Chancen und Risiken der Mediengesellschaft
Einleitung
Die Pflege von Kultur und Kommunikation ist wegen ihrer Bedeutung für die individuelle Wahrnehmung und für den Aufbau von Lebensorientierungen und Weltbildern immer ein wichtiges Anliegen der Kirchen gewesen. Dazu gehört heute die Auseinandersetzung mit den Kommunikationstechniken, die in Form neuer Medienangebote die Lebensführung der Menschen beeinflussen.
Auch in den Kirchen wurden in den letzten Jahren Sorgen über die Medienentwicklung laut. Es ist der Eindruck entstanden, als ob die schnelle Veränderung eines zentralen Bereichs der Kultur nur noch von technischen und ökonomischen Interessen vorangetrieben wird.
Im Multimedia- und Telekommunikationsmarkt wird das größte und profitabelste Geschäft des 21. Jahrhunderts vermutet. Digitalisierung und Datenkompression bewirken einen revolutionären Umbruch sowohl in den Medien als auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen mit weitreichenden Folgen für die Kultur der Kommunikation, für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, für jeden einzelnen Menschen. In die Entwicklung der Medien und der Kommunikationstechnik werden vielfach große Hoffnungen gesetzt. Dem stehen aber auch Befürchtungen über mögliche negative Folgen dieser Entwicklung gegenüber.
Die absehbare Entwicklung ist ambivalent. Sie kann dem einzelnen einen Zugewinn an Information, an Auswahlmöglichkeiten und individuellem Zugriff bringen. Andererseits sind die Folgen für die individuelle Mediennutzung und das Zusammenleben in der Gesellschaft ungeklärt. Die Ausdifferenzierung der Angebote für kleine Zielgruppen kann zu einer weiteren Segmentierung der Gesellschaft führen, in der trotz der Fülle an Informationen die Orientierung schwieriger wird, und Menschen trotz nahezu unbegrenzter Möglichkeiten der Kommunikation vereinsamen.
Judentum und Christentum haben maßgeblich dazu beigetragen, daß Schreiben und Lesen zu zentralen Kulturtechniken wurden. An diesen Kulturtechniken läßt sich exemplarisch studieren, wie tief sie Wahrnehmungsformen und damit das Selbst- und Weltverständnis prägen. In einer Kultur, in der die Schrift eine zentrale Rolle spielt, wird es z.B. möglich, Vergangenheit sehr viel präziser präsent zu halten und kritische Reflexion zu fördern als auf der Basis nur mündlicher Überlieferungen. Dieses Beispiel illustriert: Durch Medien wird unsere zeitliche und räumliche Vorstellung geprägt; zeitliche und räumliche Differenzerfahrungen werden aufgelöst bis hin zur scheinbaren Gegenwärtigkeit von allem. Alles kann nach eigenem Wunsch in das Jetzt geholt werden. Der Eindruck totaler Verfügbarkeit wird erzeugt.
Offen ist, wie zukünftig das Verhältnis von Primär- und Sekundärerfahrungen zu bestimmen sein wird. Immer häufiger erhalten medial vermittelte Inhalte und Begegnungen die Bedeutung von Primärerfahrungen. Sicher ist nur, daß sich die Formen der Selbst- und Weltwahrnehmung tiefgreifend verändern werden. Es handelt sich um einen Prozeß, der mit technischen und ökonomischen Kriterien allein nicht zureichend erfaßt werden kann.
Die evangelische Kirche und die katholische Kirche haben aufgrund ihrer Verantwortung für das Leben und das Zusammenleben von Menschen schon in der Vergangenheit den Prozeß der Entwicklung der Massenmedien mit Stellungnahmen und Gutachten begleitet. So nennt das grundlegende katholische Dokument "Communio et Progressio" eine wichtige Funktion und Aufgabe der Massenmedien: Der durch die Medien "vermittelte Fluß der Nachrichten und Meinungen bewirkt in der Tat, daß alle Menschen auf dem ganzen Erdkreis wechselseitig Anteil nehmen an den Sorgen und Problemen, von denen die einzelnen und die ganze Menschheit betroffen sind. Das sind notwendige Voraussetzungen für das Verstehen und die Rücksichtnahme untereinander und letztlich für den Fortschritt aller" (Nr. 19). Und in der EKD-Studie "Die neuen Informations- und Kommunikationstechniken" heißt es zum Verhältnis von Technik und Kultur: "Technik darf nicht dazu führen, daß das kulturelle Erbe zerstört und gegenwärtiges menschliches Leben den Gesetzen der wissenschaftlich-technischen Entwicklung völlig unterworfen wird. Vielmehr soll sie in den Dienst einer verantwortlichen Sozialkultur gestellt werden, in welcher der Reichtum des Lebens in kreativen, ganzheitlichen und solidarischen Lebensformen Ausdruck gewinnen kann" (Nr. 31).
