Unsere Verantwortung für den Sonntag
Anhang 1
Den Sonntag feiern
Gemeinsames Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz
"Den Sonntag feiern" - für viele ist das eine Freude, für andere eine Last, für manche ein Problem. Was einmal selbstverständlich war, hat weithin seine Selbstverständlichkeit verloren. Und doch wäre es für alle Menschen eine schreckliche Vision, den Sonntag zu verlieren. Er ist ein Geschenk und birgt selbst in seiner Entstellung noch sein Geheimnis.
Viele von uns erfahren den Sonntag nicht als einen besonderen Tag. Er ist eingebettet in das Wochenende, das am Freitagnachmittag beginnt. Ein früher niemals gekanntes Maß an Freizeit bringt die Aufgabe mit sich, die freie Zeit zu nutzen. Eine ganze Industrie bietet ihre Dienste an. Tätigkeiten, die einmal die freie Zeit ausfüllten, gewinnen Arbeitscharakter. An die Stelle von Entspannung und Ruhe treten deshalb schon wieder Hektik und Unruhe. Der Sonntag wird gleichsam aufgesogen vom Wochenende, ist nur noch dessen Abschluß, sein letzter Tag. Ganze Berufszweige im Dienstleistungsbereich sind am Wochenende besonders angespannt.
Häufig unterscheiden sich Werktag und Sonntag kaum noch voneinander. Der Rhythmus von Anspannung und Entspannung, Tätigkeit und Ruhe ist verlorengegangen. Der Unrast der Arbeit entspricht die Unrast des Konsums. Wo alles nur auf Leistung abgestellt ist, bleibt die Seele leer.
Verändert hat sich auch der Zusammenhang von Sonntag und Familie. Daß der Sonntag besonders der Familie gehörte, ist weithin dem Bewußtsein entschwunden. Jeder meint, der Sonntag gehöre zuerst ihm selbst. Die Familie ist der Konkurrenz verschiedener Angebote ausgesetzt (zum Beispiel dem Fernsehprogramm und Freizeitveranstaltungen), die den einzelnen unterschiedlich interessieren. Als Folge davon wiederum fühlen sich viele Familien nicht mehr so zusammengehörig, daß es für sie selbstverständlich ist, den Sonntag wenigstens teilweise gemeinsam zu gestalten.
Der christliche Glaube aber läßt uns nicht stehenbleiben bei einer Analyse unserer Situation und der Trauer über Vergangenes. Er ermutigt uns, "den Sonntag zu feiern". Die Erinnerung an seine Herkunft zeigt auch in der Gegenwart neue Möglichkeiten.
Die Bibel berichtet: "Am siebten Tag vollendete Gott das Werk, das er geschaffen hatte, und er ruhte am siebten Tag, nachdem er sein ganzes Werk vollbracht hatte. Und Gott segnete den siebten Tag und erklärte ihn für heilig" (Gen 2, 2 - 3 a). Der Sabbat ist ein Geschenk der Fürsorge Gottes, durch das er an seiner Ruhe und Kraft Anteil gewährt. Israel nahm dieses Angebot an und gehorchte dem Gebot Gottes, das ihm am Sinai gegeben wurde: "Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig!" (Ex 20, 8). So findet der Mensch in der Ruhe die Freiheit, Gott zu dienen, ihn zu preisen und für die Mitmenschen, besonders für die schwachen, da zu sein.
Weil Jesus Christus "am ersten Tag der Woche" (Mk 16, 2) von den Toten auferweckt wurde, feiern die Christen den Sonntag als den Tag des Herrn. Der Sinn des Sabbats wurde in die Feier des Sonntags aufgenommen. Der erste Tag der Woche war der Anfang der Schöpfung. Die Auferstehung Jesu Christi ist der Anfang der neuen Schöpfung. So umgreift der Sonntag alte und neue Schöpfung. Wer den Sonntag feiert, bekennt: Christus ist erstanden, Christus lebt. Unser vergängliches Leben und diese vergehende Welt sind aufgenommen in Gottes unvergängliches Leben.
Der Sonntag als der erste Tag der Woche drückt daher auch die Freude an der alten und der neuen Schöpfung aus.
