Zur Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf

Anhang: Auszüge aus kirchlichen Erklärungen

I. Zukunft der Schöpfung - Zukunft der Menschheit
Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zu Fragen der Umwelt und der Energieversorgung, Hirtenschreiben der deutschen Bischöfe 28, Bonn 1980

(II2) Der Mensch ist nicht das einzige Geschöpf. Gott wollte, daß es nicht nur den Menschen gibt, das Wesen, zu dem er Du sagt und das Du sagen kann zu ihm. Er hat auch Lebewesen und Dinge geschaffen, die nicht sprechen, nicht mit Bewußtsein und Willen Gott verherrlichen können. Dinge, die einfach da sind. Der Mensch braucht sie. Aber sind sie nur dazu da, daß der Mensch sie braucht? Ist das, was wir nie brauchen werden, sinnlos? "Braucht" der Mensch nicht auch die Erfahrung, daß es das Unerreichbare, Geheimnisvolle gibt, jenes, das vordergründig keinen bestimmten Zweck erfüllt, sondern einfach da ist? Wir sind in Gefahr, auch den Menschen nur noch nach dem zu bewerten, wozu er brauchbar ist. Wenn aber der Mensch nur nach Nützlichkeit und Brauchbarkeit beurteilt wird, ist es mit seiner Menschlichkeit zu Ende. Der Mensch ist mehr als das, wozu er dienlich ist. Und doch ist er auch verpflichtet, den anderen, dem Ganzen zu dienen. Machen wir nicht eine ähnliche Erfahrung mit der nichtmenschlichen Schöpfung auf Erden? Sie ist da, damit wir sie brauchen. Aber sie ist mehr noch da, um einfach da zu sein. Beides schließt einander nicht aus. Wo wir aber die Dinge nicht mehr sie selber sein lassen, sondern wo sie uns nur noch Werkzeug, Rohstoff, Material, Energiequelle sind, da nehmen wir uns selbst die Welt. Und so werden wir neu zu Sklaven dessen, wovon wir uns befreien wollten: unserer Abhängigkeit von der Schöpfung. Für den Menschen gilt der Vorrang des Seins vor dem Haben. Bei der nichtmenschlichen Schöpfung könnte man von einem Vorrang des Seins vor dem Nützlichsein sprechen.

(II3) ... Die biblischen Religionen, Judentum und Christentum, entzaubern durch den Schöpfungsglauben eine Natur, die als unbezähmbare Übermacht den Menschen bannt, ängstigt, fasziniert. Der Mensch wird freigesetzt zu einem nüchternen, wir dürfen sagen rationalen Umgang mit den Dingen. Aber rationaler Umgang ist nicht Beliebigkeit, erst recht nicht Zerstörung. Was der Mensch zerstört, kann er nicht beherrschen, als Gottes Ebenbild hat er Maß zu nehmen am Urbild; dann aber heißt Beherrschen liebende Sorge, hegendes Wahren. Im biblischen Verständnis schließt das Beherrschen die Verantwortung für die Beherrschten mit ein. Dies gilt auch und gerade für das Verhältnis des Menschen zu seinen Mitgeschöpfen (vgl. Ps 8) ...

(III2) Frohe Botschaft von der Schöpfung, Spiritualität christlichen Weltverhaltens - das verlangt von uns, die Grundverhältnisse der Schöpfungsordnung anzunehmen. Daraus ergibt sich nicht unmittelbar ein energie- und umweltpolitisches Konzept. Es wäre zudem nicht Sache der Bischöfe, ein solches zu erstellen. Wohl aber ist es notwendig, einige wichtige Konsequenzen zur Sprache zu bringen, an denen Politik, Wirtschaft, Technik nicht vorbeiplanen dürfen.

  • Wir sind verpflichtet, den Grundbestand der Schöpfung in seinem ganzen Reichtum zu wahren. Sicher ist der Mensch darauf angewiesen und dazu berechtigt, von den Vorräten dieser Erde, auch von den Pflanzen und Tieren, zu leben. Im Unterschied zum Menschen als Personwesen haben Pflanzen und Tiere kein unantastbares individuelles Lebensrecht. Wohl aber gehört die Vielfalt der Arten in Pflanzen- und Tierwelt zu jenem Grundbestand der Schöpfung, den der Mensch als Beherrscher und Gestalter dieser Welt zu hüten hat. Dabei geht es nicht bloß um das Belassen von Einzelexemplaren, also um etwas wie eine Arche Noach, in welcher der Mensch einen Rest von Schöpfung gegen eine von ihm selbst veranstaltete Sintflut schützte. Nein, die pflanzlichen und tierischen Arten brauchen Lebensraum, in dem sie sich entfalten. Das Lebendige soll leben können, nicht nur um der Nützlichkeit für den Menschen willen, sondern um der Fülle, um der Schönheit der Schöpfung willen, einfach um zu leben und dazusein. Natur ist von Natur aus immer verschwenderisch. Wer nur nach Gesichtspunkten der Nützlichkeit fragt, verstößt ungeahnt und ungewollt oft genug auch gegen die der Nützlichkeit.
         
  • Wir Menschen sind berechtigt, Leistungen und Leben der Tiere in Anspruch zu nehmen. Es ist jedoch nicht zu verantworten, daß Tiere, die fühlende Wesen sind, ohne ernste Gründe, etwa bloß zum Vergnügen oder zur Herstellung von Luxusprodukten, gequält und getötet werden.

II. Landwirtschaft im Spannungsfeld zwischen Wachsen und Weichen, Ökologie und Ökonomie, Hunger und Überfluß
Eine Denkschrift der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für soziale Ordnung, Gütersloh 1984
(zum Gesamttext)

(78) ... Wenn die Kirche die Barmherzigkeit Gottes verkündet, gilt diese dann nicht auch den uns anvertrauten Tieren? Müßte ein solches christliches Verständnis nicht auch die Konsequenz haben, daß das Tier nicht nur in seiner bloßen Verwertbarkeit und Nützlichkeit gesehen wird? "Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs." (Sprüche 12,10). Sensibilität für tierisches Leid ist in der Kirche, von wenigen abgesehen, nicht aufgebracht worden. Es ist kein Zufall, daß wir heute auf Stimmen wie Franz von Assisi hören. Ebenso schenken wir dem ethischen Grundsatz Albert Schweitzers neue Beachtung: "Ich bin Leben, das leben will inmitten von Leben, das leben will." In Schweitzers Ehrfurcht vor dem Leben wird Leben immer als Wettstreit konkurrierender Konfliktpartner gedacht. Alle Kreatur gehört mit den Menschen in Solidarität zusammen.

(87) Die Artenvielfalt läßt sich auf Dauer nicht erhalten, wenn für Tiere und Pflanzen nur einige Rückzugsgebiete übrig bleiben, in denen wirtschaftliche Nutzung derzeit gerade nicht interessant ist. Es gibt immer mehr ermutigende Beispiele für wirksamen Naturschutz durch Initiative von Einzelpersonen und Gruppen. Aber das reicht noch nicht aus. So ist die Schaffung und Erhaltung von Feldrainen mit nur geringem materiellen Aufwand verbunden. Für den Schutz von Pflanzen und Tieren sind sie dann von großem Nutzen, wenn sie mit den angrenzenden Feldern und Flächen verzahnt und nicht isoliert sind. Durch Anlage oder Schonung von Hecken und Feldgehölzen, durch Schonung besonders wertvoller Lebensräume wie Feucht- und Magerwiesen (Verzicht auf Trockenlegung bzw. Aufdüngung) kann jeder landwirtschaftliche Betrieb einen Beitrag zum Umweltschutz leisten. Beachtung müssen in diesem Zusammenhang auch Flächen erfahren, die sich an Waldrändern als Übergangszonen zu Feldern erstrecken.

