Sterbebegleitung statt aktiver Sterbehilfe
2.7 Im Sterben: Umfangen vom Leben
Hg. von der Deutschen Bischofskonferenz, Freiburg-Basel-Wien 1995, S. 306-308; 310-313.
Gemeinsames Wort zur Woche für das Leben 1996 „Leben bis zuletzt – Sterben als Teil des Lebens“, hg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und dem Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn / Hannover 1996 (= Gemeinsame Texte 6) S. 7-10.
Im Sterben: Umfangen vom Leben
Wie alles Leben endet auch das menschliche Leben mit dem Tod. Im Unterschied zu allen anderen Lebewesen hat aber nur der Mensch ein Bewußtsein für seine Sterblichkeit. Dies nötigt ihn, sich mit seiner Endlichkeit auseinanderzusetzen. Hinzu kommt die Erfahrung, daß Sterben und Tod nicht erst am Ende des Lebens stehen, sondern das Leben von Anfang an begleiten, z.B. in Krankheit, Leiden, Mißerfolg. „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“ heißt es in einem alten Kirchenlied.
Die Frage nach dem Sinn des Lebens führt zur Frage nach dem Sinn des Todes für das Leben. Es ist die vordringliche Aufgabe von Philosophie und Theologie, Antworten auf diese Fragen zu geben. Der Heiligen Schrift kommt dabei als Urkunde des christlichen Glaubens eine besondere Bedeutung zu. Die Aussagen der Bibel über diese Grundfragen sind vielfältig.
Die Schöpfungsberichte wie überhaupt das Alte Testament sprechen sehr nüchtern vom Tod: Der Mensch stirbt ganz, seine Knochen vermischen sich mit denen der anderen und seine Individualität hört auf. „Denn Staub bist du, zum Staub mußt du zurück“. (1. Mose/Gen 2,19) Das Leben wird als begrenzt angesehen, die Lebenszeit des Menschen wird als von Gott zugemessen ernstgenommen. Auffallend ist die Zurückhaltung gegenüber dem Schicksal der Toten und ihre Bedeutungslosigkeit für die Lebenden.
Die Psalmen begründen unsere Vergänglichkeit in unserer Entfremdung von Gott und in unserer Lebensgeschichte, ohne daß dieser Zusammenhang von uns nachgeprüft und Gott gegenüber aufgerechnet werden kann. Während wir den Tod vom Augenblick des physischen Verlöschens an bestimmen, reicht er für den Glauben Israels tief in das Leben hinein. Er beginnt schon da, wo Krankheit, Leiden, Anfeindung, Anfechtung und Verzweiflung den Menschen schwächen, wo diese die Beziehung zu Gott lockern und ihn von Gott entfremden. Für den Psalmisten ist Gott selbst im Tod wirksam, er läßt sterben und setzt unser Ende. Die Macht des Todes ist Gottes eigene Macht, und der 90. Psalm fügt hinzu: „Denn wir vergehen durch deinen Zorn, werden vernichtet durch deinen Grimm. Du hast unsere Sünden vor dich hingestellt, unsere geheime Schuld in das Licht deines Angesichts“ (Ps 90,7f).
Neben dieser Vorstellung vom Tod findet sich im Laufe der Geschichte Israels aber auch die Hoffnung, daß mit dem Tod nicht alles zu Ende ist. Es entwickelte sich der Glaube an ein Fortleben nach dem Tod sowohl des ganzen Volkes Israels (vgl. Ez 37) wie auch des einzelnen Menschen: „Ich aber bleibe immer bei dir, du hältst mich an meiner Rechten. Du leitest mich nach deinem Ratschluß und nimmst mich am Ende auf in Herrlichkeit“ (Ps 73,23f, s.a. Ps 16,9). Dieser Gedanke einer Gemeinschaft mit Gott, die am Tod nicht zerbricht, wird im Buch Daniel (um 165 vor Chr.) weiter ausgebaut: „Von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden viele erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu.“ (Dan 12,2) So nimmt das Alte Testament erst spät deutlich eine Hoffnung auf, die – im Glauben an die Auferstehung der Toten entfaltet – sich im Neuen Testament erfüllt, besonders in der Auferweckung Jesu Christi.
