Judenchristen–jüdische Christen– »messianische Juden«

Eine Positionsbestimmung des Gemeinsamen Ausschusses »Kirche und Judentum« im Auftrag des Rates der EKD. 2017

2. Das Phänomen »messianische Juden«

2.1 Geschichte

Nachdem Juden jahrhundertelang mit der Taufe ihre jüdische Identität abgelegt hatten und in der nicht mehr nach Juden und Heiden differenzierten Kirche aufgegangen waren, in der ihre Herkunft oft keine Rolle mehr spielte, begannen im 19. Jahrhundert einzelne Konvertiten, sich als »Judenchristen« zu bezeichnen – ein Begriff, der bisher ausschließlich für die urchristliche Zeit gebraucht worden war. Die Hebrew Christian Alliance of Great Britain (1866 gegründet), die Hebrew Christian Alliance of America (1915) und die Internationale Judenchristliche Allianz (1925) dienten der Vernetzung sowie dem Austausch der Mitglieder untereinander, die in ihren jeweiligen Denominationen blieben und dort für ein besseres Verständnis des Judentums eintraten. Der Vorschlag der Gründung einer selbständigen judenchristlichen Kirche wurde 1937 verworfen. Erst seit 1945 nahm die Internationale Allianz eigenständige judenchristliche Gemeinden auf.

Im 19. Jahrhundert begannen zugleich christliche Missionsgesellschaften, in Gebieten mit starker jüdischer Bevölkerung (Galizien, Ungarn und Südrussland) »judenchristliche« Gemeinden zu gründen. Die Gemeinde der »Israeliten des Neuen Bundes« von Joseph Rabinowitsch war von 1884 bis zur Schoah in Kischinew (heute Moldawien) tätig. Die 1894 in New York von Rabbiner Leopold Cohn gegründete Organisation Chosen People Ministries verstand sich als Werk für jüdische Emigranten aus Rußland (später der Sowjetunion).

Nach 1920 wurde die Missionstätigkeit auf Palästina, England, Deutschland und Polen ausgeweitet. Nach Ende des 2. Weltkriegs konzentrierte sich die Organisation wieder auf den nordamerikanischen Kontinent. Dort rührte ihr Erfolg wesentlich daher, dass judenchristliche Missionare Juden eine »jüdische« Form des Evangeliums verkündigten. Im Umfeld der Chosen People Ministries wurden messianische Versammlungen und Gemeinden in den USA und Palästina (nach 1948 Israel) gegründet. In den 1960er Jahren entstand innerhalb der Hebrew Christian Alliance of America eine – in dieser Organisation zunächst freilich umstrittene – Gruppe, die ihre jüdischen Wurzeln beachtete und nach gemeinsamen jüdischen Ausdrucksformen für ihren Glauben suchte.

Zum Wachstum dieser Bewegung trug neben der Begeisterung über die Vereinigung Jerusalems im Jahre 1967 – hierin sah man die Erfüllung biblischer Prophezeiungen – die charismatisch geprägte Jesus-People-Bewegung in den USA bei. Unter den kalifornischen Jesus People gab es junge Juden, die sich von Jesus von Nazareth, nicht aber vom etablierten Christentum angezogen fühlten. Markus (Moishe) Rosen (Jews for Jesus) entwickelte einen Missionsstil, der auf die Jugendkultur einging und die Vereinbarkeit des Jesusglaubens mit jüdischer Identität propagierte. Diese Impulse führten zu den bis heute zu beobachtenden Charakteristika vieler messianisch-jüdischer Gruppen: persönliches Zeugnis, Missionseifer, charismatische Gottesdienste. Unter dem Einfluss dieser Bewegung benannte sich die Hebrew Christian Alliance of America 1975 in Messianic Jewish Alliance of America um und erklärte die Bildung eigener Gemeinden zu ihrem Hauptziel.

