Predigt am Reformationstag, 31. Oktober 2022, in der Schlosskirche zu Wittenberg

Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland

Es gilt das gesprochene Wort

Psalm 46

2 Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. 3 Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken, 4 wenngleich das Meer wütete und wallte und von seinem Ungestüm die Berge einfielen. 5 Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren Brünnlein, da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind. 6 Gott ist bei ihr drinnen, darum wird sie fest bleiben; Gott hilft ihr früh am Morgen. 7 Die Völker müssen verzagen und die Königreiche fallen, das Erdreich muss vergehen, wenn er sich hören lässt. 8 Der HERR Zebaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutz. 9 Kommt her und schauet die Werke des HERRN, der auf Erden solch ein Zerstören anrichtet, 10 der den Kriegen ein Ende macht in aller Welt, der Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt und Wagen mit Feuer verbrennt. 11 Seid stille und erkennet, dass ich Gott bin! Ich will mich erheben unter den Völkern, ich will mich erheben auf Erden. 12 Der HERR Zebaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutz.

I.

„Ein menschliches Herz ist wie ein Schiff auf einem wilden Meere, welches die Sturmwinde von allen vier Himmelsrichtungen hin und her treiben“: So liebe Festgemeinde, beginnt Martin Luther die Vorrede zu seiner Übersetzung der biblischen Psalmen. Und er fährt fort: „..von hierher stößt Furcht und Sorge vor zukünftigem Unglück; von dorther fährt Gram und Traurigkeit über gegenwärtiges Übel; von da weht Hoffnung und Vermessenheit im Blick auf zukünftiges Glück; von dort bläst Sicherheit und Freude über gegenwärtigen Gütern. Solche Sturmwinde aber lehren mit Ernst reden und das Herz öffnen und es von Grund ausschütten. Denn wer in Furcht und Not steckt, der redet sehr viel anders vom Unglück, als wer in Freuden schwebt; und wer in Freuden schwebt, der redet und singt sehr viel anders von Freuden, als wer in Furcht steckt.“

Herzensklug und feinfühlig und gar nicht akademisch geht Martin Luther seine Übersetzungskunst an. Er versteht viel vom menschlichen Herzen. Und ganz offensichtlich liebt er die Psalmen, die so ernst, so innig aus unserem Innersten heraus sprechen – und mitten hinein ins Herz. Luther hat alles darangesetzt, die Sprachkraft dieser biblischen Gebete und Lieder ins Deutsche zu übertragen. Mal wuchtig, mal zart. Mal deftig, mal behutsam. Auf geniale Weise ist ihm dies gelungen. Genau vor 500 Jahren, im September 1522, war eine erste Auflage seiner Übersetzung des Neuen Testaments fertig. In diesem Jahr gibt es also besonderen Grund, dankbar zu feiern, wie wortgewaltig Martin Luther uns die Bibel aufgeschlossen hat.

II.
Beim 46. Psalm ist ihm dieses Werk sogar doppelt mächtig geglückt: Luther hat den Psalm nicht nur in die deutsche Sprache übersetzt, er hat ihn auch zu einem Lied gemacht, das längst mehr ist als ein Lied. Viele nennen es die Hymne, manche gar die Marseillaise der Reformation: „Ein feste Burg ist unser Gott“. Der Choral strotzt vor Trotz, er bietet Tod und Teufel die Stirn. 

Das ist stark. Und: es erschreckt. Mich jedenfalls.

Beim Einstimmen in diesen Choral zögere ich jedes Mal, wenn meine Lippen die kriegerischen Worte „ein gute Wehr und Waffen“ formen. 

Und regelmäßig befremdet´s mich, wenn aus meiner Kehle die heroischen Sätze erklingen: 
Und wenn die Welt voll Teufel wär / und wollt uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr. Oder:
Gut, Ehr, Kind und Weib: / lass fahren dahin, sie haben‘s kein‘ Gewinn. 

Dieser kämpferische, beinahe militante Ton macht mir Unbehagen. 

Ähnlich ist es, wenn ich den Psalm laut spreche, wie wir das gerade gemeinsam getan haben:
Wir fürchten uns nicht, wenngleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken, wenngleich das Meer wütete und wallte und von seinem Ungestüm die Berge einfielen.

