Über sexuellen Missbrauch sprechen lernen
Kurzinterview mit der Psychotherapeutin Sabine Lellek
Es ist heute leichter, über sexuelle Grenzverletzungen zu sprechen, sagt die Psychologin Sabine Lellek. Beim Umgang mit sexualisierter Gewalt in den eigenen Reihen sieht sie die Kirche unter starkem Druck und in der Gefahr, ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Sie beschäftigen sich als Psychologische Psychotherapeutin seit über 25 Jahren mit von sexualisierter Gewalt betroffenen Menschen, vor allem mit Kindern und Jugendlichen. Ist es richtig, dass sich die gesellschaftliche Sensibilität für das Thema stark erhöht hat oder trügt der Eindruck?
Sabine Lellek: Ich glaube nicht, dass wir eine erhöhte gesellschaftliche Sensibilität bezüglich dieses Themas haben. Vielmehr ist das Tabu, über sexuelle Übergriffe und Grenzverletzungen zu sprechen, gesunken. Sowohl Kinder, Jugendliche als auch Erwachsene haben ein Gespür für körperlich grenzüberschreitendes Verhalten. Das war auch in zurückliegenden Zeiten so. Heute kann man aber eher und einfacher darüber sprechen, weil es mehr Informationen und weniger Tabus zu diesem Thema gibt. Das hat vielen Menschen geholfen, ihre Scham zu überwinden und mitzuteilen, was ihnen angetan wurde.
Sie kleiden die Unfassbarkeit der sexualisierten Gewalt an Kindern in eine Metapher: Das Thema sei zugleich laut und leise. Was meinen Sie damit?
Lellek: Sexualität ist auch außerhalb dieser schwierigen Situation des Missbrauchs kein „normales“ Thema, über das wir in der Gesellschaft einfach sprechen. Sexueller Missbrauch macht dies noch schwerer. Die Metapher „laut und leise“ bezieht sich nicht auf die Unfassbarkeit des sexuellen Missbrauchs, sondern auf den Umgang damit. Sexueller Missbrauch findet immer im Verborgenen statt, also leise.
Die Täter*innen agieren im Geheimen, sie verpflichten ihre Opfer zum Schweigen, und diese schweigen auch aus Angst, Scham und auch aus vertrauensvoller Verbundenheit und Abhängigkeit von den Täter*innen. Auch Menschen, die missbräuchliches Verhalten beobachten oder vermuten, tun sich häufig schwer, darüber zu sprechen, aus Angst, jemanden zu Unrecht zu beschuldigen oder darin verwickelt zu werden. Sie fürchten die „lauten“ Reaktionen, die Skandalisierung, den Verlust von Ansehen. Der Missbrauch bleibt so „leise“ und verborgen. Wird aber endlich darüber gesprochen, wird ein sexueller Missbrauch aufgedeckt, kann es sehr schnell viel zu laut werden. Die Besonnenheit, die nötig ist, um zu klären, wie man effektiv Opfer schützen und Täter*innen zur Rechenschaft ziehen kann, geht dann häufig verloren oder behindert die Aufklärung und Aufarbeitung.
Wie nehmen Sie die Aufarbeitung in den Kirchen wahr? Welchen Rat können Sie uns aus der Außenperspektive geben?
Lellek: Ich habe die Aufarbeitung der Kirchen nicht detailliert verfolgt. Vergleichbar ist das Vorgehen von Schulen und Sportvereinen, in denen sich sexuelle Übergriffe auf Kinder ereignet haben, die ich durch meine Arbeit häufiger verfolge. Grundsätzlich stehen Mitglieder von Institutionen, wie auch Einzelpersonen, die den Verdacht des sexuellen Missbrauchs in ihrem Umfeld haben, vor dem „Laut-und-leise“-Dilemma.
Das macht es schwer und erfordert immer Hilfe von außen. Eine Institution wie die Kirche, die einen hohen moralischen Anspruch vertritt und deren Hauptaufgabe Trost und Fürsorge in den Gemeinden ist, steht wie ähnliche Institutionen, unter enormen Druck. Sie verlieren jegliche Glaubwürdigkeit ihrer Kernkompetenz, wenn sie mit Straftaten dieser Art nicht angemessen umgehen. Dieser Eindruck ist nach meiner Wahrnehmung entstanden. Das Wohl der anvertrauten Menschen wurde institutionellen und persönlichen Machtinteressen in der Kirche untergeordnet.
Interview: Frank Hofmann
Dieser Text erschien zuerst im ForuM-Bulletin, das regelmäßig über den aktuellen Stand der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und der Diakonie informiert. Der Newsletter erscheint etwa alle sechs Wochen und kann hier abonniert werden.