Nachdem missionarische Aktivitäten in den 1990er Jahren in Osteuropa wieder möglich waren, fanden einzelne Juden in der ehemaligen Sowjetunion zum Glauben an Jesus. Einige unter ihnen (z.B. Vladimir Pikman, Mischa Braker, Anatoli Uschomirski) kamen als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland und gründeten mit Hilfe ihrer Unterstützerorganisationen messianisch-jüdische Gruppen und Gemeinden, die bis heute zu circa zwei Dritteln aus russischen (und weiterhin vorwiegend russischsprachigen) Zuwanderern bestehen. Viele Mitglieder dieser Gruppen werden wegen ihrer patrilinearen Herkunft von den verfassten jüdischen Gemeinden nicht als Juden anerkannt; hinzu kommen russlanddeutsche Aussiedler, Israel-Begeisterte aus evangelikal geprägten Gemeinden und Freikirchen und andere religiös Suchende. Durch ihre Unterstützer sind diese Gruppen in ein internationales Netz eingebunden, das unabhängig von der Anerkennung durch christliche Kirchen oder jüdische Gemeinden existiert.[1]

Von den Zahlen her ist das messianische Judentum in Deutschland ein Randphänomen. Die Stabilität dieser Gruppen ist in religionssoziologischer Hinsicht gegenwärtig nicht absehbar (geringe Mitgliederbasis, Immigrationsphänomen, hohe Mobilität der Mitglieder, charismatische Prägung der Gemeinden mit einer gewissen Distanz gegenüber festen Strukturen). Hinzu kommt die ungeklärte Frage, ob messianische Gemeinden in Deutschland über einen längeren Zeitraum existieren können oder in absehbarer Zeit in Gemeinden oder Kirchen aufgehen und so ihre jüdische Identität verlieren.[2]

2.2. Erscheinungsbild

»Messianisch-jüdische« Gottesdienste verbinden in unterschiedlicher Weise jüdische und christliche Gestaltungselemente wie das Anzünden der Sabbatkerzen, das Tragen von Kippa und Tallit, die Lesung des Wochenabschnitts (eventuell aus einer Torarolle), teilweise in hebräischer Sprache gesprochene Gebete aus dem Siddur (Schma Jisrael, Kaddisch und Hawdala) und – andererseits – das Kreuz im Gottesdienstraum, das Vaterunser, Fürbitten, Lesungen aus dem Neuen Testament (mit besonderer Betonung der Evangelien) und die Wertschätzung der Predigt. Den als »jüdisch« intendierten Elementen wird oft eine zusätzliche Deutung gegeben (Sabbatkerzen als Hinweis auf Jesus als Licht der Welt u.a.). Viele Elemente wie die freie Predigtform, spontan formulierte Gebete, Lobpreislieder mit eingängigen Melodien, kurzen Texten und vielen Wiederholungen erinnern an evangelikale Gottesdienste.

Die Taufe, gelegentlich auch Mikwe Jeschua genannt, wird an Erwachsenen – kaum oder selten an Kindern – vollzogen. Sie geschieht durch Untertauchen »auf den Namen Jeschuas, des Messias« und tritt bei Jungen neben die Beschneidung, die aber nicht als »heilsnotwendig« angesehen wird. Die Taufe gilt nicht als Übertritt zum (Heiden)christentum, sondern soll die jüdische Identität neu interpretieren. Vor dem Taufakt legt der Täufling sein persönliches Glaubenszeugnis ab und macht deutlich, wie er zum messianisch-jüdischen Glauben gefunden und sich von seinem alten sündigen Leben abgewandt hat.

Das Abendmahl wird in Gemeinden, die die christlichen Elemente betonen, etwa monatlich, in anderen Gruppen vierteljährlich oder nur jährlich in Verbindung mit dem Passahfest gefeiert.

Gefeiert werden auch die jüdischen Feste, vor allem Pessach, Rosch haSchana, Sukkot, Jom Kippur, Chanukka, Purim und Simchat Tora – dieses letztere Fest aber offenbar nur, wenn eine Torarolle vorhanden ist. Alle Feste, besonders sichtbar das Passahfest, erhalten eine messianisch-jüdische Deutung. Auch das sonstige jüdisch-religiöse Brauchtum wird von einigen Gruppen teilweise rezipiert und mit Jesus in Verbindung gebracht sowie messianisch-jüdisch uminterpretiert.