Ehrlich gesagt, liebe Gemeinde: Ich fürchte mich sehr wohl. Und wie. Bisweilen überfällt mich große Angst vor dem Schreckensszenario: dass die Welt untergeht und die Berge ins Meer stürzen und die Fluten Menschen und Tiere, Häuser und Gärten, Hab und Gut verschlingen. Tatsächlich ist mir bang vor einer Katastrophe von kosmischen Ausmaßen, verursacht durch atomare Kräfte oder Naturgewalten. Die Bilder von den Vorhöllen in den Kriegsgebieten der Ukraine oder von den Flutgebieten in unserem Land nähren meine Sorge, irgendwann könnte die Zerstörung nicht mehr zu beherrschen sein. Dann ist mein Herz so, wie Luther es beschreibt: wie ein Schiff auf einem wilden Meere, welches die Sturmwinde von allen vier Himmelsrichtungen hin und her treiben. 

Offenbar bin ich damit nicht allein. Bundespräsident Steinmeiner bekundete letzten Dienstag nach seinem Besuch in Kiew: "Es ist alles viel furchtbarer, als wir uns das in Deutschland vorstellen". Und das glaube ich ihm.

III.

Der Psalm von der festen Burg ist ein Text aus dem Gesangbuch Israels, durchtränkt von Kriegserlebnissen und Kriegserinnerungen des Gottesvolks. Sie haben die Belagerung ihrer Stadt Jerusalem erlebt, sind Opfer des zerstörerischen Angriffs einer feindlichen Großmacht geworden. Die martialischen Bilder sind keine Gleichnisse, sie malen uns vielmehr reale Gewalterfahrungen vor Augen: schonungslos, ohne Schalldämpfer, ohne Weichzeichner. Die Menschen, die einst dieses Lied anstimmten, haben am eigenen Leibe Gewalt erlebt. Und diese Gewalt hat in ihnen die Angst geweckt: Gottes Schöpfung bricht zusammen. Gottes gute Ordnung löst sich auf. Wie kann jetzt überhaupt noch Politik möglich sein? Das Tohuwabohu kehrt zurück, das nackte Chaos bricht sich Bahn: ´s ist Krieg! 

Klar, Krieg ist immer anders. Die Streitwagen von früher sind die Panzer von heute, das Gewehr von heute ist der Bogen von gestern. Krieg ist aber auch immer gleich, in biblischen Zeiten wie heute:
Menschen werden überfallen, wehren sich unerschrocken in höchster Gefahr, bekennen zornig-tapfer: „Wir fürchten uns nicht, auch wenn die Welt unterginge.“ 

Menschen fliehen, suchen in ihrer Todesangst eine feste Burg, die sie schützt, hasten in den Keller, in das Theater, in den U-Bahnschacht, beten dort: „Gott ist unsere Zuflucht und unsere Stärke. Er hilft uns früh am Morgen.“

Menschen rufen nach guter Wehr und Waffen, um Leib und Leben zu verteidigen, nach Hilfe in den großen Nöten, die sie getroffen haben.

Und wenn der Kriegslärm vorbei und das feindliche Heer davon ist, kommen die Überlebenden aus ihren Verstecken, sehen die zertrümmerten Geschütze, die zerbrochenen Gewehre, die verkohlten Panzer und murmeln: „Gelobt sei Gott, der Bogen zerbricht und Spieße zerschlägt und die Streitwagen mit Feuer verbrennt.“

Bekannte erzählen von der Ukrainerin, die bei ihnen wohnt: Sie habe zufrieden gestaunt, als sie die zerstörte Krim-Brücke sah. 

Aber: Sollten diese Zerstörungen wirklich Gottes Werke sein? 

IV.

Ich erinnere mich an Martin Luthers Vorrede zum Psalter:
Wer in Furcht und Not steckt, der redet sehr viel anders vom Unglück, als wer in Freuden schwebt. 

Ja, so ist das. Und es ist wichtig, dies auch im Blick auf den 46. Psalm zu bedenken. 