(89) In keinem anderen Bereich der Landwirtschaft ist die Produktion so durchgreifend umgestellt worden, wie in der Nutztierhaltung. Der Zwang, immer preiswerter und zugleich nachfragegerecht zu erzeugen, um wettbewerbsfähig zu bleiben, und der Wunsch, an der allgemeinen Einkommensentwicklung teilzuhaben, führte zu neuartigen Produktionssystemen, die eine Tierhaltung in großen Beständen (Intensivtierhaltung) rationell ermöglichen. Diese wurden durch Fortschritte in der Züchtung und in der Haltungshygiene, durch neue Stallformen und Fütterungsmethoden bei Einsatz von Zusatzstoffen erreicht. Die modernen Produktionsmöglichkeiten haben dazu beigetragen, daß dem Verbraucher heute preiswerte tierische Erzeugnisse in großem Ausmaß bei in der Regel guter Qualität angeboten werden. Auch schwere Arbeit in den Ställen konnte erleichtert und Verbesserungen bei der Hygiene ermöglicht werden. Gleichwohl werden heute teilweise bedenkliche Folgewirkungen sichtbar, auch wenn in der Bundesrepublik Deutschland - mit Ausnahme der Hühnerhaltung - die Tierhaltung heute noch durch bäuerliche Bestandsgrößen geprägt ist (13,6 % der Milchkühe stehen in Beständen ab 40 Tieren und 23,5 % der Mastschweine in Beständen ab 400 Tieren).

(90) Moderne Produktionssysteme erfordern vielseitig ausgebildete Fachleute, benötigen aber gleichzeitig auch weniger Arbeitskräfte. Sie begünstigen die Produktion in größeren Einheiten bei hohem Kapitaleinsatz. Moderne Produktionssysteme aber schaffen für das Tier oft eine künstliche Umwelt. Dadurch kann es einem ständigen Streß unterworfen sein, welcher u.U. wiederum mit weiteren Maßnahmen aufgefangen werden muß. Dadurch werden dann Negativfolgen artwidriger Haltung verdeckt. Große Tierbestände sind mit hohen Risiken behaftet und bedürfen einer regelmäßigen Beobachtung durch Tierärzte. Rückstandsuntersuchungen von tierischen Produkten in größerem Umfang sind notwendig geworden.

(91) Moderne Systeme der Tierhaltung begünstigen Großbetriebe. Von ihnen geht ein zunehmender Konkurrenzdruck auf Betriebe mit kleinen und mittleren Beständen aus. Bei der Entwicklung von Großbeständen stand die Rationalisierung im Vordergrund und nicht in erster Linie das ganzheitliche Wohlbefinden des Tieres. Dabei ist weiter problematisch, daß der Kontakt zwischen Betreuer und Tier im Vergleich zur bäuerlichen Tierhaltung nicht mehr so intensiv ist. Die Rückführung der großen Mengen anfallender Exkremente in den Naturkreislauf ist bei mangelnder Lagerkapazität und/oder begrenzter landwirtschaftlicher Nutzfläche fragwürdig; Boden und Grundwasser sind gefährdet, insbesondere wenn regional eine Spezialisierung auf bestimmte Tierarten stattgefunden hat. (92) Die Landwirtschaft im Voll-, Zu- und Nebenerwerb ist so zu fördern, daß die aufgezeigten unerwünschten Entwicklungen in der Tierhaltung gestoppt und, wo notwendig, rückgängig gemacht werden. Die landwirtschaftliche Tierhaltung ist durch Einführung entsprechender Abgaben, die ethisch, ökologisch und volkswirtschaftlich begründbar sind, auf Bestandsgrößen und Haltungssysteme einzuschränken, die eine artgemäße Betreuung und damit einen verantwortungsvollen Umgang mit den Nutztieren erlauben.

Betriebe mit Tierbeständen, die flächenunabhängig gehalten werden, sollten gegenüber anderen stärker durch Abgaben belastet werden. Außerdem ist verstärkt dafür zu sorgen, daß von diesen Betrieben keine Gefahr für die Umwelt z.B. durch mangelhafte Beseitigung der tierischen Exkremente ausgehen kann. Der Markt für Arzneimittel und Futterzusätze muß weiterhin streng überwacht werden. Die Rahmenbedingungen sollten einen verminderten Verbrauch dieser Mittel ermöglichen. Durch intensive Schulung und Beratung der Tierhalter sowie durch ausreichende Überwachung ist die Qualität tierischer Erzeugnisse (Lebensmittel) zu sichern und zu verbessern.

(147) ... Bei der Durchsetzung seiner Lebensinteressen sollte der Mensch immer auch die Lebensinteressen der anderen Kreatur angemessen berücksichtigen und Leid so weit wie möglich verringern. Wenn aus ethischen Gründen auf kostengünstigste Ausnutzung technischer Möglichkeiten verzichtet werden muß, ist dafür zu sorgen, daß auch die anderen Länder in der EG ähnliche Regelungen und Gesetze einführen und durchsetzen. Die Einsicht, daß eine Veränderung nur durch ein gemeinsames Vorgehen aller EG-Länder herbeigeführt werden kann, darf in unserem Lande nicht als Alibi dienen, abzuwarten und notwendige Schritte hinauszuzögern.

Notwendig ist deshalb:

  • die EG-weite Einschränkung der landwirtschaftlichen Tierhaltung durch Einführung entsprechender Abgaben, die ethisch, ökologisch und volkswirtschaftlich begründet sind, auf Bestandsgrößen und Haltungssysteme, die eine artgemäße Betreuung und damit verantwortlichen Umgang mit den Nutztieren gewährleisten;
  • die Verhinderung regionaler Schwerpunktbildungen der intensiven Tierhaltung dann, wenn dies zu unzumutbaren Belastungen führt;
  • die Einschränkung von Massentierhaltungen ohne eigene Futterversorgung durch entsprechende Änderungen in der Agrarförderung, durch steuerliche Maßnahmen und durch Änderungen in Umweltschutzgesetzen von Bund und Ländern;
  • eine wirksame Einschränkung der gewerblichen Tierhaltung durch gesetzliche Maßnahmen und durch die gemeinsame Bereitschaft des bäuerlichen Berufsstandes.


III. Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung
Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, Gütersloh 1985
(zum Gesamttext)

(34) Nicht allein menschliches, sondern auch tierisches und pflanzliches Leben sowie die unbelebte Natur verdienen Wertschätzung, Achtung und Schutz. Die Ehrfurcht vor dem Leben setzt voraus, daß Leben ein Wert ist und daß es darum eine sittliche Aufgabe ist, diesen Wert zu erhalten. Das Leben ist dem Menschen vorgegeben; es ist seine Aufgabe, dieses Leben zu achten und zu bewahren. Es obliegt seiner Verantwortung, Sorge für seine Umwelt zu tragen. Dies erfordert Rücksicht, Selbstbegrenzung und Selbstkontrolle. Der Maßstab "Ehrfurcht vor dem Leben" enthält ein Moment unbedingter Beanspruchung und Verpflichtung, ein Schaudern vor den Folgen des Gebrauchs der Macht, das den Menschen zurückhalten soll, diese Macht zur Selbstvernichtung zu mißbrauchen. Die Ehrfurcht vor der Bestimmung des Menschen und das Schaudern und Zurückschrecken vor dem, was aus dem Menschen und seiner Umwelt werden könnte und was uns als denkbare Möglichkeit der Zukunft vor Augen steht, enthüllt uns das Leben als etwas "Heiliges", das zu achten und vor Verletzungen zu schützen ist. (35) Die Ehrfurcht vor dem Leben bewirkt auch eine Scheu vor dem rein nutzenden Gebrauch, eine Haltung der Beachtung und Schonung. So gesehen schließt sie eine "Ehrfurcht vor dem Gegebenen" mit ein, sie weckt Wertebewußtsein und Schadenseinsicht. Diese Ehrfurcht vermittelt auch Einsicht in gegebene Grenzen, Einsicht in die Endlichkeit und Vergänglichkeit, vor allen Dingen Einsicht in die Verletzlichkeit der Schöpfung und Mitkreatur. Ehrfurcht vor dem Leben bezieht sich nicht nur auf menschliches, tierisches und pflanzliches Leben, sondern im weiteren Sinne auf die "unbelebte" Natur mit ihren Lebenselementen (Wasser, Boden, Luft) und ihren funktionalen Kreisläufen als Lebensraum. Sie sind nicht als tote Gebrauchsgegenstände zu verstehen, sondern als Teil der Lebensbedingungen des Menschen und seiner Mitkreatur. Wir Menschen müssen uns, um mit Sokrates zu sprechen, auf die Kunst des Hirten verstehen, dem am Wohl der Schafe gelegen ist, dürfen sie also nicht bloß unter dem Blickwinkel des Metzgers betrachten.

(48) Innerhalb der Schöpfungsordnung kommt dem Menschen in Unterscheidung von den Mitgeschöpfen eine Sonderstellung zu. "Macht euch die Erde untertan und herrscht über alle Tiere!", so läßt sich der göttliche Weltauftrag in knapper Form wiedergeben. Die beiden Schlüsselworte "untermachen/unterwerfen" und "herrschen" müssen weit behutsamer gedeutet werden, als dies vielfach geschah. Sie dürfen nicht im Sinne von "Unterdrückung" und "Ausbeutung" verstanden werden.

(51) Das Herrschen des Menschen über die Tierwelt hebt sich von der Unterwerfung des Bodens nach biblischem Sprachgebrauch deutlich ab. Es erinnert an das Walten eines Hirten gegenüber seiner Herde (Ezechiel 34,4; Psalm 49,15). Gott legt dem Menschen das Leiten und Hegen der Tiergattungen auf (Genesis 1,26.28). Der Mensch soll Übergriffen einer Tierart auf die andere wehren, um auch auf diese Weise die Tiere vor ihren Feinden zu schützen. Wie wenig aber die Tiere menschlicher Willkür freigegeben werden, sieht man auch daran, daß der erste Schöpfungsbericht Mensch und Tier nur vegetarische Nahrung zuweist. Auch die Nahrungszuweisung für die Tiere wird in den Segen, der über den Menschen ergeht, eingeschlossen (Genesis 1,29f), seiner Fürsorge unterstellt. Der Herrschaftsauftrag des Menschen und seine sachgemäße Ausübung stehen und fallen mit der Gottebenbildlichkeit. Sie gilt dem Menschen innerhalb und außerhalb des Gottesvolkes; sie ist unabhängig von Geschlechtszugehörigkeit, Rassen und Klassen. Nur wenn und solange der Mensch in seiner einzigartigen, unmittelbaren Gottesbeziehung lebt - genau dies ist mit Gottesebenbildlichkeit gemeint - und wenn er nach der Weise Gottes, als Beauftragter Gottes eine Herrschaft ausübt, entspricht dies dem Willen Gottes.

(56) Die von Gott gewollte Erhaltungsordnung nach der Sintflut schränkt das hinfort zugestandene Nutzen, Ausbeuten und Töten tierischer Wesen durch den Menschen mit einem gewichtigen rituellen Vorbehalt ein: "Allein esset das Fleisch nicht mit seinem Blut, in dem sein Leben ist!" (Genesis 9,4). Dem alttestamentlichen Menschen gilt das Bluttabu als das Zeichen eines letzten Respekts vor der Verfügungsgewalt Gottes über die Tiere. Grundsätzlich ist dadurch das Tier mehr als eine Sache. Dem Tier eignet durch das von Gott gegebene Leben ein Eigenwert vor Gott, den der Mensch zu respektieren hat.

(57) Der eigene Rang tierischen Daseins macht erst begreiflich, daß im alttestamentlichen Sühneritual u.U. tierisches Leben stellvertretend für das menschliche vor Gott in den Tod geschickt werden kann (Levitikus 17,11). Hieran wird zugleich erkennbar, daß es eine Rangordnung des Lebens gibt, die das menschliche Dasein über jedes tierische stellt.

(58) Daraus ergibt sich selbstverständlich, daß das Verhältnis des Menschen zum Tier ethisch zu bestimmen ist: "Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs, aber das Herz der Gottlosen ist grausam" (Sprichwörter 12,10). Das alttestamentliche Gesetz stellt deshalb auch das Verhältnis zu Tieren und Pflanzen unter gewisse göttliche Sanktionen (Levitikus 19,19.23; Deuteronomium 22,6f u.ö.). Tierquälerei ist für die biblischen Autoren ein religiöses Vergehen. Zwischen dem Eigentümer und seinem Tier waltet eine Art Gemeinschaftsbezug. Das Tier ist mehr als nur ein Objekt zur Verwertung seines Fleisches, sein Wert geht über die bloße Nützlichkeit seiner Leistung hinaus. Die christliche Ethik wird sich nicht auf menschliches Leben allein beziehen können, sondern muß tierisches und pflanzliches Leben, ja auch die leblose Natur mit einbeziehen.

(94) Entschiedener und umsichtiger als bisher müssen Christen und Kirchen ihren eigenen Beitrag zur Erhaltung und Verbesserung der Lebensbedingungen in unserem Land und unserer Welt leisten. Bürger, Wissenschaftler und Techniker, Unternehmer und Politiker erwarten zu Recht, daß die Kirchen sie in ihren Anstrengungen um die Sicherung unserer Zukunft nicht allein lassen. Unter Berufung auf ihre Verantwortung für das individuelle, jenseitige Heil dürfen sie sich nicht aus ihrer Verantwortung für die Gestaltung dieser Welt heraushalten. Von ihrem Selbstverständnis her haben die Kirchen einen vierfachen Beitrag einzubringen: das Licht der Wahrheit, die Kraft zur sittlichen Entscheidung, den Dienst der Versöhnung zwischen den widerstreitenden Positionen und Interessen und die Hoffnung

(95) Der Glaube an Gott, den Schöpfer, Erlöser und Vollender der Welt, prägt das Denken und Verhalten des Menschen tiefgreifend und nachhaltig. Gerade die harte Kritik an den Kirchen, sie hätten das Licht der Wahrheit von der Schöpfung sträflich unter den Scheffel gestellt oder sie hätten das Irrlicht der selbstherrlichen Ausbeutung der Welt in der Geschichte entzündet, bestätigt indirekt doch die Macht, die man der geistlich-geistigen Orientierung bzw. Desorientierung zuschreibt. Die entscheidende Antwort auf diese teilweise nicht ganz unberechtigte Kritik kann nur lauten: Die Kirchen müssen ihre Lehre vom Menschen als Ebenbild Gottes und von der Welt als Schöpfung Gottes klarer und verständlicher formulieren, ihr Gehör verschaffen und die sittliche Verantwortung, die der Glaube verlangt und freisetzt, auch über den Kreis der Gläubigen hinaus plausibel und einladend verkündigen. In Predigt und Unterricht, in Lied und Gebet sollte der erste Glaubensartikel dazu anleiten, der Natur staunend in Dank und Lob des Schöpfers gegenüberzutreten und so ein Naturverhalten einzuüben, das über zweckrationales Nützlichkeitsdenken grundsätzlich hinausgeht.

