Auf dem Weg zu einer Kirche der Gerechtigkeit und des Friedens
Renke Brahms, der EKD-Friedensbeauftragte, gibt im friedenstheologischen Lesebuch zur Synode 2019 einen Überblick über aktuelle Herausforderungen.
1. Auf dem Weg zu einer Kirche der Gerechtigkeit und des Friedens
Anlass dieses friedenstheologischen Lesebuches ist die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im November 2019 mit dem Schwerpunktthema „Auf dem Weg zu einer Kirche der Gerechtigkeit und des Friedens“.
Nun kann man sich fragen, ob denn Evangelische Kirche etwa nicht schon immer auf diesem Weg war und was der Grund ist, sich neu zu besinnen und auf den Weg zu machen. Auf diese Frage ist in mehrfacher Weise zu antworten:
Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat 2007 nach längerer Vorarbeit eine Denkschrift unter dem Titel „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“(1) veröffentlicht, in der die friedensethische Positionierung formuliert ist. Seit 2007 aber hat sich die Situation verändert und neue Herausforderungen und Fragen stellen sich:
Wir leben in einer zunehmend unsicherer werdenden weltpolitischen Situation. Alte oder mindestens gewohnte Gewissheiten werden umgeworfen. Die Hoffnung, die sich nach dem Ende des Kalten Kriegs auf eine neue Weltfriedensordnung richtete, ist schon durch Kriege und Konflikte wie im ehemaligen Jugoslawien, in Afghanistan oder Jemen getrübt worden. Der Syrienkrieg als Stellvertreterkrieg in schrecklichsten Ausmaßen stellt eine Stufe der Eskalation dar, die alte und neue Konfrontationslinien aufzeigt.
Wir erleben, dass die Wahrheit verdreht wird, unverschämte Lügen als neue Wahrheit gelten und ein nationalstaatliches und nationalistisches Denken um sich greift und internationale Abkommen und Instrumente der Friedenssicherung gefährdet und zerstört. Dazu kommen eine wachsende nukleare Bedrohung und eine Kriegsführung in den Netzen (Cyberwar). Diese Situation fordert uns in Analyse, ethischer Beurteilung und im friedenspolitischen Handeln auf eine besondere Weise heraus.
Der Klimawandel, Klimagerechtigkeit und Nachhaltigkeit kennzeichnen heute viele Debatten. Klimakatastrophen, Dürren und Überschwemmungen sind Ursache von Armut und Hunger, von Wanderbewegungen und Ursache von Konflikten und Kriegen. Der Kampf um Land und Wasser prägt schon heute viele Konflikte und wird es in der Zukunft noch mehr tun. Flucht und Vertreibung haben ihre Ursachen entweder direkt in den Klimaveränderungen oder in den durch diese Veränderungen ausgelösten Konflikten und Kriegen. Die Frage stellt sich immer dringlicher, wie wir nachhaltig leben können, damit wir selbst und die uns nachfolgenden Generationen auf dem Planet Erde überleben und in Frieden und Gerechtigkeit leben können.
Äußerer und innerer Frieden hängen auf das Engste zusammen. Es findet so etwas wie eine zunehmende „Glokalisierung“ statt. Global und lokal hängen zusammen. Das war schon immer so: Ungerechte wirtschaftliche Verhältnisse und ungerechte Verteilung der Güter dieser Erde haben schon immer Konflikte hervorgerufen, die zwar in anderen Regionen ausgebrochen sind, aber ihre Folgen bei uns hatten. In der Migrations- und Flüchtlingsbewegung werden diese Zusammenhänge überdeutlich: In den Gesichtern und Geschichten der Menschen, die bei uns Zuflucht suchen, kommen uns die Konflikte nahe. Wer die Ursachen tatsächlich bekämpfen will, kommt um die Frage nach unserem Lebensstil nicht mehr herum. Und der innere Frieden wird gefährdet, wenn eine wachsende Rechte diese Situation für eigene Zwecke instrumentalisiert. Diese Parteien und Bewegungen gefährden unsere Demokratie weit mehr als die allergrößte Mehrheit derjenigen, die zu uns kommen.
Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Sprung in der Waffentechnologie. Nach der Erfindung des Schießpulvers und der Atomwaffen geht es nun um vollautomatisierte Waffen, die ohne eine menschliche Letztentscheidung nur nach Logarithmen Situationen bewerten und entscheiden. Damit stellen sich enorme ethische und politische Herausforderungen, die noch nicht annähernd beantwortet sind und wieder einmal der Wirklichkeit schon entwickelter Waffensysteme hinterherlaufen.