2.3 Theologie

»Messianisch-jüdische« Theologie ist im deutschsprachigen Kontext grundsätzlich vor ihrem protestantisch-evangelikalen Hintergrund zu verstehen. Obwohl sie ihre Aussagen eher in hebräischen als griechischen Begriffen ausdrücken will und mit jüdischer Schriftauslegung verbindet, nimmt sie meist in Anspruch, in ihrem Gehalt der überlieferten christlichen Lehre (Trinitätslehre, Christologie) zu entsprechen. Daneben stehen aber Aussagen, denen zufolge es darum geht, den Jesusglauben von durch das »griechische Denken« eingedrungenen »heidnischen Einflüssen« zu reinigen.[3]

Um ihren Ort als Teil des jüdischen Volkes und ihre Verbindung zu den heidenchristlichen Kirchen zu bestimmen, hat »messianisch-jüdische« Theologie in den USA zwei Modelle entwickelt, die ihren Ausgang bei der bleibenden Erwählung des jüdischen Volkes nehmen.

Die Enlargement Theology[4] wendet sich sowohl gegen eine in christlicher Theologie verbreitete Substitutionslehre als auch gegen das Konzept zweier Bundesschlüsse oder Heilswege. Aufgrund der prophetischen Verheißung der endzeitlichen Wallfahrt zum Zion seien die Weltvölker durch Jesus zum Gott Israels hinzugerufen. Das Gott vertrauende und gehorchende Israel erhält so fortwährend Zuwachs aus den übrigen Nationen – die »Heidenchristen« werden faktisch Teil des »erweiterten« (enlarged) Israel.

Die bilaterale Ekklesiologie[5] des postmissionarischen messianischen Judentums vertritt demgegenüber das Konzept zweier getrennter, aber aufeinander bezogener Gemeinschaften. Die ekklesia der jüdischen Jesus-Gläubigen dient dem größeren jüdischen Volk dadurch, dass sie dessen eschatologische Erstlingsfrucht ist, das jüdische »Ganze« heiligt und die eschatologische Bedeutung der jüdischen Identität und Bestimmung offenbart. Sie dient dem jüdischen Gesamtvolk ferner, indem sie die Erlösten aus den Völkern mit Israels Leben und spirituellem Erbe verbindet und es den Juden ermöglicht, ihre Mission als Licht für die Völker zu erfüllen. »Postmissionarisch« bezeichnet dabei eine Haltung jenseits der heidenchristlichen Judenmission, die versuchte, Juden von ihrem Irrtum abzubringen, Jesus nicht als Messias anerkannt zu haben. Die Evangeliumsverkündigung unter den Juden geschieht durch die jüdische ekklesia, deren Vorbild die Jerusalemer Urgemeinde ist.

Hinter beiden Modellen steht die Hoffnung, das paulinische Modell der Kirche als Leib Christi aus Juden und Griechen zurückzugewinnen und das »erste Schisma der Kirchengeschichte« zwischen jesusgläubigen Juden und Heidenchristen zu überwinden. Strittig ist dabei die Frage, in welchem Umfang die rabbinischen Gebote verbindlich sind. Vertretern der Verbindlichkeit der gesamten orthodoxen Halacha, die sich auf Mt 23,3 berufen  (»alles nun, was  sie euch sagen, das tut und haltet«), stehen liberale Positionen gegenüber, die Eph. 2,14f oder Gal. 3,23 als Grundlage nehmen und die Bedeutung der Tora nicht in den dort formulierten Geboten sehen, sondern die Abraham und Landverheißung ins Zentrum stellen.