Zumal in unserem Lande stehen den Kirchen hierfür Einrichtungen zur Verfügung, die es zu nutzen gilt: Gottesdienst und Predigt, Gemeindekatechese und Erwachsenenbildung, theologische Fakultäten und Akademien, Kirchentage und wissenschaftliche Kongresse. Nicht nur die öffentliche Breitenwirkung, auch der sachkundige Dialog mit Wissenschaftlern und Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Politik sind Ziele, wofür die Kirchen alle verfügbaren Kräfte mobilisieren müssen. Wir Christen sollten uns angesichts der heute anstehenden Überlebensfragen von Menschheit und Welt und der bitteren Erfahrungen aus der Zeit des Dritten Reiches daran erinnern, daß auch verlegenes Schweigen und unschlüssiges Handeln schuldig machen können.


IV. Gottes Gaben - Unsere Aufgabe
Die Erklärung von Stuttgart. Forum "Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin(West) e.V. (20. - 22.Oktober 1988), EKD-Texte 27, Hannover 1989

4. Bewahrung der Schöpfung

4.1 Theologische Einleitung

Gott hat die Welt geschaffen und bleibt in seiner Schöpfung gegenwärtig. Ihre Bewahrung ist allen Menschen von Gott aufgetragen (vgl. Gen 2,15). Wir Christen glauben, daß die gesamte Schöpfung von der Liebe Gottes getragen bleibt, die sich in Jesus Christus offenbart.

Christen aller Konfessionen bekennen den dreieinigen Gott als Schöpfer, Erhalter, Erlöser und Vollender der Welt. Sie preisen Gott als den Schöpfer des Himmels und der Erde: "Herr, wie zahlreich sind deine Werke! Mit Weisheit hast du sie alle gemacht, die Erde ist voll von deinen Geschöpfen" (Ps 104,24). Von Jesus Christus bezeugt die Bibel: "Denn in ihm wurde alles geschaffen, im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen. Er ist vor aller Schöpfung, in ihm hat alles Bestand" (Kol 1,16f). Alles Geschaffene ist vom Geist Gottes, dem Liebhaber des Lebens, durchwaltet und wird dadurch geheiligt.

In Jesus Christus wurde Gott Mensch und nahm damit das Leiden der menschlichen und der außermenschlichen Schöpfung auf sich. Durch sein Kreuz und seine Auferstehung ist er den Weg zur Erlösung der gesamten Schöpfung gegangen. In seiner Nachfolge erwarten wir, vom Heiligen Geist geleitet, den neuen Himmel und die neue Erde, die uns als Vollendung der Welt verheißen sind.

Gott hat den Menschen als Teil seiner Schöpfung erschaffen. Alle Mitgeschöpfe haben ihren eigenen Wert, der darin begründet liegt, daß sie von Gott gewollt sind. Die Ehrfurcht vor dem Leben verbietet es, Tier- und Pflanzenwelt vornehmlich unter dem Gesichtspunkt ihres Nutzens und der Verwertbarkeit für den Menschen zu sehen. Das gilt auch für die unbelebte Natur.

Gott hat dem Menschen jedoch auch eine besondere Stellung in seiner Schöpfung vorbehalten: Er hat ihm den Auftrag gegeben, als sein Abbild Verantwortung für die Mitgeschöpfe wahrzunehmen.

Es gehört zur Verantwortung für Gottes Schöpfung, menschliches Leben, sei es stark oder schwach, groß oder klein, jung oder alt, von Anfang bis Ende zu schützen. Es darf in all seinen Erscheinungsformen nicht ausgebeutet, verletzt oder gar zerstört werden. Zur Schöpfungsverantwortung gehört daher auch der Schutz des ungeborenen Lebens. Als schwächste Form menschlichen Lebens braucht es diese besondere Achtung seiner Würde.

Unsere Schuld besteht darin, daß wir immer wieder aus egoistischen Motiven die uns gezogenen Grenzen verletzen und der Schöpfung nicht mehr behebbare Schäden zufügen. Die Natur ist vorwiegend zum Rohstoff für eine verschwenderische Produktion von Konsumgütern geworden.

Die Schöpfung ist uns zur Gestaltung und zur Pflege anvertraut. Mit der Anmaßung grenzenloser Herrschaft über die Natur mißachten wir unseren Auftrag und erweisen uns so als Sünder. Zudem gefährden wir das ökologische Gleichgewicht und riskieren unsere Zukunft wie die der kommenden Generationen. Mit dieser Praxis tun wir der Schöpfung Gewalt an.

Umkehr zu Gott ist daher notwendig. Begründet ist diese Umkehr in der tiefen Überzeugung, daß Gott Freude an seiner Schöpfung hat und sie liebt. Es gilt, die Dankbarkeit für das Geschenk der Schöpfung wiederzugewinnen und unsere tägliche Verantwortung für das Geschaffene so wahrzunehmen, daß wir in den Lobpreis der gesamten Schöpfung einstimmen können. Der Mensch darf die Früchte und Schätze der Erde dankbar nutzen. Aber gerade darin soll er Abbild Gottes sein, daß er wie Gott fürsorglich, liebevoll die Schöpfung hegt und pflegt. Das aber heißt heute, viel größere Anstrengungen zu unternehmen, um die Gewalt gegen die Schöpfung zu vermindern.

Zum Schutz der heiligen Gabe des Lebens müssen und können wir uns um ein neues Denken und um einen neuen Lebensstil bemühen. Auch wenn die endzeitliche Befreiung des Menschen, die Befriedung der Natur und die Erlösung von den Mächten des Bösen und des Todes noch ausstehen, so können schon jetzt Zeichen der neuen Schöpfung sichtbar werden. Unsere Hoffnung ist in Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi begründet. In Christus hat die Erlösung der Schöpfung begonnen. In dieser Hoffnung glauben wir an die Auferstehung. So können wir uns nicht mit der Todesherrschaft abfinden.

"Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen. Neues ist geworden" ( 2 Kor 5,17). Wer an das ewige Leben glaubt, setzt sich auch für die Vermehrung irdischer Lebensmöglichkeiten gegen alle zerstörerischen Tendenzen ein. Er braucht nicht zu resignieren und zu kapitulieren, sondern kann inmitten aller Zwänge nach Möglichkeiten des neuen Lebens Ausschau halten: im Verhältnis zu sich selbst, zu den Mitmenschen und den übrigen Mitgeschöpfen sowie im Umgang mit der ganzen Natur. Im Gottesdienst preisen wir Gott als Schöpfer. Wir lassen uns erinnern an unseren Ort in seiner Schöpfung inmitten der anderen Kreatur. Wir danken für die Gabe der Schöpfung und des Lebens. Wir erfahren und feiern die befreiende Wirkung von Gottes Wort und Sakrament. Gemeinsam lassen wir uns zu mutigem Handeln herausfordern.

