Helfer der Unsichtbaren
Franz Kaufmann wurde vor 75 Jahren im KZ Sachsenhausen erschossen
Am 16. Januar sahen 2,77 Millionen Zuschauer die von der ARD gesendete TV-Premiere von Claus Räfles Dokudrama „Die Unsichtbaren“ über in Berlin untergetauchte Juden. Über den Protagonisten Cioma Schönhaus erfahren die Zuschauer in Interviewausschnitten und nachgestellten Spielfilmszenen auch etwas über Franz Kaufmann und Helene Jacobs. Wer waren diese beiden mutigen Menschen, die Cioma Schönhaus und vielen anderen das Leben retteten?
Franz Kaufmann, geboren am 5. Januar 1886, wächst in einer jüdischen Familie in Berlin auf, als Kind lassen seine Eltern ihn taufen. Nach Jurastudium und Referendariat dient der deutschnationale Jungakademiker im Ersten Weltkrieg als Offizier. In der Weimarer Republik schließt er seine Promotion ab und ist als Verwaltungsjurist in unterschiedlichen Ministerien und Behörden tätig, zuletzt als Oberregierungsrat im Rechnungshof des Deutschen Reiches. Ende 1935 wird Kaufmann nach den Nürnberger Rassegesetzen mit 49 Jahren zwangspensioniert, 1939 kürzt man ihm die Pension.
Franz Kaufmann studiert im Zwangsruhestand als Gasthörer Theologie und besucht den Bibelkreis der NS-kritischen evangelischen Bekenntnisgemeinde in Berlin-Dahlem und deren theologische Arbeitsgemeinschaft, später nimmt er dort auch an dem Kurs für Laienprediger teil. Kaufmann, selbst durch seine Frau Margot von Walther – nach der Naziterminologie eine „Arierin“ – relativ geschützt, unterstützt andere rassisch Verfolgte.
Hilfe – auch durch Bestechung
Als er von der Deportation eines befreundeten Ehepaares erfährt, berichtet er Vertrauten aus der theologischen Arbeitsgemeinschaft von der Abholung durch einen unscheinbaren und korrekt wirkenden Beamten: „Ich stelle mir diesen braven Mann vor, der als getreuer Untertan sein Leben rechtlich und redlich verbringt und sich vor jedem Vergehen hütet, geschweige denn eines Verbrechens fähig wäre. Nun, da der Staat es befiehlt, geht er hin und leitet ein Verbrechen ein, das in unserem bisherigen Leben keine Parallele hat. Er tut dies als seine ‚Pflicht' und ist imstande, danach sein bürgerlich geordnetes Leben guten Gewissens fortzusetzen, als wenn nichts geschehen wäre.“ Sich selbst und die Mitchristen fragte Kaufmann: „Sind auch wir imstande, dies alles geschehen zu lassen, … (uns) ein ruhiges Gewissen zu lassen, als wenn nichts geschehen wäre? … Wo ist unsere Gemeinschaft im Glauben, wenn wir die Gefahr der Verfolgten nicht mit ihnen teilen?“ Zusammen mit Helene Jacobs und anderen beschließt er, unter allen Umständen „die Gemeinschaft mit den Verfolgten zu halten“. Helene Jacobs, geboren am 25. Februar 1906, ist Anwaltsgehilfin und engagiert sich als Protestantin und Nazigegnerin schon länger für Verfolgte.
Kaufmann bemüht sich zunächst, über alte Beziehungen zu verschiedenen Ministerien Kontakt aufzunehmen, um diese zu einem Einschreiten gegen die Deportationen zu bewegen. Als dies erfolglos bleibt, versucht er möglichst viele Einzelne vor der Deportation in den Osten zu bewahren. Dazu vermittelt Kaufmann den Bedrohten, mitunter auch durch Bestechung, Arbeitsstellen in Rüstungsfabriken. Ausländische Diplomaten werden gedrängt, „Nichtarier“ im Büro oder im Haushalt zu beschäftigen, Kranke erhalten Atteste. Durch Mittelsmänner werden sogar Gestapobeamte bestochen. Helene Jacobs schildert dies rückblickend: „In anderen Fällen wieder, in denen die Verschleppung bereits geschehen war, versprach man die Einordnung in solche Gruppen, die von der Vernichtung verschont bleiben würden. Jeden dieser Schritte ließen sich die Gestapoleute wie ihre Mittelsmänner hoch bezahlen … Doch schien es wichtiger, den Verschleppten noch die brüderliche Hand nachzustrecken, als der eigenen Befleckung durch die Gemeinschaft mit den Verbrechern unter allen Umständen auszuweichen“.