Der Psalm spricht die Sprache der Kriegsopfer. Wie sollte ich es verurteilen, wenn ein Mensch, der angegriffen wird, Gott für jeden kleinen Sieg dankt? Und wie sollte ich kategorisch Nein sagen dazu, ihm mit Wehr und Waffen zu helfen, damit er den Raketenangriffen nicht wehrlos ausgeliefert ist? 

Aber darf ich wirklich einstimmen in die Melodie des Psalms, die auf Vernichtung der Feinde sinnt? Dürfen das meine Töne werden, die solche Vernichtung als Gottes Werk besingen? 

Luther lehrt mich zu sehen: Ich stecke nicht in derselben Furcht und Not wie die Menschen in Israel damals. Ich stecke auch nicht in derselben Furcht und Not wie die Menschen in der Ukraine und in anderen Kriegsgebieten heute. 

Und so frage ich mich:
Wer ist eigentlich das „Wir“ des Psalms? Und wer sind die anderen, die nicht zu diesem „Wir“ gehören? 

Da wendet sich Israel in höchsten Nöten an seinen Gott; da beten die an Leib und Leben Bedrängten.

Es ist nicht unmittelbar „mein“ oder „unser“ Lied. Vorsicht vor solch übergriffiger und buchstäblich geist-loser Aneignung! Sie ist eine große Versuchung, und leider sind die Kirchen dieser Versuchung allzu oft erlegen. „Gott mit uns!“ hieß es etwa im Ersten Weltkrieg, und auf welcher Seite im Krieg sie auch standen, sie haben Gott vor den Karren ihrer eigenen Interessen gespannt, sich Gottes bemächtigt. Der Soziologe Hans Joas schreibt in seinen „Denkskizzen“ zu Psalm 46: „Die Gefahr gibt es nicht nur im Kampf der Nationalismen, sondern überall dort, wo die eigene Sache ganz für die gute gehalten wird. Der Friede mag dann sehr wohl gewünscht werden, aber es soll ihn nur geben unter den eigenen Bedingungen. Nur wenn auch die anderen bereit seien, unseren Gott anzuerkennen, unsere Werte zu teilen, dann werde Friede möglich.“  (Hans Joas, Denkskizzen IV, 354)

Wir erschrecken darüber, wie dies aktuell durch den russischen Patriarchen Kyrill geschieht: Er spannt Gott vor Putins Krieg und gibt diesen als guten Kampf gegen die sündige Verirrung der westlichen Werte aus. 

Liebe Gemeinde, bitte lasst es uns ihm nicht gleichtun! Die Versuchung ist vielleicht größer als wir ahnen. Wir sollten uns hüten, Gott allzu schnell als „unseren“ zu bezeichnen und ihn allzu sicher auf unserer Seite zu verorten. Weder der Patriarch von Moskau noch der Patriarch von Kiew noch irgendeine Kirche hat das Recht, das eigene Volk oder Bündnis an die Stelle des Gottesvolks zu setzen.

„Gott anzuerkennen als den einen universalen Gott“, sagt Hans Joas, „das muss aber heißen, nicht die eigene Sache ungebrochen zur universalen zu erklären. Es gibt zwar die universale Forderung Gottes. Aber sie ist auch und an erster Stelle eine Forderung an uns selbst.“ (Hans Joas, Denkskizzen IV, 354)

Martin Luther – ein Mensch, der unsere menschlichen Schwächen teilt – konnte das leider nicht so verstehen. Unmittelbar bedroht von Gegnern, in Angst vor den anrückenden Türken, gefährdet durch die Pest in Wittenberg, erschüttert vom Beinahe-Tod nach eigener jäher Krankheit, fühlte er sich bruchlos aufgehoben im „Wir“ des Psalms und wähnte Gott klar auf seiner Seite. Gegen die Papisten. Gegen die Muslime. Gegen die Juden. 

V.

Kommt her, ruft die Stimme in Psalm 46, schaut die Werke des HERRN, der auf Erden solch ein Zerstören anrichtet, der den Kriegen ein Ende macht in aller Welt, der Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt und Wagen mit Feuer verbrennt. 