Wie das Alte Testament ist auch das Neue Testament von der Vorstellung geprägt, daß Gott „nicht ein Gott von Toten, sondern von Lebenden“ (Mk 12,27) ist. So ist für Paulus und für die anderen Apostel der Tod kein bloßer Naturvorgang, sondern Störung und Schrecken, der „Lohn der Sünde“ (Röm 6,23). Es ist der Preis, den die an die Sünde gebundene Menschheit zu entrichten hat. Der Tod erscheint im Neuen Testament nicht als Strafe, sondern als Folge, als Konsequenz unserer willentlichen Lossagung von Gott.
Im Licht des Evangeliums von Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi ist für Paulus der Tod aber auch Gnade. Denn er beendet unser von Gottesvergessenheit, Egozentrik und Lieblosigkeit bestimmtes Leben und setzt unserer Flucht vor Gott eine Grenze. Der Tod bringt uns aus der vorläufigen Gemeinschaft mit Gott in der irdischen Existenz in das vollkommene, endgültige Leben bei Gott.
Die Begegnung mit Gott, die im Tod stattfindet, bedeutet für den Menschen zugleich das Gericht über sein Leben. „Denn wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden, damit jeder seinen Lohn empfängt für das Gute oder Böse, das er im irdischen Leben getan hat.“ (2 Kor 5,10) Wir sind nach Paulus also für das verantwortlich, was wir getan und aus unserem Leben gemacht haben. Im Gericht wird Gott offenbar machen, was aus unserem Glauben geworden ist und wie er sich im Leben ausgewirkt hat.
Die junge Kirche war mit Paulus zudem der Auffassung, daß Jesus Christus durch seine Lebenshingabe die Sünden aller Menschen gesühnt hat (vgl. Röm 3,25). Christus hat die Verbindung von Sünde und Tod gelöst, indem er beide auf sich nahm, ohne selbst von Sünde belastet zu sein. Aufgrund der Abendmahlsüberlieferung „Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut“ (1 Kor 11,25; Mk 14,24) wurde es der jungen Gemeinde bald nach Ostern zur gläubigen Gewißheit: Die durch Christus gewirkte Sühne gilt für Vergangenheit und Gegenwart, sie ist unwiederholbar und unüberbietbar.
Das Neue Testament überschreitet das Alte Testament, indem es bezeugt, daß in Jesus Christus das Leben Gottes endgültig erschienen ist. Nach dem Johannesevangelium sagt Jesus bei der Auferweckung des Lazarus: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt.“ (vgl. Joh 11,25) Gott hat den Menschen geschaffen, um mit ihm Gemeinschaft zu haben – so sind wir im Leben und im Tode auf Gott bezogen. Die Toten sind in Gottes Hand geborgen.
Diese Überzeugung der frühen Kirche gründet in der Erfahrung der Auferweckung Jesu. Sie wird so zum sicheren Fundament für ihren Glauben an die Auferstehung der Toten. Im Sieg des Lebens über den Tod kommt eine neue Welt zum Vorschein, an der alle teilhaben werden, die mit Jesus Christus verbunden sind. Die Botschaft vom neuen Leben der Menschen in Christus wird in der Bibel im Buch der Offenbarung mit verschiedenen Bildern beschrieben: Gott „wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu.“ (Offb 21,3-5)In Jesus Christus, seinem Leben, Sterben und Auferstehen, ist Gottes neue Welt unter den Menschen angebrochen (Mk 1,15; Lk 4,16-21). Die Zuversicht auf die Gegenwart Christi gibt Menschen den Mut, auch in schwierigsten Situationen ihres Lebens Zeichen des kommenden Reiches Gottes aufzurichten. Sie haben die Kraft, Menschen auf der letzten Wegstrecke ihres Lebens, dem Sterben, zu begleiten. Exemplarisch ist dies in der Emmausgeschichte dargestellt: Der Auferstandene geht unerkannt mit den vom Karfreitagsgeschehen bedrückten Jüngern nach Emmaus; er spricht mit ihnen, tröstet sie, ermutigt sie und richtet sie auf (Luk 24,13-25). Solches Begleiten bringt die in unserem Leben verborgene, aber dennoch wirksame Kraft des Heiligen Geistes zur Erfahrung und macht deutlich: Auch im Sterben sind wir von Jesus Christus umfangen.