Der „Vorrang für zivil“, den die Denkschrift im Sinne der jesuanischen Botschaft der Gewaltfreiheit und des Leitbildes eines gerechten Friedens einfordert, ist kein unerreichbares Ziel. Ja, es wird von vielen – auch politisch und militärisch Verantwortlichen – geteilt. Eine zivile und gewaltfreie Konfliktbearbeitung vor, in und nach eskalierenden Konflikten ist längst eine echte Alternative zu militärischen Einsätzen. Es gibt genug Beispiele gelungener Prozesse, die nachhaltiger wirken als viele militärische Interventionen. Es reicht allerdings nicht mehr aus, viele gute Beispiele und Geschichten zu erzählen. Wir müssen über die anekdotische Evidenz hinauskommen und Evaluation und Forschung vorantreiben, um die Instrumente dann auszubauen.
Diese Herausforderungen haben dazu geführt, dass sich mehrere Landeskirchen auf den Weg gemacht haben, sich ihrerseits mit dem Schwerpunktthema „Frieden“ zu beschäftigen, und dazu Beschlüsse gefasst haben, um sich zu positionieren und die Friedensarbeit in ihren Kirchen zu stärken. Bei einer gesamten Würdigung der verschiedenen Prozesse in den Landeskirchen wird Heterogenität sichtbar. Es gib nicht den einen Weg, aber es gibt das eine Ziel: das Leitbild des gerechten Friedens für die Arbeit in den Landeskirchen greifbar zu machen!
Auf diesem Hintergrund hat auch die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) einen Konsultationsprozess zum gerechten Frieden unter dem Titel „Orientierungswissen zum gerechten Frieden – Im Spannungsfeld zwischen ziviler gewaltfreier Konfliktprävention und rechtserhaltender Gewalt“(2) initiiert. Die Konsultationen sind auf verschiedene Arbeitsgruppen verteilt, deren Mitglieder aus der Evangelischen und Katholischen Theologie, Philosophie, dem Völkerrecht, der Politikwissenschaft bzw. Soziologie sowie aus der Naturwissenschaft kommen. Auch ist in jeder Gruppe eine Person vertreten, welche die Perspektive der Praxis mit einbringt. Die interdisziplinär zusammengesetzten Arbeitsgruppen sollen im Rahmen des Konsultationsprozesses das in der Denkschrift entwickelte Leitbild des gerechten Friedens prüfen und weiterdenken. Ziel ist es, zentrale ethische, friedensethische sowie theologische Grundlagen zu klären, aktuelle Friedensgefährdungen und neue Problemlagen zu bestimmen sowie diese friedensethisch zu reflektieren.
Die Evangelischen Akademien haben über mehrere Jahre ein policy-orientiertes Projekt „Dem Frieden in der Welt dienen“(3) mit Tagungen und politischen Hintergrundgesprächen durchgeführt. Ziele der in den verschiedenen Evangelischen Akademien durchgeführten Veranstaltungen sind Evaluation, ethische Reflexion und Unterstützung der Policy-Entwicklung. Die Policy-Orientierung dieses Projekts bedeutet, dass evangelische Friedensethik und das Leitbild des gerechten Friedens in politische, militärische und wirtschaftliche Kontexte hinein anschlussfähig formuliert werden.
Und die Evangelische Friedensarbeit hat im Jahr 2016 eine internationale ökumenische Konsultation „How to become a just peace church – Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche aus dem Geist des Gerechten Friedens“(4) veranstaltet. Wie können Kirchen zu Kirchen des gerechten Friedens werden? Und das in gesellschaftlichem Wandel und zur Erneuerung der Kirchen aus dem Geist des gerechten Friedens? Mit diesen Fragen beschäftigte sich die Konsultation in Berlin. Alle Teilnehmenden haben sich auf einen Prozess eingelassen, der einen Schritt auf dem Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens darstellt. Eine Einsicht dabei war, dass es ein langer Weg ist zum Frieden, der nur in der ökumenischen Gemeinschaft gelingen kann. Die Konsultation hat zur Ermutigung auf diesem Weg beigetragen.