Die Überlebenden, die hier sprechen, sehen die Verwüstung, die verlassene Stadt, die Skelette der zurückgelassenen feindlichen Waffen – und sind froh, dass der Feind weg ist. Der Krieg ist zu Ende. Eine große Stille kehrt ein. Kein Siegestaumel, weil die eigenen Krieger so tapfer waren. Kein Triumphgeheul, weil die eigene Verteidigung den Feind in die Flucht geschlagen hat. Sie danken Gott. Sie glauben: Gott selbst hat der Gewalt Einhalt geboten und den Krieg beendet. 

Seid stille, und erkennt, dass ich Gott bin! 


Die Waffen schweigen. Endlich.

Das ist die Perspektive des 46. Psalms.

Darauf zielt das Lied Israels, das durch Martin Luther zu unserer Reformations-Hymne geworden ist.
Die Waffen schweigen. Und das ist Gottes Werk. 

Gott macht den ewigen Kreisläufen militärischer Aktionen ein Ende und schafft Ruhe. Ein für alle Mal. Das ist die Hoffnung. Bisher ist diese Hoffnung unerfüllt. Gottes Eingreifen lässt schmerzlich auf sich warten.  

Viele sagen: Frieden in der Ukraine kann erst werden, wenn Russland geschlagen, seine Moral und Rüstung erschöpft und seine Regierung abgelöst ist. Und solange helfen nur Waffen. Wo bliebe schließlich die Gerechtigkeit, wenn einer, der den Nachbarn überfällt, am Ende Gewinn davon hat? 

Ich weiß nicht, ob ich anders denken könnte, wenn ich Ukrainerin wäre. 

Und doch hänge ich an der Perspektive des Psalms.

Ich klammere mich an seine hoffnungsvolle Zielrichtung. 

Ich rechne mit Gottes unverfügbarem Wort, das die Kraft hat, Frieden zu stiften. Ich rechne mit Gottes Gerechtigkeit. 

Gottes Gerechtigkeit – auch das hat Martin Luther uns neu aufgeschlossen! – ist ja mehr und anders als jene Gerechtigkeit, die die Bösen bestraft und die Guten belohnt. Gottes Gerechtigkeit macht Leben und Zukunft möglich für alle. Und darauf kommt es doch an. Menschen können frei und ohne Furcht leben: Das ist Gottes Wille, darauf zielt Gottes Wirken, und wo das Wirklichkeit wird, ist es Gottes Geschenk. 
 
An Gottes Gerechtigkeit richten wir uns aus, wenn wir als Christen reden und handeln. Ja, wir erkennen das Recht an, sich gegen Angriffe zu verteidigen. Und zugleich erinnern wir uns selbst und andere unermüdlich an die friedensstiftende Kraft des Wortes. Wir können Gottes Wirken nicht ersetzen, aber wir können und sollen ihm vorlaufend die Bahn ebnen. Durch kleine, vermeintlich unscheinbare Gesten, die manchmal Unvermutetes bewirken und eine Kultur der Entfeindung schaffen.

Ich ahne: Viele, die heute in dieser Kirche sitzen, könnten dazu eigene, sehr persönliche Geschichten erzählen. 

Friede wird am Ende nicht durch Waffen. Echter und womöglich auch ein annähernd gerechter Friede kann nur werden, wo Menschen miteinander reden und verhandeln. Und das geht nur, wenn der „böse Feind“ nicht zum Teufel ernannt wird. 

Solche Friedensverhandlungen scheinen im Moment leider in weiter Ferne. Umso nötiger ist jedes Gespräch, das darauf zielt: Die Waffen schweigen.

Die Alternative zum gerechten Frieden darf doch nicht endloser Krieg sein!

Niemals darf Krieg die Politik ersetzen. Darum: Verachtet Verhandlungen nicht. Glaubt an die Kraft des geistesgegenwärtigen Wortes. Traut den kleinsten Schritten etwas zu.

Und betet unablässig um Frieden.

Um Frieden, der durch menschliche Vernunft werden kann.

Und um den Frieden Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft. 
Er bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. 

Amen.
 

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