Als der NS-Staat das Tempo der Deportationen steigert und der Krieg sich in die Länge zieht, geht man 1942 dazu über, Christen jüdischer Herkunft und anderen „Nichtarieren“ beim Untertauchen in die Illegalität und bei der Flucht ins Ausland zu helfen. Um die Untergetauchten zu verstecken und mit Lebensmitteln zu versorgen, bittet der Kreis gleichgesinnte Freunde und andere Bekenntnisgemeinden um Verstecke, Lebensmittelmarken, Geld und andere „Liebesgaben“. Als die Spenden nicht mehr ausreichen, nimmt Kaufmann schließlich Verbindungen zur Unterwelt auf, um gegen Bezahlung Lebensmittelkarten zu beschaffen. Zum Teil stammen sie aus Diebstählen bei Kartenstellen. Diese Verbindung bezeichnet Kaufmann selbst als ein schweres Opfer, das er im „Dienst an den Brüdern“ bringt.
Der Kreis um Kaufmann kommt in Kontakt zu Cioma Schönhaus, dem untergetauchten jungen jüdischen Grafiker, der Ausweise perfekt fälschen kann. Als steckbrieflich nach ihm gefahndet wird, versteckt Helene Jacobs ihn monatelang in ihrer Wohnung. Insgesamt können etwa 200 Menschen mit falschen Papieren versorgt werden.
Prozess vor Sondergericht
Von einer Obrigkeitshörigkeit, damals im bürgerlich-protestantischen Milieu noch weit verbreitet, hat sich der Kreis zu diesem Zeitpunkt schon weit entfernt. Pfarrer Helmut Gollwitzer schreibt Helene Jacobs im April 1942, dass sie Römer 13 – „seid untertan der Obrigkeit“ – nicht als verpflichtend ansieht, „sondern nur mit der Einschränkung, dass mein Gewissen stets zur unmittelbaren Verantwortung vor Gott frei bleiben muss“. Später betitelt sie ihren Bericht über die Hilfsaktionen: „Illegalität aus Verantwortung“.
Im August 1943 verhaftet die Gestapo nach einer Denunziation Helene Jacobs, Franz Kaufmann und andere aus dem Helfernetz. Kaufmann wird bei den Verhören auch gefoltert. Tragisch wirkt sich die Beschlagnahmung seines Notizbuches aus, in dem Decknamen und Adressen von Kontaktpersonen verzeichnet sind. Den „arischen“ und „halbarischen“ Verhafteten wird vor einem Berliner Sondergericht der Prozess gemacht. Im Urteil vom 10./11. Januar 1944 erscheint Kaufmann als Drahtzieher. Jacobs und andere seien „Opfer der Ausnutzung ihres auf religiöser Grundlage fußenden Mitleids durch Kaufmann sowie der der Rassenfrage verständnislos gegenüberstehenden Einstellung der Bekenntniskirche geworden.“ Das eigenständige, couragierte Handeln der Frauen wird damit bagatellisiert und entpolitisiert.
Wegen Beihilfe zur Urkundenfälschung und gesetzwidriger Beschaffung von Lebensmitteln werden die Frauen zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Franz Kaufmann wird nach dem Abschluss des Gerichtsverfahrens am 17. Februar 1944 auf Weisung der Gestapo im KZ Sachsenhausen erschossen – strafbare Handlungen von „Volljuden“ werden zu diesem Zeitpunkt nicht mehr von der Justiz, sondern von der Polizei geahndet.
Helene Jacobs, die zu 30 Monaten Zuchthaus verurteilt wird, sitzt bis zum Kriegsende in Haft. Danach studiert sie Jura. Sie arbeitet als Beamtin in der Wiedergutmachungsbehörde in West-Berlin und engagiert sich in Organisationen, die sich nach dem Holocaust für die Verständigung zwischen Christen und Juden einsetzten. 1968 wird sie von der israelischen Holocaustgedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Sie stirbt am 13. August 1993 mit 87 Jahren.
Mehrere vom Helfernetz unterstützte Menschen überleben das „Dritte Reich“, so auch Cioma Schönhaus. Er bleibt nach seiner Flucht in der Schweiz, studiert, eröffnet ein Atelier für Grafik und Kommunikation und gründet eine Familie. Er stirbt kurz vor seinem 93. Geburtstag im Jahr 2015.
Pfarrer Björn Mensing (für evangelisch.de)