2. Auf dem Weg zu einer Kirche der Gerechtigkeit und des Friedens
„Frieden“ ist Kernthema der biblischen Botschaft und der Kirche. In jedem Gottesdienst wird daran erinnert, aus welcher Quelle die Kirche lebt: „Der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn“ (Phil 4,7). Und auch am Ende des Gottesdienstes hat der Frieden das letzte Wort: „… und schenke dir Frieden“.
Wenn der Frieden ein Kennzeichen der Kirche (nota ecclesiae) ist, muss das Bestreben der Kirche heute sein, eine Kirche des gerechten Friedens zu werden. Wie aber ist das möglich? Zunächst einmal dadurch, dass auf allen Ebenen kirchlicher Arbeit erkannt wird, dass das Friedensthema in seiner Breite kein Randthema der Kirche, sondern ihr zentrales Thema ist. Wenn wir Friede mit Gott durch Jesus Christus haben (Röm 5,1) und Christus unser Friede ist (Eph 2,14), sind wir in der Mitte der Rechtfertigungsbotschaft und in der Mitte der Kirche angekommen. Und dabei geht es nicht um ein spiritualistisches oder individualistisches Friedensverständnis „Ich und mein Gott“, sondern um den Einzelnen wie um Kirche und Welt.
Eine Kirche des gerechten Friedens lebt aus Gottes Frieden und sorgt für gerechten Frieden. Sie lädt zum Frieden mit Gott ein, lebt den Frieden in der Gemeinde und engagiert sich für den Frieden in dieser Welt. Es ist also theologisch gesprochen auch eine Frage der Ekklesiologie, die hier verhandelt wird. Das heißt aber, dass auf allen Ebenen kirchlicher Arbeit das Friedensthema in umfassender Weise verhandelt wird: in der theologischen Ausbildung, in der Verkündigung und der Bildungsarbeit, in der Art und Weise, wie in der Kirche Konflikte angegangen und gelöst werden, in Verlautbarungen, in denen die Kirche Stellung nimmt und im tätigen Friedensengagement. Gemeindeaufbau aus dem Frieden Gottes wäre die Konsequenz und das Reformatorische heute. Ecclesia semper reformanda – die Kirche erneuert sich aus dem Geist des Friedens.
3. Auf dem Weg zu einer Kirche der Gerechtigkeit und des Friedens
Das Leitbild des „gerechten Friedens“ verdankte sich seit den großen ökumenischen Versammlungen 1988/98 sehr wesentlich ökumenischen Impulsen. Die Trias von „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ wirkte auch auf die Konzeption der Friedensdenkschrift von 2007 ein. Der „Ecumenical Call to Just Peace“(5) (Ökumenischer Aufruf für einen gerechten Frieden) des Ökumenischen Rates der Kirchen aus dem Jahr 2011 verwendet das „Just Peace“ (gerechter-Friede)-Konzept als ein analytisches Rahmenkonzept (framework of analysis), das auch Handlungskriterien (criteria for action) anbietet – und damit eine grundlegende Verschiebung in der ethischen Praxis (a fundamental shift in ethical practice) umfasst. „Just Peace“ solle damit für einen neuen ökumenischen Konsens über Frieden und Gerechtigkeit (new ecumenical consensus on justice and peace) stehen bzw. diesen prozessual ermöglichen, insbesondere im Verhältnis zwischen globalem Süden und den Ländern des Nordens.
Die ÖRK-Vollversammlung in Busan/Südkorea nahm 2013 diesen „Call to Just Peace“ auf und erweiterte ihn zu einem noch deutlicher prozessualen Friedensverständnis, zu einer Einladung, an einer „Pilgrimage of Justice and Peace“(6) teilzunehmen. Im Zusammenhang mit der Pariser Weltklimakonferenz wurden hier intensiv Fragen der Klimagerechtigkeit, der Nachhaltigkeit und der ökologischen Transformation des westlich geprägten Wirtschaftsmodells aufgenommen. Dies macht deutlich, dass „gerechter Friede“ nicht ausschließlich in – im engeren Sinne – politischen Kategorien beschrieben werden kann.
Das Wort „Pilgerweg“ wurde gewählt, um auszudrücken, dass es sich um einen Weg mit einer tiefen spirituellen Bedeutung und mit hochtheologischen Konnotationen und Auswirkungen handelt. Als „Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens“ ist es weder ein Weg hin zu einem konkreten Ort auf der Landkarte, noch eine einfache Form des Aktivismus. Es ist vielmehr ein verwandelnderWeg, zu dem Gott aufgerufen hat, in Erwartung des letztlichen Ziels für die Welt, das der dreieinige Gott bewirkt.