4.2 Wahrnehmung der Verantwortung

Wenn wir als Christen, und sei es auch nur bruchstück- und zeichenhaft, den verheißenen Frieden Gottes in dieser Schöpfung aufzeigen wollen, müssen wir umdenken. Ausgehend vom biblischen Schöpfungsauftrag gilt es, mit Hilfe der menschlichen Vernunft Maximen für das konkrete Handeln in der Welt zu entwickeln.

Wir müssen ablassen von Machtphantasien über die Schöpfung und demütig die Grenzen unseres Handlungsspielraums und unsere eigene Begrenzung anerkennen. Wir müssen Abschied nehmen von dem Glauben an ein unbegrenztes Wachstum und an Fortschritt ohne Ende und uns am Maßstab des Lebens und dessen, was dem Leben dient, orientieren.

Bei der Verwirklichung dieses Umdenkens sind wir häufig konfrontiert mit starken Interessenkonflikten. Oft stehen z.B. Wirtschaftlichkeit, Besitzstandswahrung und -vermehrung, politisches Machtstreben und Sicherung von Arbeitsyplätzen gegen die Bestrebungen der Umwelterhaltung; ökonomische Interessen beanspruchen im allgemeinen Vorrang vor ökologischen Interessen.

4.35 Arten- und Tierschutz

Eine wichtige Aufgabe der Bewahrung der Schöpfung ist der Artenschutz. Die Vielfalt der Schöpfung ist ein Abglanz der Herrlichkeit Gottes, und sie ist unbedingte Voraussetzung für die globale ökologische Stabilität.

Viele Tier- und Pflanzenarten sind durch zahlreiche Umweltbelastungen bedroht bzw. bereits verschwunden (Rote Listen). Veränderungen ihres Lebensraumes und Belastungen der Nahrungskette durch Schadstoffe sind Ursachen ihrer Bedrohung.

Ein effektiver Schutz der bedrohten Tier- und Pflanzenarten ist deshalb nur möglich als Biotopschutz (Bereit- und Wiederherstellung von Lebensräumen), der auch gegen wirtschaftliche und militärische Interessen durchgesetzt werden muß. Biotopschutz kann sich nicht auf voneinander isolierte Flächen beschränken, vielmehr ist ein Austausch zwischen Biotopen notwendig. Folgende Ansatzpunkte für politische Entscheidungen sehen vor:

  • erhebliche Ausweitung der Naturschutz- und Landschaftsschutzfläche;
  • Renaturierung von Gewässern und Feuchtgebieten;
  • Schutz ökologisch wertvoller Gebiete vor Tourismus;
  • Förderung und Unterstützung einer ökologisch vertretbaren Landwirtschaft;
  • ökologisch vertretbare Flächenstillegungen in der Landwirtschaft;
  • bedarfsgerechte Düngung und rückstandsfreier Pflanzenschutz zur Vermeidung schädlicher Auswirkungen auf das Grundwasser und das Leben in Flüssen, Seen und Meeren.

Eine umweltverträgliche Landwirtschaft darf nicht durch unterschiedliche Rahmenbedingungen in verschiedenen Ländern erschwert werden. Deshalb müssen die bestehenden Wettbewerbsverzerrungen abgebaut werden. Auch den klassischen Anliegen des Tierschutzes muß mehr Beachtung geschenkt werden.

In der Alkohol-, Tabak- und Kosmetikproduktion müssen Tierversuche unterbleiben. In der medizinischen Forschung müssen Tierversuche eingeschränkt werden. Tierquälerei, aus welchen Motiven auch immer, muß stärker als bisher geächtet werden. Artgerechte Tierhaltung ist zu fördern. Nicht artgerechte Massentierhaltung soll schrittweise verboten werden, weil sie nicht nur erhebliche Leiden für die Tiere mit sich bringt, sondern auch die Umwelt beeinträchtigt.


V. Gott ist ein Freund des Lebens
Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz des Lebens. Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, Gütersloh 1989
(zum Gesamttext)

II. Besinnung auf die Botschaft der Bibel

(4) Gott schützt das Leben

Trotz der Sünde und ihrer zerstörerischen Folgen bleibt das Leben auf der Erde erhalten. Denn Gott schützt das Leben. Schon in der Urgeschichte (Gen/1 Mose 1-12,3) zeigt die Bibel, wie Gott dem Anwachsen des Fluches, der Lebensminderung und -zerstörung Kräfte der Lebensbewahrung und des Segens entgegenstellt. Am Ende der Sintflutgeschichte wird von einer Selbstbindung Gottes berichtet, und damit kommt die Zuversicht auf, daß niemals wieder, solange die Erde steht, eine derart umfassende Vernichtung des Lebens stattfinden wird: Ich will die Erde wegen des Menschen nicht noch einmal verfluchen; denn das Trachten des Menschen ist böse von Jugend an ... Solange die Erde besteht, sollen nicht aufhören Aussaat und Ernte, Kälte und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht" (Gen/1 Mose 8,21f). Diese Verse formulieren eine abgründige, aber gültige Erkenntnis: Der Mensch bleibt, wer er ist, "böse von Jugend an"; aber Gott zieht eine andere Konsequenz, er legt sich darauf fest, daß nicht noch einmal eine solche Zerstörung eintreten wird, und bekräftigt dies im Zeichen des Regenbogens durch den Noach-Bund (Gen/1 Mose 9,8ff).

Das Vertrauen, daß Gott alles Lebendige liebt und schont, kommt in großer Eindringlichkeit noch einmal in einem späten Text des alten Israel zum Ausdruck: "Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehaßt, so hättest du es nicht geschaffen. Wie könnte etwas ohne deinen Willen Bestand haben, oder wie könnte etwas erhalten bleiben, das nicht von dir ins Dasein gerufen wäre? Du schonst aber alles, weil es dein Eigentum ist, Herr, du Freund des Lebens. Denn in allem ist dein unvergänglicher Geist" (Weisheit Salomos 11,24-12,1).

Freilich bewahrt sich die Bibel, auch wenn sie Gott "Freund des Lebens" nennt, einen nüchternen Blick für die harte und erschreckende Realität der Lebensphänomene. Leben lebt immer auch auf Kosten anderen Lebens. In der "sehr guten" Schöpfungswelt von Gen/ 1 Mose 1 ist Tieren und Menschen das pflanzliche Leben als Nahrung zugewiesen (V 29f). In der vorfindlichen Welt, die vom Einbruch des Bösen gezeichnet ist, herrscht Feindschaft zwischen den Lebewesen, reißt der Wolf das Lamm, werden Tiere für die menschliche Ernährung geschlachtet, ja sogar: bringen Menschen einander um. Immerhin macht die biblische Urgeschichte sehr deutlich, daß pflanzliches und tierisches Leben dem Menschen keineswegs selbstverständlich zur Verfügung steht; der Eingriff in anderes Leben bedarf der besonderen Freigabe und Ermächtigung durch Gott, wie sie im Blick auf die tierische und menschliche Ernährung in Gen/1 Mose 1,29f bzw. Gen/1 Mose 9,2f gegeben werden.