Vor diesem Hintergrund erinnern die katholische Kirche und die evangelische Kirche daran, daß der Ausgestaltung des Mediensystems wegen seiner prägenden Kraft für kollektive Deutungsmuster, an denen die Menschen ihr Verständnis vom Leben und ihre Orientierung im Handeln ausrichten, eine gesellschaftliche Schlüsselstellung zukommt, die verantwortlich wahrgenommen werden muß. Mit dieser gemeinsamen Erklärung wollen beide Kirchen zur gesellschaftlichen Diskussion beitragen und die Chancen und Risiken der Mediengesellschaft abwägen.
Angesichts der technischen und ökonomischen Dynamik läßt sich die künftige Entwicklung der Mediengesellschaft nur in Tendenzen beschreiben. Sie ist abhängig von einer Vielzahl von Faktoren, von den Strategien der Medienunternehmen, von der Akzeptanz der Mediennutzerinnen und Mediennutzer, von medienpolitischen Entscheidungen, von der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung und nicht zuletzt von gesellschaftlichen Trends. In dem ersten Kapitel werden erkennbare Tendenzen sowie mögliche Folgen für einzelne gesellschaftliche Bereiche dargestellt. Da sie sich nicht eindeutig beschreiben lassen, sollen deshalb Fragen nach Optionen in der Mediengesellschaft und nach den Entscheidungen aufgeworfen werden, die notwendig sind, um die Chancen zu nutzen und die Risiken zu begrenzen.
Chancen und Risiken sind nicht eindeutig zu beurteilen, sondern abhängig vom Standort des Betrachtenden und richten sich nach den zugrundeliegenden Wertorientierungen. Oft werden dabei gesellschaftspolitische Spannungsfelder sichtbar, in denen einzelne grundlegende Werte, wie z.B. die Freiheit und die zu ihrer Wahrnehmung notwendige gesellschaftliche Kontrolle, gegeneinanderstehen und abgewogen werden müssen. Die Ambivalenz der Medienentwicklung tritt hier in einer veränderten Form auf und wird im zweiten Kapitel dargestellt.
Die Kirchen beurteilen die Medienentwicklung von einer eigenen Grundposition her. Die Medien sind "Instrumente sozialer Kommunikation", und ihre Möglichkeiten wie auch ihre Aufgaben für die einzelnen und die Gesellschaft sind von daher zu bestimmen. Zugleich sind die Medien auch Ausdruck menschlicher Kommunikation, in der sich das Selbstverständnis des einzelnen und der Gesellschaft widerspiegeln. Für die Kirchen ist entscheidend, ob die Medien und Kommunikationstechniken dem Menschen, der Entfaltung von Lebensmöglichkeiten, seiner kritischen Verantwortung und dem Zusammenleben in der (Welt-) Gesellschaft dienen oder die Gemeinschaft beeinträchtigen.
Das abschließende Kapitel zieht Schlußfolgerungen für eine Fortentwicklung des Mediensystems und nennt politische Rahmenbedingungen sowie Steuerungsinstrumente für eine sozial verantwortliche Ausgestaltung. Dabei sind die weiterhin beachtliche Verbreitung und Nutzung von Tageszeitungen, Zeitschriften, Fachzeitschriften und Anzeigenblättern, die Bedeutung von Buchhandel, Buchverlags- und Büchereiwesen sowie die Veränderungen, die in diesen Bereichen stattfinden, sehr wohl im Blick. Der Schwerpunkt liegt jedoch bei den elektronischen Medien, da die Entwicklung in diesem Bereich zur Zeit besonders gravierend ist (z.B. Internet).
Diese gemeinsame Erklärung von evangelischer und katholischer Kirche möchte einen Beitrag zur verantwortlichen Gestaltung des Medienbereichs leisten. Sie wendet sich deshalb an die Medienpolitikerinnen und Medienpolitiker in den Parteien und Verbänden, an die Medienveranstalter und Programmacher, an Journalistinnen und Journalisten, an Redakteure, an das Publikum und seine Vertreterinnen und Vertreter sowie an alle, die in der Erziehung Verantwortung tragen.