Unsere Verantwortung für den Sonntag

Kopie von EKD-Texte/sonntag/sonntag3

  1. Wir rufen die Christen auf, sich an den Sinn des Sonntags neu zu erinnern und den Sonntag zu heiligen. Nur wenn wir uns des religiösen Kerns bewußt bleiben und dies in unserem Leben auch praktizieren, wird es gelingen, die Sonntagsruhe in der Gesellschaft zu erhalten. Für die Sonntagsheiligung ist von Bedeutung: Die Feier des Gottesdienstes in der christlichen Gemeinde. So wichtig für den einzelnen das persönliche Gebet und die Verbundenheit mit Gott sind, so bedeutsam ist doch auch das gemeinsame Gebet der Christen in der Versammlung der Gemeinde am Sonntag. Wenn wir uns Gott zuwenden, dann werden wir uns unserer Würde als "Bild Gottes", wie es im Schöpfungsbericht heißt, bewußt. Gott ist der Grund des Menschen und seiner unantastbaren Rechte und Pflichten. Darüber hinaus sind die Getauften "Einer in Christus" (Gal 3, 28). Ihrer Berufung entspricht die gemeinsame Danksagung, die ihr Einssein in Christus bezeugt und vertieft.
         
    Wichtig für die Gestaltung des Sonntags sind Gemeinschaft und Gemeinsamkeit mit anderen, Austausch, Umgang und Gespräch. In einer Gesellschaft, in der Vereinzelung, Anonymität und soziale Bindungen tendenziell abnehmen, hat dies eine besondere Bedeutung. Das Gespräch kann in der Familie, mit Freunden, Verwandten oder Bekannten gepflegt werden. Dabei können die Ereignisse und Erfahrungen erörtert, Fragen, die anstehen, besprochen und Rat in schwierigen Situationen gesucht werden. Dies stärkt zugleich den Zusammenhalt untereinander, die Bereitschaft, aufeinander zu hören und miteinander zu denken und zu planen, auch füreinander einzustehen. Ein wirksames Zeichen unserer Verbundenheit ist es, wenn wir kranke Menschen besuchen und an ihren Sorgen und Leiden Anteil nehmen.
         
    Wir sollten uns auch fragen, wie der Sonntag als Ruhetag uns wirklich Muße und Erholung schenken kann. Ausruhen von ermüdender Arbeit, so unverzichtbar es ist, darf noch nicht gleichgesetzt werden mit der Muße, mit der Ruhe, mit der Sonntagsruhe. Ausruhen soll verausgabte Kräfte wieder ersetzen; Muße ist eine schöpferische Ruhe von der ständigen Beanspruchung und dem Streß des Alltags. Sonntagsheiligung ist Besinnung und Bewußtwerden des Sinnes unseres Daseins, ist die Hinwendung zu Gott, unserem Schöpfer und unserem Ziel. Wir müssen wieder mehr Zeit für uns und füreinander haben. Dies ist nicht allein eine Frage der äußeren Verhältnisse, sondern auch unserer Einsicht und unserer Entschiedenheit: Wir dürfen nicht uns selbst den Sonntag stehlen.
         
    An Sonn- und Feiertagen sollten wir das tun, was uns Erholung und Freude bereitet. Dazu gehören die Besinnung, die innere Einkehr, die schöpferische Entfaltung, die Erbauung, das Zu-sich-selbst-Kommen und Abstand-Gewinnen, aber auch das gemeinsame Spiel, die Zerstreuung, die bereichernde Unterhaltung und der spielerische Wettbewerb. Erholung und Entspannung dienen dabei nicht primär der Rekreation von und für die Arbeit, sondern sie haben eine eigenständige Bedeutung.
         
  2. Ob der Schutz des Sonntags auch in Zukunft gewährleistet sein wird, hängt wesentlich von den Arbeitgebern und Unternehmern ab. Es ist erfreulich, daß sich maßgebliche Repräsentanten der Arbeitgeberseite eindeutig hinter das Verbot der Sonntagsarbeit gestellt und für die Sonntagsruhe ausgesprochen haben.
         
