Judenchristen–jüdische Christen– »messianische Juden«

Eine Positionsbestimmung des Gemeinsamen Ausschusses »Kirche und Judentum« im Auftrag des Rates der EKD. 2017

4. Schlussfolgerungen

Das »messianische Judentum« in Deutschland ist zahlenmäßig ein Randphänomen und zugleich in seinen Erscheinungsformen äußerst vielgestaltig. Inwiefern die Gemeinden in Deutschland mittelfristig Bestand haben und wie sie sich entwickeln werden, ist im Moment nicht absehbar. Daher ist im Blick auf gesamtkirchliche Stellungnahmen und Entscheidungen Zurückhaltung geboten. Dies gilt insbesondere im Blick auf das Kirchenverständnis der »messianisch-jüdischen Gemeinden« sowie im Blick auf deren Einbeziehung in den christlich-jüdischen Dialog.

Was die Beteiligung an den Kirchentagen anbelangt, hat das Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags einen klaren Beschluss gefasst: christliche Gruppen die judenmissionarisch ausgerichtet sind, können nicht zur aktiven Mitwirkung des Kirchentages zugelassen werden. Dies betrifft auch messianisch-jüdische Gruppierungen und Gemeinden sowie deren Unterstützerorganisationen. Die Frage der Judenmission berührt den Kern des Selbstverständnisses des Kirchentages. Für die Ablehnung sind historische und theologische Gründe ausschlaggebend. In sachlicher Übereinstimmung mit dem Kirchentag hat sich auch die Synode der EKD auf Ihrer Tagung 2016 in Magdeburg zur Frage der »Judenmission« geäußert. Der Ausschluss von einer aktiven Mitwirkung bedeutet jedoch nicht die Verweigerung des Gesprächs.

Für das Gespräch mit Gruppierungen des messianischen Judentums können dabei folgende Überlegungen und Hinweise hilfreich sein:

  1. Zum Selbstverständnis von »messianisch-jüdischen Gemeinden«, Teil des Judentums zu sein, sowie zu ihrer Art und Weise, Elemente jüdischen Lebens und Glaubens zu praktizieren, enthält sich die Evangelische Kirche jeglicher Bewertung und Festlegung.
     
  2. In den letzten Jahrzehnten ist in Deutschland nicht zuletzt durch die Gesprächsbereitschaft jüdischer Partnerinnen und Partner in der Begegnung von Christen und Juden ein Vertrauensverhältnis gewachsen, für das wir dankbar sind. Wo hierzulande »messianisch-jüdische« Gemeinden und Gruppen als jüdische Dialogpartner in Anspruch genommen werden, entstehen auf allen Ebenen christlich-jüdischer Begegnung Irritationen, und gewachsenes Vertrauen wird zerstört. Nicht zuletzt deshalb wird die Evangelische Kirche im Blick auf durch »messianisch-jüdische« Gemeinden formulierte Ansprüche äußerste Zurückhaltung üben.
     
  3. Wenn messianisch-jüdische Gemeinden und deren Unterstützerkreise das nichtchristusgläubige Judentum für defizitär halten, stellen sie sich damit in Widerspruch zu gewonnenen biblischen Erkenntnissen und theologischen Einsichten der EKD und ihrer Gliedkirchen. Das Nein der Evangelischen Kirche zur sogenannten »Judenmission« darf durch ein Gespräch nicht in Frage gestellt werden.
     
  4. Hinsichtlich der Anerkennung von messianisch-jüdischen Gemeinden und Gruppen als Teil der Kirche Jesu Christi sind theologische Kriterien in Abschnitt 3b benannt. Im theologischen Gespräch kann dabei insbesondere gefragt werden:

    - ob im Hinblick auf die Sakramente ein Konsens im Sinne der Leuenberger Konkordie besteht?

    - welche Bedeutung eine an der religionsgesetzlichen Tradition (Halacha) orientierte Lebensführung (Beschneidung, Speisegebote o.ä.) hat?

    - wie das nicht-christusgläubige Judentum theologisch beurteilt wird? Entspricht diese Beurteilung den biblischen Einsichten und der theologischen Perspektive, die in den vergangenen Jahrzehnten durch Studien und Erklärungen der Gliedkirchen der EKD und der EKD formuliert wurden?

Kundgebung

»… der Treue hält ewiglich.« (Psalm 146,6)
Eine Erklärung zu Christen und Juden als Zeugen der Treue   Gottes

3. Tagung der 12. Synode der EKD / Magdeburg 3. bis 9. November 2016

Auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 hat sich die Synode der EKD im Herbst 2015 mit dem Verhältnis Martin Luthers zu den Juden beschäftigt. Sie hat sich von Luthers Schmähungen gegenüber Juden distanziert und festgehalten, dass seine Sicht auf das Judentum nach unserem heute erreichten Verständnis mit der biblisch bezeugten Treue Gottes zu seinem Volk unvereinbar ist. In ihrer Erklärung vom 11. November 2015 hat die Synode die Notwendigkeit weiterer Schritte der Umkehr und Erneuerung benannt. Auf dem Weg der Umkehr und Erneuerung äußern wir uns auf unserer diesjährigen Tagung zur Frage der sogenannten »Judenmission«. Dabei steht uns vor Augen, dass dieses Thema – wenn auch in unterschiedlicher Weise – sowohl für Juden als auch für Christen mit Fragen ihrer Identität verbunden ist. Für die christliche Kirche ist ihr Selbstverständnis als Kirche Jesu Christi berührt. Juden verbinden damit eine lange und schmerzhafte Geschichte von Zwangskonversionen und der Bestreitung ihrer Identität als bleibend erwähltes Volk Gottes.