Übergriffe auf andere Menschenleben sind prinzipiell gegen Gottes Ordnung; sie werden darum mit Sanktionen bedroht (z.B. Gen/1 Mose 9,5f); kategorisch fordert das 5. (6.) Gebot: "Du sollst nicht morden!"

Das Wirken Gottes als eines Freundes des Lebens soll im Wirken der Menschen seine Entsprechung finden. Das 5. (6.) Gebot markiert hier nur eine äußerste Grenze. Die Werke des lebendig machenden Geistes sind Liebe, Friede, Güte, Treue, Sanftmut, Gerechtigkeit (Gal 5,22f; Eph 5,9), die sich im Umgang mit allem Lebendigen bewähren müssen. Darum heißt es auch im Alten Testament über das Verhältnis des Menschen zum Tier: "Der Gerechte weiß, was sein Vieh braucht, doch das Herz der Frevler ist hart" (Spr 12,10).

(6) Das Seufzen und Stöhnen der Kreatur

Das Neue Testament sieht den Leidenszustand der Schöpfung und die vielfältigen Minderungen und Verletzungen des Lebens in einer Perspektive der Hoffnung. Am eindrücklichsten geschieht dies bei Paulus im 8.Kapitel des Römerbriefs: "Die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes. Die Schöpfung ist der Vergänglichkeit unterworfen, nicht aus eigenem Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat; aber zugleich gab er ihr Hoffnung: Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt" (Röm 8,19-22). An diesem Abschnitt wird deutlich: Das Neue Testament und insbesondere die paulinischen Briefe, denen gelegentlich eine Orientierung allein am menschlichen Individuum und an der Erlösung des einzelnen unterstellt wird, haben die gesamte Kreatur und Lebenswelt im Blick; der Zustand der kreatürlichen Welt wird als Existenz in Unfreiheit, Nichtigkeit, Seufzen und sehnsüchtigem Harren qualifiziert; zwischen der Erlösung der Menschen und der Erlösung der ganzen Kreatur besteht eine Beziehung. Daraus ergibt sich auch, daß die Menschen die Wende im Zustand der außermenschlichen Schöpfung nicht selbt herbeiführen können: Der Geduld der Christen in der Gegenwart entspricht das Warten und Seufzen der Schöpfung; beides ist eine Gestalt der Hoffnung. Aber wie es im menschlichen Leben Anfänge und Vorzeichen der kommenden Erlösung gibt (z.B. 2 Kor 5,17ff; Gal 5,16ff; Eph 4,17ff), so kann die neue Schöpfung auch in der gesamten Lebenswelt durch entsprechendes Handeln und Verhalten der Menschen zeichenhaft sichtbar werden.

III. Der Lebensraum Erde

3. Der Auftrag des Menschen: Bebauen und Bewahren

Der christliche Glaube sieht in Schöpfungswelt und Leben keine in ihrer Vorgegebenheit unantastbaren Größen. Vielmehr versteht er die Erde als einen Lebensraum, der dem Menschen anvertraut ist, um ihn zu "bebauen" und zu "hüten/bewahren" (Gen/1 Mose 2,15), also ihn in pfleglicher Behandlung zu nutzen, zu kultivieren und zu gestalten. Eingriffe in fremdes Leben sind so zugleich legitimiert und begrenzt.

Damit ist dem Menschen eine Sonderstellung gegenüber der Natur und den anderen Lebewesen eingeräumt und zugemutet. Das entspricht bereits dem phänomenologischen Befund: Der Mensch ist im Vergleich mit höheren Tieren durch seine biologische Antriebsstruktur weniger auf bestimmte Lebensziele festgelegt. Er geht darum nicht in seiner Umwelt auf, sondern schafft sich seine Welt. Die Fähigkeit zu rationaler, vorausschauender Planung und zur sprachlichen Kommunikation spielt dabei eine wichtige Rolle. Im Unterschied zu den anderen Lebewesen kann sich der Mensch zu den ihm schicksalhaft vorgegebenen Bedingungen verhalten, sich ihnen anpassen, aber auch sie umbilden und sich anverwandeln. Im Menschen kommt das ihn umgreifende und übergreifende Leben zu sich selbst; in ihm wird es sich seiner bewußt und erfährt sich als sich selbst überantwortet. Der Vorrang des Menschen, sich zu seinem eigenen und zu allem anderen Leben verhalten zu können, ist der Kern seiner Autonomie, seiner Selbstbestimmung; sie ist nicht absolut, sondern verantwortlich vor Gott auf die Umwelt und Mitwelt bezogen.

Der erste Schöpfungsbericht (Gen/1 Mose 1,28) spricht ebenso wie Psalm 8 ausdrücklich von einer Herrschaftsstellung des Menschen. Die Formel vom "Bebauen und Bewahren" (Gen/1 Mose 2,15) korrigiert den Herrschaftsgedanken nicht, sondern interpretiert ihn. Das Handeln des Menschen gegenüber der belebten und unbelebten Natur bleibt auch beim Bebauen und Bewahren die Ausübung von Herrschaft. Darum führt es auch in die Irre, das Verhältnis des Menschen zu den anderen Lebewesen als eines der Partnerschaft zu beschreiben. Der Mensch ist in der Ordnung der vorfindlichen Welt (Gen/1 Mose 1-2 mit Gen/1 Mose 9) von Gott ermächtigt worden, die ihm vorgegebene Welt unter Eingriff in fremdes Leben zu bearbeiten und dabei etwa Bäume zu fällen, Holz zu verarbeiten, Verkehrs- und Bewässerungssysteme zu errichten, Tiere zu züchten und abzurichten oder Tiere zu Nahrungszwecken zu schlachten. Technik und Industrialisierung liegen grundsätzlich trotz der damit verbundenen Umgestaltung der Natur durchaus in der Linie der biblischen Beschreibung der Rolle des Menschen in der Schöpfungswelt. Auch der Verstand des Menschen mit seiner Neugier und seinem Erfindungsreichtum ist eine gute Gabe Gottes. Aber er kann auch verkehrt und gegen Gott und das Leben gebraucht werden. Die Versuchung, die Wissenschaft und Technik darstellen, und die geradezu religiöse Überhöhung, die sie immer wieder gefunden haben und finden, erfordern noch eine kritische Auseinandersetzung ... Aber die biblische Überlieferung bietet keinen Anhaltspunkt, Wissenschaft und Technik von vornherein unter Verdacht zu stellen oder gar eine Haltung der Wissenschafts- und Technikfeindlichkeit einzunehmen. In den vergangenen Jahrhunderten sind in Wissenschaft und Technik Entdeckungen gemacht und Entwicklungen vorangetrieben worden, die für ungezählte Menschen segensreiche Folgen gehabt haben. Es genügt, in diesem Zusammenhang an die Ablösung körperlicher Schwerstarbeit durch Einsatz von Maschinen, an die Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge durch die künstliche Düngung oder an die Überwindung der meisten Seuchen und Epidemien zu erinnern. Auch die gegenwärtigen gravierenden Umweltgefährdungen werden sich nicht gegen Wissenschaft und Technik, sondern nur mit Hilfe der Wissenschaft und einer intelligenteren und umweltschonenderen Technik bewältigen lassen.