    Es wird darauf ankommen, daß diese Auffassung nicht von einzelnen mißachtet wird, sei es direkt, sei es indirekt. Entscheidend aber ist, daß die ethischen und religiösen Werte und Maßstäbe nicht auf die zweite Ebene zurückgestellt werden, wozu Kostendruck und Wettbewerb leicht verleiten. Dabei würde der wechselseitige Zusammenhang zwischen Arbeit und Muße, zwischen Produktion und Besinnung, zwischen Rentabilität und Menschlichkeit übersehen. Wie die Bemühungen um ein gutes Betriebsklima gezeigt haben, hängt die Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens auch von der Menschlichkeit der Verhältnisse ab. Die Sonntagsruhe ist ein Zentralwert unserer Kultur. Würde man sie mehr und mehr aushöhlen, dann würde auf längere Sicht auch die Wirtschaftlichkeit darunter leiden. Schon in dem Gemeinsamen Wort von 1985 "Der Sonntag muß geschützt bleiben" wurde festgestellt: "Den Sonntag braucht der Mensch und die Gesellschaft, um zu erfahren, daß Produktion und Rentabilität nicht den Sinn des Lebens ausmachen." Produktion und ebenso ein erfolgreiches Wirtschaften sind wichtig, aber sie dürfen nicht auf Kosten einer humanen Lebensgestaltung, auf die uns das Gebot Gottes verweist, gehen.
         
    Rein wirtschaftliche Gesichtspunkte können keine Ausnahmegenehmigungen vom Verbot der Sonntagsarbeit rechtfertigen. Es wäre ein kultureller Rückschritt, wollten wir die stärkere Berücksichtigung von Freiräumen und humanen Werten im Arbeitsleben, die durch die moderne Technik mit ihren entlastenden Wirkungen für den Menschen ermöglicht werden, gerade jetzt wieder rückgängig machen.
         
    Verschiedentlich wird versucht, für die Sonntagsarbeit Arbeitnehmer einzusetzen, die nur geringe familiäre Bindungen, ein hohes Maß an Flexibilität und Interesse an den Ausgleichsregelungen haben; auch wenn sie sich freiwillig dazu bereit erklären, so muß dieser Versuch doch zurückgewiesen werden. Denn längerfristig würde dies einer Spaltung des Arbeitsmarktes Vorschub leisten: in voll verfügbare und nur beschränkt einsetzbare Arbeitnehmer.
         
  3. Eine besondere Verantwortung für die Erhaltung des Sonntags tragen in unserer Gesellschaft die Erwerbstätigen, die von ihnen gewählten Betriebsräte und die Gewerkschaften. Es ist erfreulich, daß die Gewerkschaften nicht bereit sind, den Sonntag zur Disposition zu stellen, es sei denn, ein kontinuierlicher Produktionsprozeß sei aus technischen Gründen notwendig.
          
    Bei den Gewerkschaften wird die Sorge um den Sonntag in der Regel im Zusammenhang mit dem von ihnen erkämpfen freien Samstag gesehen. Der freie Samstag wird von vielen Arbeitnehmern dazu benutzt, Einkäufe und Besorgungen zu tätigen, zu denen sie in der Arbeitswoche gar nicht kommen. Oft werden Samstag und Sonntag zur Erholung genutzt. Für viele machen die ständig gestiegenen Anforderungen im Arbeitsprozeß neben dem täglichen Feierabend einen längeren Zeitraum am Ende und zu Beginn einer Woche erforderlich, wie er sich in weiten Bereichen der Wirtschaft eingespielt hat. Ohne wirkliche Notwendigkeit darf diese soziale Errungenschaft nicht preisgegeben werden. Allerdings besteht aus christlicher Sicht zwischen dem Sonntag und dem "Wochenende" ein qualitativer Unterschied.
         
    Wir dürfen uns auch nicht der Einsicht verschließen, daß Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, in Schwierigkeiten geraten können und ihre Arbeitsplätze gefährdet sehen. In einer solchen Situation muß es möglich bleiben, die Arbeitszeit so zu organisieren, daß einerseits die Zukunft des Unternehmens gesichert und damit die Arbeitsplätze erhalten werden, und daß andererseits der Sonntag nicht gefährdet wird.
         
          Alle Arbeitnehmer und die Betriebsräte bitten wir, nicht aus kurzsichtigen Erwägungen auf Angebote einzugehen, die die Sonntagsarbeit durch Hinweise auf die erhöhten Verdienstmöglichkeiten und vermehrte Freizeit anpreisen wollen. Auf längere Sicht schadet dies dem Arbeitnehmer und seiner Familie. Das menschliche Gleichgewicht ist wichtiger als ein zu teuer erkauftes Geld. Der Mensch lebt nicht nur vom Brot, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt (Mt 4, 4). Dieses Wort muß auch unsere Einstellung zur Arbeit prägen.
         