Den Dank für die Schöpfung und den Lobpreis für die Auferstehung Christi haben die Christen von Anfang an in der gottesdienstlichen Feier zum Ausdruck gebracht. Am Sonntag kamen sie zusammen, um der Taten ihres Herrn zu gedenken und eins zu werden in der Feier des Herrenmahles.
Dank und Feier gehören eng zusammen. Die Feier des Sonntags ist die Antwort der Christen auf das, was Gott getan hat. Weil viele nicht recht wissen, wofür sie eigentlich danken sollen, tun sie sich schwer zu feiern. Es ist wichtig, an diesem Tag uns zu besinnen und zur Ruhe zu kommen, damit wir entdecken, wofür wir zu danken haben. Viele gehen heute den entgegengesetzten Weg. Sie fühlen sich nicht als Menschen, die ihr Leben anderen verdanken, die ihr Dasein und den Sinn ihres Lebens von Gott als Geschenk empfangen. Die Last des Alltags drückt. Aus solch einem Lebensgefühl heraus will es nicht gelingen, Gottesdienst zu feiern.
Spiel und Sport, Gespräch und Erholung, die Natur erleben und bewundern, sich kümmern um andere - das alles öffnet unseren Blick für Dank und Feier. Es kann uns ahnen lassen, daß es mehr gibt als nur das Tun, das auf einen Zweck ausgerichtet ist. Zugleich macht es uns deutlich, daß unser Leben nicht aufgeht in dem, was wir leisten. Die Arbeit ist keinesfalls gering zu achten. Aber sie ist bei weitem nicht alles. Dieses "Mehr" gibt der Feier des Gottesdienstes einen eindeutigen Inhalt. Im Gottesdienst feiern wir nicht uns selbst, sondern den, von dem wir kommen und zu dem wir gehen. Die Mitte des Gottesdienstes ist Gottes Geschichte mit uns: Jesu Tod und Auferstehung, seine Himmelfahrt, sein Leben unter uns und sein Kommen in Herrlichkeit.
Feste leben von Erinnerungen an frühere Rettung, den Alltag durchbrechende Wunder, den Aufschein von Gottes Nähe. Feste fügen jedes Einzelleben ein in einen großen Zusammenhang. Ausgespannt zwischen einer weit zurückreichenden gemeinsamen Erinnerung und der gemeinsamen Hoffnung, daß der Herr Jesus Christus wiederkommt und die Schöpfung vollendet, gewinnt unser Leben an Tiefe, erhält es Gewicht.
Daran fehlt es. Viele leben wie abgeschnitten von ihrer Vergangenheit. Seelische und geistige Krankheiten haben häufig ihre Ursachen im Verdrängen wichtiger Daten der eigenen Biographie. Heilung setzt dann ein geduldiges Zurücktasten in die Vergangenheit voraus. Erst so wird der Blick wieder frei für die Gegenwart und für die Zukunft.
Auch auf der Geschichte der Völker und Kirchen lasten Vergessen und Verdrängen. Um die Krankheiten unserer Gesellschaft zu heilen, bedarf es der Erinnerung, die Verdrängtes frei setzt und Vergessenes ans Licht bringt. Hier kann uns die Glaubensgeschichte Israels wichtige Hilfen vermitteln.
Israel war das unter allen altorientalischen Völkern am stärksten auf neues Geschehen, auf Zukunft ausgerichtete Volk. Seine Fähigkeit zu immer neuen Anfängen bezog es aus einem beständigen Umgang mit seiner Geschichte. In seinen Liedern erinnert sich Israel dankbar an Gott, der es aus der Hand des Pharao befreite, am Sinai einen Bund mit ihm schloß und in Geboten den Weg zum Leben wies.
