds spielen. Oder Notensätze direkt vom Computer spielen lassen“. Die Orgel sei ein Multitool geworden, es gebe kaum Grenzen, sagt Ammer. Man könne sie Melodien und Improvisationen spielen lassen. „Die Orgel kann im Notfall sogar ohne Organisten den Gottesdienst begleiten - wenn sich kein Organist findet, was auf dem Land immer öfter der Fall ist.“
Und doch sieht Ammer den Einzug der digitalen Technik nicht unkritisch. Vor allem bei rein digitalen Orgeln, die keine Pfeifen, sondern nur Lautsprecher haben. „Das ist ein ordentlich gemachter Fake, aber eben kein Original“, sagt Ammer. An manchen Einsatzorten seien diese Orgeln praktisch, aber ihr Klang reiche nicht annähernd ans Original heran. „Pfeifen bringen alle Obertöne zum Schwingen und Klingen ohne durch die Mechanik gesetzte Grenzen. Das ergreift den ganzen Menschen.“
So faszinierend die technischen und musikalischen Möglichkeiten solch einer digitalisierten Orgel seien, so wichtig sei es, die Folgen in den Blick zu nehmen, sagt Ammer. „Das Projekt hat zum Ziel, mit dem Einsatz von Digitalisierung das Singen der Gemeinde bestmöglich zu unterstützen und zu fördern und zum Beispiel auch die Auswirkungen auf den Gottesdienst zu diskutieren. Wenn das Projekt letztlich mehr Menschen zum Erlernen des Orgelspiels bringt, ist ein weiteres Ziel erreicht.“
Vom 16. bis 18. April will Ammer ein Orgelsymposion für Orgelbauer, Kirchenmusiker, Pfarrer u.a. veranstalten. Fest steht aber schon jetzt: „Die Orgel ist ein vielseitiges, faszinierendes Instrument. Die Digitalität macht sie noch universeller und interessanter.“
Von Sven Kriszio
Ausführliche Informationen zum Projekt und Anmeldung zum Symposion sind unter www.Nagolder-Orgelakademie.de zu finden.
Die Evangelische Kirche in Deutschland unterstützt innovative digitale Projekte und will damit den Wandel der Kirche hin zu mehr digitalen Angeboten fördern. Dazu gibt es den Digital-Innovationsfonds, der eine Million Euro umfasst. Weitere innovative Projekte, aber auch Informationen zur Antragsstellung finden Sie auf der EKD-Seite zum Fonds.