  1. 1950 erklärte die Synode der EKD in Berlin-Weißensee, »daß Gottes Verheißung über dem von ihm erwählten Volk Israel auch nach der Kreuzigung Jesu Christi in Kraft geblieben ist.«[1]
    Die Einsicht in die bleibende Erwählung Israels ist seitdem in Theologie und Kirche bedacht, auf ihre Folgen hin befragt und für die kirchliche Lehre fruchtbar gemacht worden. Wir bekräftigen: Die Erwählung der Kirche ist nicht an die Stelle der Erwählung des Volkes Israel getreten. Gott steht in Treue zu seinem Volk. Wenn wir uns als Christen an den Neuen Bund halten, den Gott in Jesus Christus geschlossen hat, halten wir zugleich fest, dass der Bund Gottes mit seinem Volk Israel uneingeschränkt weiter gilt. Das nach 1945 gewachsene Bekenntnis zur Schuldgeschichte gegenüber den Juden und zur christlichen Mitverantwortung an der Schoah hat zu einem Prozess des Umdenkens geführt, der auch Konsequenzen im Blick auf die Möglichkeit eines christlichen Zeugnisses gegenüber Juden hat.
     
  2. Die Studie »Christen und Juden III« der Evangelischen Kirche in Deutschland hat im Jahr 2000 festgehalten: »Der Begriff ‚Bund‘ verweist auf das Handeln Gottes, seine begleitende Treue, von der Juden und Christen gleichermaßen leben« (Kap. 2.9)[2]. Daraus folgt für uns: Christen sind – ungeachtet ihrer Sendung in die Welt – nicht berufen, Israel den Weg zu Gott und seinem Heil zu weisen. Alle Bemühungen, Juden zum Religionswechsel zu bewegen, widersprechen dem Bekenntnis zur Treue Gottes und der Erwählung Israels.
     
  3. Christen sind durch den Juden Jesus von Nazareth mit dem Volk Israel bleibend verbunden. Das Verhältnis zu Israel gehört für Christen zur eigenen Glaubensgeschichte und Identität. Sie bekennen sich »zu Jesus Christus, dem Juden, der als Messias Israels der Retter der Welt ist« (EKIR, Synodalbeschluss von 1980). Die Tatsache, dass Juden dieses Bekenntnis nicht teilen, stellen wir Gott anheim. Auf dem Weg der Umkehr und Erneuerung haben wir von Paulus gelernt: Gott selbst wird sein Volk Israel die Vollendung seines Heils schauen lassen (vgl. Röm 11,25 ff). Das Vertrauen auf Gottes Verheißung an Israel und das Bekenntnis zu Jesus Christus gehören für uns zusammen. Das Geheimnis der Offenbarung Gottes umschließt beides: die Erwartung der Wiederkunft Christi in Herrlichkeit und die Zuversicht, dass Gott sein erstberufenes Volk rettet.
     
  4. Dankbar blicken wir auf vielfältige Formen der Begegnung von Christen und Juden und durch solche Begegnungen eröffnete Lernwege. Diese bereichern uns. Sie helfen uns, die religiöse Eigenständigkeit des Judentums zu achten und den eigenen Glauben besser zu verstehen. Wir bekräftigen unseren Wunsch, diese Begegnungen fortzuführen und sie, wo immer möglich, mit Blick auf unsere gemeinsame Verantwortung vor Gott und in der Welt zu intensivieren.
     
  5. In der Begegnung mit jüdischen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern haben wir gelernt, einander gleichberechtigt wahrzunehmen, im Dialog   aufeinander zu hören und unsere jeweiligen Glaubenserfahrungen und Lebensformen ins Gespräch zu bringen. Auf diese Weise bezeugen wir einander behutsam unser Verständnis von Gott und seiner lebenstragenden Wahrheit.
     
  6. Wir sehen uns vor der Herausforderung, unser Verhältnis zu Gott und unsere Verantwortung in der Welt auch von unserer Verbundenheit mit dem jüdischen Volk her theologisch und geistlich zu verstehen und zu leben.

    Wo in Verkündigung und Unterricht, Seelsorge und Diakonie das Judentum verzeichnend oder verzerrt dargestellt wird, sei es bewusst oder unbewusst, treten wir dem entgegen. Wir bekräftigen unseren Widerspruch und unseren Widerstand gegen alte und neue Formen von Judenfeindschaft und Antisemitismus. Das Miteinander von Christen und Juden ist vielmehr ein gemeinsames Unterwegssein in der Verantwortung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung.

Die Synode bittet den Rat der EKD und die Kirchenkonferenz der EKD, dafür Sorge zu tragen, dass die von ihr formulierten Erkenntnisse den Gemeinden zugänglich gemacht und etwa durch begleitende Materialien als Ermutigung dafür präsentiert werden, dass die Begegnung mit unterschiedlichen Formen jüdischer Glaubenspraxis zu einem tieferen Verständnis des eigenen christlichen Glaubens führt.

Die Synode wird in drei Jahren die Ergebnisse der von ihr angeregten Weiterarbeit überprüfen.

Magdeburg, den 9. November 2016

Die Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland
Dr. Irmgard Schwaetzer



Fußnote

  1. Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945 bis 1985, hg. v. Rolf Rendtorff/Hans Hermann Henrix, Paderborn und München 21989, 549
  2. Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1986 bis 2000, hg. v. Hans Hermann Henrix/Wolfgang Kraus, Paderborn und Gütersloh 2001, 889.

 

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