Allerdings sind die Herrschaftsaussagen von Gen/1 Mose 1 und Ps 8 vielfach in die Richtung von Ausbeutung und Unterdrückung der Natur mißdeutet und dieser Auslegung gemäß praktiziert worden. Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik hat Instrumente der Machtausübung bereitgestellt, die mit ihren verlockenden Möglichkeiten einen ständigen Anreiz bieten, natürliche Ressourcen zugunsten des Menschen zu verbrauchen bzw. zu verändern. Demgegenüber ist die Formel von "Bebauen und Bewahren" eine wichtige näherbestimmende Interpretation zur Art und Weise der Herrschaft. Diese Herrschaft muß nämlich im Rahmen des Schöpferwirkens Gottes zugunsten allen Lebens geschehen, sich also in den Dienst des Lebens auf der Erde stellen. Darum ist dem Menschen im Umgang mit der natürlichen Welt alles eröffnet zur Fristung und Freude seines Lebens, sofern und solange er die Folgen seines Handelns nach dem Maß menschlicher Einsicht prüft, auch anderen Menschen und den künftigen Generationen die vorgegebene Schöpfungsqualität ihrer Lebenswelt nicht zerstört und dem anderen Lebendigen jetzt und künftig Leben und Lebensmöglichkeit in seinem eigenständigen Daseinsrecht wahrt. Die Tötung außermenschlichen Lebens ist auf die Deckung des Lebensbedarfs und die Abwehr von Gefahren zu beschränken.

Gegenüber der heutigen Lebensweise und technisch-industriellen Produktion und ihren Folgen stellen sich von diesen Kriterien her ernste Anfragen. So haben etwa die Zersiedelung der Landschaft und die Entwicklung des Verkehrs Dimensionen angenommen, die mit erheblichen Eingriffen in die natürliche Umwelt teuer bezahlt und für die Menschen selbst zur drückenden Last werden. Unter den neueren technischen Entwicklungslinien sind es vor allem zwei, auf die sich die Kritik gerade auch vieler Christen richtet: Atomtechnik und Gentechnik. Das mit der Atomtechnik gegebene ungeheure Energieprotential findet seine Parallele in der von der Gentechnik ermöglichten bzw. angestrebten Fähigkeit zu schnellem und gezieltem Eingriff in das Erbgut des Menschen selbst wie des außermenschlichen Lebens. Auch Atomtechnik und Gentechnik sind nicht als solche schlecht. Freilich sind sie, wie zumal die militärische Nutzung der Atomtechnik gezeigt hat, in besonderem Maße gefährdet durch die zerstörerischen Kräfte der Sünde, durch Lebensverachtung, vermessene menschliche Selbstüberschätzung, Machtstreben oder Gewinnsucht.

4. Der Eigenwert der Mitgeschöpfe des Menschen

Die Mitgeschöpfe des Menschen dürfen nicht nur und nicht zuerst unter dem Gesichtspunkt des für ihn gegebenen Nutzwerts betrachtet werden. Zwar ist der Mensch legitimiert, pflanzliches und tierisches Leben zu seiner Ernährung, seiner Versorgung und seiner Freude zu gebrauchen und zu verbrauchen. Die Mitgeschöpfe gehen aber in ihrem Nutzwert für den Menschen nicht auf. Die Blume ist nicht allein dazu da, damit der Mensch sich an ihr freut; das Huhn ist keine bloße Eierlegemaschine zur Bereitstellung menschlicher Nahrung; viele Pflanzen und Tiere haben überhaupt keinen erkennbaren und benennbaren unmittelbaren Nutzen für den Menschen. Das pflanzliche und tierische Leben samt den niederen Formen des Lebens hat zunächst einen Nutzwert für andere Lebewesen neben dem Menschen und für den Lebensprozeß insgesamt; schon dies legt dem Menschen bei seinem Umgang mit der Natur Rücksichten auf; er darf sich nicht nur an seinen eigenen Interessen ausrichten, sondern muß die möglichen Auswirkungen auf die Lebensmöglichkeiten anderen Lebens mitbedenken. Von allem aber haben die Mitgeschöpfe des Menschen unabhängig von ihrem Nutzwert einen Eigenwert, nämlich darin, daß sie auf Gott als den Schöpfer bezogen sind, an seinem Leben Anteil haben und zu seinem Lob bestimmt sind. Einen eigenen Wert und Sinn zu haben bedeutet nicht, daß jedes individuelle Lebewesen oder jede Art erhalten werden müssen. Aber wo der Gedanke des Eigenwerts Anerkennung findet, kann er als Begrenzung und Korrektur dienen gegenüber einer Haltung, der das außermenschliche Leben nichts als Material und Verfügungsmasse in der Hand des Menschen darstellt.

Die Frage des Eigenwertes der Mitgeschöpfe des Menschen spielt auch in die aktuelle Diskussion um die Verankerung des Umweltschutzes im Grundgesetz hinein. Die evangelische und die katholische Kirche haben sich dafür ausgesprochen, in der Formulierung eines Staatsziels Umweltschutz nicht auf die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen abzustellen, sondern aus Verantwortung für die Schöpfung umfassender vom Schutz der natürlichen Grundlagen des Lebens oder vom Schutz der Natur und Umwelt zu sprechen. Die Kirchen erneuern und unterstreichen ihr Votum an dieser Stelle. Denn jede den Eigenwert des außermenschlichen Lebens nicht berücksichtigende Formulierung des Staatsziels würde in der Zukunft geradezu als Vorwand dienen können, Eingriffe zu legitimieren, die im Interesse des Menschen und der Wahrung seiner Rechte jeweils für erforderlich gehalten werden, die Schöpfungswelt als ganze in ihrer lebensnotwendigen Vielfalt aber bedrohen. Es ist abwegig, aus dem Standpunkt der Kirchen bzw. den in die gleiche Richtung gehenden Vorschlägen einen Schutzanspruch für jedes einzelne Lebewesen herauszulesen; geschützt werden sollen die Lebensmöglichkeiten für die notwendige Vielfalt von Lebewesen. Bei jeder umweltpolitisch relevanten Entscheidung ist abzuwägen zwischen dem Nutzungsinteresse des Menschen und dem Eigenwert des betroffenen außermenschlichen Lebens; gerade auf die Nötigung zu dieser Abwägung kommt es an.


VI. Einverständnis mit der Schöpfung.
Ein Beitrag zur ethischen Urteilsbildung im Blick auf die Gentechnik und ihre Anwendung bei Mikroorganismen, Pflanzen und Tieren. Vorgelegt von einer Arbeitsgruppe der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1991
(zum Gesamttext)

I. Orientierung über den Sachstand

Die Gentechnik selbst (im Sinne der Genmanipulation) wird im Blick auf Säugetiere vornehmlich in der Grundlagenforschung eingesetzt. Anwendungsmöglichkeiten mit dem Ziel der Resistenzbildung gegen Krankheiten und Umwelteinflüsse und insbesondere der Leistungssteigerung werden erprobt. In diesem Zusammenhang dient die Genomanalyse dazu, einerseits Abweichungen von der normalen genetischen Ausstattung festzustellen und andererseits bestimmte Gene zu identifizieren. Das längerfristige Ziel ist es, Erbkrankheiten möglichst zu eliminieren, mit erwünschten Merkmalen weiterzuzüchten und damit die Zucht zu verbessern.