Unsere Unfähigkeit zu feiern läßt sich heilen, wenn wir wieder das Erinnern üben, uns die Überlieferung der Bibel und Erfahrungen aus der Geschichte der Kirche ins Gedächtnis rufen. "Tut dies zu meinem Gedächtnis!" (1. Kor 11, 25) steht als Überschrift über unseren Gottesdiensten. Gegenüber der Langeweile in einer technisch perfekt funktionierenden Welt wird im Gedächtnis Jesu Christi die Kraft seines Opfers, das Außergewöhnliche seiner Freiheit, die Beständigkeit seiner Liebe erfahren. In solcher Erinnerung wächst Freude an Gott. Diese Freude teilt sich mit in der Verkündigung des Evangeliums. Die Predigt und die Feier der Eucharistie führen Menschen zusammen zur Gemeinde. Sie feiern den Tod und die Auferstehung ihres Herrn. Sie werden als Zeugen gesandt zu den Menschen, vorbereitet für den Dienst in der Welt und gestärkt in der Liebe zueinander. So sind das Lob Gottes und der Einsatz für den Nächsten aufeinander bezogen.
Der Gottesdienst bildet die Mitte der Gemeinde. Das Sonntagsgebot dient seinem Schutz. Wer seine Teilnahme auf spontane Bedürfnisse abstellt, entschließt sich meistens zu spät. Wer nur aus Gewohnheit geht, trägt bei zur Langeweile. Die gute Gewohnheit aber darf nicht verdächtigt werden. Sie hilft mit, daß der Gottesdienst nicht abhängig wird von unseren schwankenden Stimmungen und vermeintlichen Bedürfnissen. Der Gottesdienst der Gemeinde muß von Willkür geschützt werden. Er verträgt nicht ruhelose Abwechslung, sondern braucht Stetigkeit und Wiederholung. Er bedarf der Beständigkeit der Form ebenso wie der lebendigen Gestaltung und Beteiligung.
In der Feier des Sonntags und der Liebe zum Gottesdienst sind evangelische und katholische Christen miteinander verbunden. Um so schmerzlicher ist, daß sie noch nicht in der Lage sind, alle ihre Feste in gemeinsamen Gottesdiensten zu feiern. Das zeigt sich besonders am Sonntag.
Nach apostolischer Überlieferung gehören Herrentag und Herrenmahl zusammen. Durch alle Jahrhunderte hat die katholische Kirche daran festgehalten, daß die Feier des Auferstehungstages die Zusammenkunft zur sakramentalen Feier des Todes und der Auferstehung Christi in der Eucharistie erfordert. Auch die evangelische Kirche hat, nachdem es weithin in Vergessenheit geraten war, neu erkannt, daß am Sonntag das Herrenmahl gefeiert werden soll. Sie achtet jedoch den Predigtgottesdienst in gleicher Weise und sieht auch in ihm eine angemessene Weise, den Sonntag zu feiern.
Diese unterschiedliche Überzeugung hat auch Folgen für die kirchliche Praxis. Nach katholischem Verständnis kann ein Wortgottesdienst die Eucharistiefeier am Sonntag reicht ersetzen. Deshalb ist der Vorabend des Sonntags und der Sonntagvormittag für die Eucharistie freizuhalten. Aus wichtigen Gründen können ökumenische Gottesdienste am Sonntagnachmittag und Sonntagabend gehalten werden, wenn die Teilnehmer zuvor Gelegenheit zum Besuch der Eucharistiefeier hatten und wenn eine Eucharistiefeier zu ortsüblicher Zeit dadurch nicht verdrängt wird. In dieser Praxis drückt sich keine Geringschätzung des Wortgottesdienstes aus, ist doch die Heilige Messe immer Wort- und Sakramentsgottesdienst zugleich. In Verbindung mit ihr haben Stundengebet, Andachten und Predigtgottesdienste ihre unverzichtbare Bedeutung für Kirche und Welt; sie müssen daher nach Kräften gefördert werden.
Die evangelische Kirche unterstützt alle Bemühungen, den Sonntag durch die regelmäßige Feier des heiligen Mahles auszuzeichnen. Dabei vergißt sie nicht, daß eine seltenere Feier der Eucharistie auch Ausdruck einer Hochschätzung des Sakraments sein kann. Bei manchen Anlässen möchte sie zur üblichen sonntäglichen Gottesdienstzeit zu einem ökumenischen Gottesdienst einladen. Kirchliche Regel, die den Normalfall im Auge hat, und pastorale Sorge, die den besonderen Fall ins Auge faßt, ermöglichen in evangelischer Sicht erst eine hilfreiche Entscheidung, wenn sie miteinander bedacht werden; die Ausnahme muß dabei die allgemeine Praxis nicht stören.