  4. Die Bundesregierung, die erneut den Entwurf eines Arbeitszeitgesetzes vorgelegt hat, wird gebeten sich dafür einzusetzen, daß im Fortgang des Gesetzgebungsverfahrens der zentrale Punkt "Sonn- und Feiertagsarbeit" keinerlei Abschwächung erfährt und die Ausnahmen wirklich auf ein Minimum beschränkt bleiben. In dem Gesetzentwurf wird die bisherige Regelung der Sonn- und Feiertagsruhe bekräftigt. Auch was die Ausnahme vom Beschäftigungsverbot betrifft, wird in der Begründung festgehalten: "Aus wirtschaftlichen Gründen ist demzufolge die Sonn- und Feiertagsarbeit nicht zulässig." Damit diese Norm eingehalten und nicht unterlaufen werden kann, ist es notwendig, die Kriterien für die Ausnahmeregelung für "Arbeiten, die aus chemischen, biologischen, technischen oder physikalischen Gründen einen ununterbrochenen Fortgang auch an Sonn- und Feiertagen erfordern", genau festzulegen. Eine vom Bundesrat eingebrachte Ausnahmeregelung für den Betrieb von hochtechnisierten und automatisierten Produktionsanlagen wird von der Bundesregierung zu Recht abgelehnt.
         
    Wir bitten alle Verantwortlichen in den Ländern und im Bund, die bisherige strikte Regelung der Sonntagsruhe auch nicht mit einer großzügigen Praxis bei der Erteilung von Ausnahmegenehmigungen auszuhöhlen. Anträge, die sich auf technische Gründe berufen, sind sehr genau zu prüfen. Gerade hier besteht in den meisten Fällen durchaus Spielraum für die Arbeitsorganisation; das heißt, die angegebenen technischen Gründe sind bisweilen nur in einem weiten Sinn "technischer" Art, in Wirklichkeit aber doch wirtschaftlicher Natur.
         
    Es wird außerdem eine wichtige Aufgabe der Politik sein, in der Europäischen Gemeinschaft und in allen Ländern Europas Regelungen zu erreichen und zu sichern, die den Sonntag im gebotenen Umfang wirksam schützen. Dies wäre zugleich ein Beitrag, um die Gleichheit der Startchancen und des Wettbewerbs für die Unternehmen zu gewährleisten.
         
  5. Auch die Massenmedien tragen in unserer Gesellschaft eine hohe Verantwortung, damit die Menschen den Sinn des Sonntags bedenken und erfahren können. Es sollte alles vermieden werden, was den Sonntag zu einem Tag der bloßen Unterhaltung herabmindert. Wir brauchen die Wiederentdeckung dessen, was mit Sonntagsheiligung gemeint ist: Gott zu loben, damit der Mensch sich seiner Würde bewußt bleiben kann; zu Gott zu beten, damit uns für die Arbeit und das Leben im Alltag immer neu Kraft von oben geschenkt werde; dies in das öffentliche Bewußtsein zurückzuholen und die Besinnung und die Muße als Gegenpol zur Arbeit und rastlosen Tätigkeit wieder zu begreifen, um einer säkularen Erschlaffung und Sinnentleerung des Menschen entgegenzutreten.
         
  6. Wir bitten alle Christen, bei der Planung und Durchführung von Veranstaltungen so zu verfahren, daß der Sonntag nicht durch unser eigenes Verhalten in Gefahr gerät. Kirchliche Veranstaltungen und Veranstaltungen kirchlicher Verbände und Einrichtungen am Sonntag müssen den Gottesdienst vorsehen, sei es als besonderer Gottesdienst, sei es als Teilnahme am Gottesdienst der Gemeinde. Christen müssen bei der Planung weltlicher Sonntagsveranstaltungen darauf dringen, daß Gelegenheit zum Gottesdienst bleibt. Der Sonntag darf auch nicht durch häufige lange Veranstaltungen in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag entwertet werden.
         
    Sorgen wir dafür, daß der Sonntag für uns und für unsere Mitwelt das bleibt, als was er gestiftet ist: Der Tag des Herrn als ein Tag für den Menschen, ein Tag, der dazu dienen soll, daß der Mensch seine Würde und seine Bestimmung erfährt.
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