2.4 Unterstützerkreise

In Deutschland werden die »messianisch-jüdischen« Gemeinden und Gruppen insbesondere vom 1971 in Leinfelden gegründeten Evangeliumsdienst unter Israel (EDI), der seit 1985 in Deutschland tätigen Arbeitsgemeinschaft für das messianische Zeugnis an Israel (AMZI) sowie vom Beit Sar Schalom Evangeliumsdienst unterstützt, einem 1996 gegründeten Zweig der Chosen People Ministries (Beit Schomer Israel, Berlin; Beit Chesed-Gemeinde, Düsseldorf). Darüber hinaus werden die »messianisch-jüdischen« Gruppen von evangelikal-charismatischen Kreisen in einzelnen Freikirchen und Landeskirchen unterstützt. Für diese ist die Unterstützung messianischer Juden ein »Ersatz« für die Judenmission, weil sie das in kirchlichen Erklärungen ausdrücklich formulierte Nein zur Judenmission nicht mittragen, aber eine aktive Judenmission durch Christen aus Deutschland aus historischen Gründen für unmöglich halten. Die unterstützenden Werke folgen dabei dem in kirchlichen Erklärungen gewachsenen Konsens im Hinblick auf die Anerkennung der jüdischen Wurzeln der Kirche und der Schuld der Kirchen an Antisemitismus und Antijudaismus, in der Bereitschaft, die Gründung des Staates Israel als Zeichen der Treue Gottes zu seinem Volk zu sehen, in der Ablehnung des Marcionismus und der Erkenntnis, dass das Neue Testament nur vor dem Hintergrund der Hebräischen Bibel zu verstehen ist. Aus der Bekräftigung der bleibenden Erwählung Israels und der Ablehnung der Substitutionslehre folgt für sie aber nicht, dass das Judentum auch nach Jesus Christus in einer intakten Gottesbeziehung stünde: »In den vollen Genuss des verheißenen Segens … kommen Juden wie auch Nichtjuden … nur durch den Glauben an Jesus.« [6]

Die Unterstützer wie die meisten messianisch-jüdischen Gemeinden selbst halten demnach das nicht-christusgläubige Judentum für defizitär und werfen ihm vor, den Messias Jesus nicht erkannt zu haben. Hierin liegt ein grundlegender Unterschied zu den Erklärungen der meisten Landeskirchen, die die Treue Gottes zu seinem Volk Israel betonen, indem sie diese nicht grundsätzlich an die Zustimmung von Juden zum Christusbekenntnis binden.

Dies erklärt die hohe Sensibilität und Sorge jüdischer Gemeinden angesichts missionarischer Aktivitäten. Sie erwarten von den Kirchen eine deutliche Distanzierung von messianisch-jüdischen Gruppen und ihren christlich-evangelikalen Unterstützern, sofern diese die Legitimität der jüdischen Existenz in Zweifel ziehen, wenn diese nicht von einem Christusbekenntnis begleitet wird.
 

Fußnoten:

  1. Richard Harvey (Mapping Messianic Jewish Theology, Carlisle 2009, 2) geht von weltweit etwa 150.000 jüdischen Jesus-Gläubigen aus, von denen mehr als 100.000 in den USA und etwa 5.000 in Israel leben.
  2. Ein Beispiel für die geringe Stabilität dieser Gruppen ist die im Juni 1998 in Esslingen gegründete messianisch-jüdische Gemeinde »Schma Israel«. Im Nachrichtenorgan »Gesandt zu Israel« des Evangeliumsdienstes für Israel e.V. vom Dezember 2015 teilt Anatoli Uschomirski, der frühere Pastor dieser Gemeinde, mit, dass diese nicht mehr existiert, weil die Generation nach den russischsprachigen Gründern keinen Zugang zur Gemeindekultur mehr fand.
  3. Dokumentiert ist »messianisch-jüdisches” Selbstverständnis im deutschsprachigen Kontext z.B. in den 13 »Glaubensartikeln«; abgedruckt bei S. Pfister, Messianische Juden in Deutschland, Münster 2008, S. 380f.
  4. Alex Jacob, The Case for Enlargement Theology, Saffron Walden 2010.
  5. Mark S. Kinzer, Post-Missionary Messianic Judaism, Grand Rapids 2005.
  6. Tuvya Zaretsky, Das Evangelium – auch für Juden. Impulse aus der messianischen Bewegung, Basel-Gießen 2006, 22f.
Nächstes Kapitel