Mit der Formulierung „der Gerechtigkeit und des Friedens“ (in Erweiterung des Begriffs „gerechter Friede“) kann auch auf mögliche Spannungsfelder zwischen Gerechtigkeit und Frieden hingewiesenwerden. Es mag Situationen geben, in denen eine Entscheidung notwendig ist, die Priorität auf eines von beiden zu legen. Wer sich für Gerechtigkeit einsetzt, wer Täter anklagt, Menschenrechtsverletzungen öffentlich macht und Opfer in Schutz nimmt, kann damit bestehende Konflikte verschärfen. Wer sich dagegen mit gewaltfreien Mitteln für ein friedliches Zusammenleben einsetzt, muss sich gelegentlich fragen lassen, ob dabei schweres Unrecht nicht zu schnell ad acta gelegt wird, ob Opfern von Gewalt nicht Rechte vorenthalten werden. Dennoch wissen wir, wie eng Gerechtigkeit und Frieden zusammengehören. Die Bibel spricht davon, dass Friede und Gerechtigkeit sich küssen sollen (Ps 85). Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden – bestenfalls eine (vorübergehende) Waffenruhe. Aber ohne Frieden gibt es auch keine Gerechtigkeit, denn Krieg ist selbst ein Verbrechen.
Aufgabe der EKD-Synode im Herbst 2019 wird es sein, die Friedensbotschaft des Evangeliums neu in die gegenwärtigen Herausforderungen und Aufgaben hineinzusprechen. Es geht darum, das Leitbild des gerechten Friedens in der Vielfalt der Bezüge zu entfalten: als geistliche Praxis und theologische Rechenschaft, als ethische Orientierung, in seiner politischen Relevanz, in ökumenischer Weite und ausgerichtet auf kirchliche Erneuerung. Neben der Aufgabe, evangelische Friedensethik weiterzudenken, soll eine Selbstverpflichtung der evangelischen Kirche stehen, ihre eigene Botschaft und Gestalt zu prüfen und konkrete Schritte auf dem Weg zu einer „Kirche der Gerechtigkeit und des Friedens“ zu gehen.
Es mag dabei bleibende Unterschiede in den Überzeugungen geben, welches der beste Weg zum Frieden ist. Eines aber ist als Konsens festzuhalten: Die Botschaft der Gewaltfreiheit Jesu fordert jeden einzelnen Christenmenschen und die ganze Kirche heraus, sie drängt die Kirche dazu, den Vorrang der gewaltfreien und zivilen Instrumente der Konfliktlösungen zu stärken. Dabei zeigt auch die Praxis, dass es hier nicht um Utopie, sondern um realistische Optionen geht. Es gibt genug zu tun, um diesen Weg weiterzugehen. Dazu soll die Synode der EKD im Jahr 2019 einen Beitrag leisten.
Renke Brahms
Friedensbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland
(1) Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen, Eine Denkschrift des Rates der
Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2007.
(2) http://www.konsultationsprozess-gerechter-frieden.de/ (18. 06.2019).
(3) https://www.evangelische-akademien.de/projekt/dem-frieden-der-welt-zu-dienen/
(18. 06.2019).
(4) „How to become a Just Peace Church“. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der
Kirche aus dem Geist des Gerechten Friedens. Internationale Friedenskonsultation, epd
Dokumentation 04/2017.
(5) http://www.overcomingviolence.org/fileadmin/dov/files/iepc/resources/ECJustPeace_
English.pdf (18. 06.2019)
(6) https://www.oikoumene.org/en/resources/documents/central-committee/geneva-
2014/an-invitation-to-the-pilgrimage-of-justice-and-peace (18. 06.2019)
Der Text ist erschienen im friedenstheologischen Lesebuch zur EKD-Synode 2019 „Auf dem Weg zu einer Kirche der Gerechtigkeit und des Friedens“.
Ein friedenstheologisches Lesebuch
Im Auftrag des Präsidiums der Synode der EKD, hrsg. durch das Kirchenamt der EKD
Evangelische Verlagsanstalt GmbH Leipzig
Preis 35,00 Euro