Daß die evangelische Kirche das Herrenmahl neu entdeckt hat und vermehrt feiert, gleichzeitig aber die katholische Kirche den Wortgottesdienst und den Rang der Predigt in der Eucharistiefeier in neuer Weise schätzt, bringt beide gottesdienstliche Traditionen einander näher. Der evangelische Predigtgottesdienst "protestiert" nicht länger, die katholische Meßfeier entspricht dem Auftrag der Verkündigung. Diese Annäherung im zentralen Bereich des Gottesdienstes läßt hoffen, daß die Kirchen noch weiter zueinander geführt werden.
Wir leiden gemeinsam unter der schmerzlichen Erfahrung, daß es zwischen evangelischer und katholischer Kirche bislang keine Abendmahlsgemeinschaft und keine volle Gemeinschaft unserer Kirchen gibt. Kirchengemeinschaft vollzieht sich als Eucharistiegemeinschaft, Eucharistiegemeinschaft setzt Kirchengemeinschaft voraus. Aus dieser gemeinsamen Überzeugung ziehen evangelische und katholische Kirche nicht dieselben Folgerungen.
Weil die Kirchen auf dem Weg zueinander sind und die gemeinsame Feier der Sakramente die Einheit der Christen fördert, lädt die evangelische Kirche auch Christen, die anderen Konfessionen angehören, zu ihren Abendmahlsfeiern ein. Dies gilt insbesondere für konfessionsverschiedene Ehepartner, von denen jeder in seiner Kirche seine Heimat behalten will.
Weil die katholische Kirche die Glaubens- und Kirchengemeinschaft noch nicht in notwendigem Maße gegeben sieht, ist nach ihrer Überzeugung die Eucharistiegemeinschaft noch nicht möglich. Sie läßt daher evangelische Christen lediglich in Notfällen unter bestimmten Voraussetzungen zur heiligen Kommunion zu, gestattet aber ihren Gliedern nicht, das evangelische Abendmahl zu empfangen.
Angesichts der noch nicht überwundenen Trennung der Kirchen ist es geboten, die Entscheidung zu respektieren, die jede Kirche nach sorgfältiger Prüfung für die Zulassung zur Eucharistie getroffen hat. Wer an der Kommunion in der Kirche des Partners nicht teilnimmt, ist von der gottesdienstlichen Gemeinschaft nicht ausgeschlossen, wenn er in Gebet und Andacht mitfeiert.
Wir bemühen uns gemeinsam, die uns in einer langen und traurigen Geschichte zugewachsenen Hindernisse auszuräumen. Eindringlich bitten wir alle Christen, zusammen mit uns den Vater im Himmel anzurufen: "Alle sollen eins sein" (Joh 17, 21).
Im Gottesdienst der Christen wird die Welt vor Gott gebracht in Fürbitte und Lob, in Dank und Klage. "Das Wort Christi wohne mit seinem ganzen Reichtum bei euch. Belehrt und ermahnt einander in aller Weisheit! Singt Gott in eurem Herzen Psalmen, Hymnen und Lieder, wie sie der Geist eingibt, denn ihr seid in Gottes Gnade" (Kol 3, 16). Christus zu loben, der das Ebenbild Gottes des Vaters ist, ist Aufgabe der christlichen Gemeinde. Die Feier des Sonntags läßt die Gegenwart Jesu Christi und die Kraft des Glaubens erfahren. Wir machen den Gemeinden und Pfarrern Mut, mit Hingabe Gottesdienst zu feiern. Wir bitten sie, nicht nachzulassen, die Erinnerung an Gottes große Taten wachzuhalten. Wir laden die Menschen ein, die enttäuscht sind vom Gottesdienst, es noch einmal und immer wieder mit ihm zu versuchen. Das Leben verkümmert, wenn die Feste entschwinden. Die christliche Gemeinde ist mit einer großen Verantwortung beladen für alle Menschen. Nicht nur die Kirche, auch die Welt braucht das Fest der Christen, sie braucht den Sonntag und den Gottesdienst.
Hannover/Bonn, den 1. Advent 1984
Landesbischof D. Eduard Lohse
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
Kardinal Joseph Höffner
Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz