Antisemitismus

Vorurteile, Ausgrenzungen, Projektionen und was wir dagegen tun können

Gefährliche Projektionen

Wirtschafts- und Finanzsektor

Antisemitismus entwirft ein fiktives Bild von »den Juden« und benutzt es, um die Welt zu erklären. Komplizierte gesellschaftliche Zusammenhänge werden auf ein stark vereinfachendes Gut-Böse-Schema reduziert. Dieser Charakter der »Weltanschauung« unterscheidet den Antisemitismus von anderen Formen »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit«.

Im Mittelalter wurden Juden aus den Zünften und dem öffentlichen Leben ausgeschlossen. Grundbesitz wurde ihnen verwehrt. Die dadurch bedingte Spezialisierung vieler Juden auf den Finanz- und Handelssektor führte dazu, dass Juden pauschal als Wucherer und Betrüger verleumdet wurden. Daraus entstand unter den Bedingungen der Industriegesellschaft das Stereotyp des »jüdischen Kapitalisten«. Die Vorstellung, die Juden seien eine eingeschworene Gruppe, die mit ihrem Geld und Einfluss das Weltgeschehen bestimme, konnte daran anknüpfen.  

Antisemitische Einstellungen funktionieren unabhängig davon, ob es im konkreten Lebensumfeld Jüdinnen und Juden gibt oder nicht. Wo Begegnungsmöglichkeiten fehlen, sind Projektionen aber umso einfacher und entfalten eine starke Wirkung.

 

Nahostkonflikt

Besonders im Blick auf den Staat Israel und den Nahostkonflikt tauchen die altbekannten antisemitischen Stereotype und Vorurteile wieder auf.

Die in der politischen Auseinandersetzung verwendeten Bilder zielen bewusst auf die Gefühle der Betrachter. Der Stärkere wird intuitiv als der »Böse« wahrgenommen. Besonders oft werden in Aufrufen zur Solidarität mit den Palästinensern Kinder als Opfer abgebildet. Herkunft, Echtheit und Intention der benutzten Bilder werden selten hinterfragt. Sie kursieren in den sozialen Netzwerken in großer Zahl. Plakate mit der Aufschrift »Israel Kindermörder«, die auf antiisraelischen Kundgebungen häufig zu sehen sind, und ähnliche Parolen in Zeitungen und Pamphleten knüpfen ‒ unbewusst oder gezielt ‒ an Legenden früherer Jahrhunderte an. Bereits im Mittelalter wurden den Juden rituelle Kindsmorde und Kannibalismus unterstellt.

Im klassischen Antisemitismus galten die Ju­den als »Weltbrandstifter«. Heute wird dem Staat Israel vorgeworfen, den Weltfrieden zu bedrohen. Verschwörungstheorien kursieren im Internet in großer Zahl. Das Wort »Juden« wird dabei oft einfach durch »Zionisten« ersetzt. 

Antisemitisch ist es auch, wenn Demonstratio­nen gegen die Politik der israelischen Regierung in Deutschland gezielt vor einer Synagoge stattfinden.

Während offen antijüdische Äußerungen noch weithin tabu sind, findet der Antizionismus
immer mehr Zustimmung. Teilweise gilt er sogar als Beweis für eine mutige und kritische Haltung, die sich keinen »moralischen Maulkorb« im Sinne politischer Korrektheit verpassen lässt. 

Wie bei allen anderen Staaten darf auch die israelische Regierung selbstverständlich in sachlicher Weise kritisiert werden. Antisemitisch ist die Kritik an der Regierungspolitik Israels dann, wenn sie mit unterschiedlichen Maßstäben misst. Antisemitisch ist sie auch, wenn sie dem Staat Israel das Existenzrecht abspricht oder den Staat dämonisiert. Antisemitisch ist auch die Gleichsetzung von palästinensischen Flüchtlingslagern mit KZs. Dieser Vergleich verharmlost den systematisch geplanten und industriell durchgeführten Massenmord an europäischen Jüdinnen und Juden. Er dient oft dem Zweck, sich der Auseinandersetzung mit der Shoah und der Übernahme historischer Verantwortung zu verweigern.

Antisemitische Klischees mischen sich gelegent­lich auch mit der Kritik des kapitalistischen Wirtschaftssystems und der Globalisierung. In diesem Zusammenhang wird »der Zionismus« gern als wirtschaftsimperialistische und rassistische Ideologie diffamiert.

Vor dem Hintergrund der Zuwanderung aus arabischen und nordafrikanischen Ländern erfordert die Verbreitung antisemitischer Kommentare und Filme im Internet besondere Aufmerksamkeit. Die oft einseitige Berichterstattung arabischer Satellitenkanäle prägt insbesondere die feindliche Einstellung zum Staat Israel. Der Nahostkonflikt wird für Jugendliche zur Projektionsfläche für die eigenen Erfahrungen von Ausgrenzung, Rassismus und Chancenlosigkeit in der deutschen Einwanderungsgesellschaft.

Die Sorge vieler Deutscher vor Überfremdung und die Angst vor wirtschaftlichen Nachteilen waren schon früher ein gefährlicher Nährboden für Antisemitismus und die Suche nach Sündenböcken.

 

Was hilft?

Bildung: Notwendig ist nicht nur Sachwissen zu vermitteln, sondern vor allem die Fähigkeit zur kritischen Urteilsbildung und das Einfühlungsvermögen zu entwickeln (»Herzensbildung«).
Persönliche Begegnungen: Sie können Vorurteile entlarven. Erzählte Lebensgeschichten führen aus der Welt der Projek­tionen zurück in die reale Welt.
Selbstbewusstsein: Eine Lebenshaltung, die sich an der von Gott geschenkten Freiheit orientiert, hat es nicht nötig, Identität und Selbstwertgefühl durch die Herabsetzung und Ausgrenzung anderer zu gewinnen. 
Vernetzung: Eine wirksame Bekämpfung des Antisemitismus in all seinen Spielarten braucht die enge Zusammenarbeit vieler fachkundiger Menschen in Politik und Gesellschaft. Die Kirchen können und müssen einen wesentlichen Beitrag dazu leisten.

 

Das Judentum ist geprägt durch eine vielfältige und reiche Kultur. Juden sind keine homogene Gruppe. Sie unterscheiden sich wie alle anderen Menschen in ihren politischen und religiösen Überzeugungen. 

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