Ein weiteres Feld gentechnisch betriebener Tierzucht ist die Herstellung bestimmter Labortiere. Mit Hilfe der Gentechnik ist es zunehmend möglich, für spezielle Fragestellungen die geeigneten Versuchstiere nicht nur auszuwählen, sondern unmittelbar zu erzeugen. Vorteile verspricht man sich hier vor allem für die Prüfung von Arzneimitteln. Weiterhin wird gemeinhin davon ausgegangen, daß mögliche Therapien von Gendefekten am besten an Tieren studiert werden können, denen der entsprechende Defekt eingepflanzt worden ist. So wird die Tumormaus in der Krebsforschung, die Aids-Maus bei der Untersuchung der Immunschwäche und der Testung von Stoffen, die als Arzneimittel in Frage kommen könnten, eingesetzt. Die bewußte Herstellung genetisch defekter Tiere hat ihre eigene ethische Problematik: Es stellt sich die Frage, ob der Tatbestand der Tierquälerei vorliegt. Ein auch nur als wahrscheinlich anzunehmendes Schmerzempfinden von höheren Tieren ist dafür ein wichtiges Kriterium. Für den handelnden, biologisch forschenden Menschen muß es ein Gebot der Selbstachtung sein, daß die Produktion von kranken Tieren nicht ohne Not geschieht. Die ethische Frage gilt freilich auch schon für die Technisierung der Tierhaltung allgemein: Hier hat sich eine Umformung zur bloßen Tierproduktion vollzogen, die in der Intensivhaltung ausschließlich der Herstellung nützlicher Funktionsabläufe dient.

Die Herauszüchtung von wenigen tierischen Hochleistungsrassen, die durch die Gentechnik noch erheblich beschleunigt wird, kann schon mittelfristig zu einer genetischen Verarmung des Viehbestandes führen. Die Anpassung an sehr begrenzte künstliche Lebensbedingungen, die bei transgenen Schweinen bereits Krankheitscharakter erreicht hat, macht solche Züchtungsprodukte gegen die verschiedensten Störfaktoren äußerst anfällig. Die Zucht von Schweinen und Rindern ist nur sinnvoll, wenn auf die Erhaltung der Fruchtbarkeit und der Gesundheit geachtet wird. Leistungen lassen sich nicht sprunghaft verbessern. Die allgemeine Abnahme der Rassenzahl, zunehmende Anpassungsschwierigkeiten und die Produktion kranker Tiere können langfristig auch ökonomisch zu empfindlichen Rückschlägen führen. Das gilt allgemein für alle Tierzüchtungen. Doch durch die Gentechnik erhöht sich die potentielle Gefahr.

Die Erhaltung und Pflege der genetischen Vielfalt bei Tieren ebenso wie bei Pflanzen ist schon außerhalb aller ethischen Gesichtspunkte ökonomisch dringend geboten. Die heutige Artenvielfalt der Organismen ist naturgeschichtlich in sehr langen Zeiträumen entstanden. Sie innerhalb einer oder zweier Generationen drastisch zu reduzieren - täglich stirbt mindestens eine Art aus - bedeutet eine elementare Veränderung des natürlichen Gleichgewichts und damit der Lebensbedingungen auf der Erde.

V. Zum Umgang mit der Gentechnik: Perspektiven für Wahrnehmung, Urteil und Handeln

a) Artgerechtheit

Die Lebewesen begegnen den Menschen in einer Vielheit von Arten. Lebensraum und Lebensweise jeder Art stehen in einem Wechselverhältnis von Anpassung, Lernen und fremder Einwirkung. In dieser Wechselwirkung bildet sich, verändert sich und bewahrt sich die Identität der Arten innerhalb bestimmter Grenzen ihrer Entwicklung und innerhalb bestimmter Zeiträume. Eine Art kann nicht beliebig jeder Anpassung und Veränderung ausgesetzt werden.

Die Menschen besitzen im Maße der ihnen zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Erkenntnis Einsicht in die Lebensfähigkeit der Arten. Sie wissen - und können dieses Wissen noch vermehren -, welcher Lebensraum und welche Lebensweise einer Art gerecht werden. Es geht auch hier um Gerechtigkeit im Sinne der Verträglichkeit: Artgerechte Lebensverhältnisse und ein artgerechter Umgang sind daran zu messen, ob sie mit den Erfordernissen des Lebensraums und der Lebensweise des betreffenden Lebewesens vereinbar sind. Dies läßt einen gewissen, aber nicht einen beliebigen Raum für Abweichungen und Veränderungen. Es ist gut, beim Umgang vor allem mit Pflanzen und Tieren das verfügbare Wissen über den artgerechten Lebensraum und die artgerechte Lebensweise als Hinweis auf eine notwendige Grenze ernstzunehmen. Die Einsicht in Anforderungen der Artgerechtheit ist eine Mahnung zur Vorsicht. Die vorliegenden Erfahrungen mit der gentechnischen Veränderung von Pflanzen und Tieren unterstreichen die Berechtigung dieser Mahnung. So hat die Anpassung an sehr begrenzte künstliche Lebensbedingungen bei transgenen Schweinen schon jetzt Krankheitscharakter erreicht. Die auf Leistungssteigerung abgestellte Zucht ist nur solange sinnvoll, wie auf die Erhaltung der Gesundheit geachtet wird ...

b) Artgrenzen

Wie im Falle der Artgerechtheit ist die Artgrenze eine Mahnung zur Vorsicht. Zwischen den Arten besteht eine natürliche Barriere, die in der Regel eine spontane Kreuzung und Vermischung verhindert. Organismen, die bei einer Überspringung der Artgrenzen entstehen, sind nicht fortpflanzungsfähig. Die Artgrenze stellt eine offenkundig sinnhafte Gegebenheit dar, die nicht ohne Not übergangen werden sollte. Jedenfalls ist sorgfältig zu prüfen, ob Gründe namhaft gemacht werden können, die die Nichtbeachtung der Artgrenze rechtfertigen. Dabei sind die Unterschiede zwischen Pflanzen und Tieren entsprechend zu berücksichtigen. Auf keinen Fall ist die Neukombination von Erbmaterial unterschiedlicher Arten ein Vorgang, der zum Gegenstand von spielerischen Versuchen oder von ungehemmten Experimenten werden darf ...

c) Artenvielfalt

Die Artenvielfalt der Natur ist Grundlage und Bedingung des Lebens ... Der evolutionäre Prozeß ist auf einen großen 'Genpool' angewiesen. Eine Verarmung des genetischen Bestandes schränkt die Entfaltungsmöglichkeiten des evolutionären Prozesses ein. Die Artenvielfalt bedeutet aber in einem noch elementareren Sinne einen erhaltenswerten Reichtum. Schon für die Menschen selbst gilt: Verschiedenartigkeit und Fülle ist zugleich eine lockende Weite. So wenig aber ein Einheitstyp Mensch erstrebenswert ist, so wenig soll es eine 'Natur von der Stange' geben. Daß der Reichtum der Artenvielfalt und unsere Freude an ihr letztlich nicht erklärlich sind, besagt keineswegs, daß er vernachlässigt werden kann. Es ist den Menschen gegenwärtig nicht möglich, das notwendige und wünschenswerte Maß der Vielfalt festzulegen, und es ist auch die Frage, ob sie es überhaupt wollen sollen. Die Menschen können aber dazu beitragen, die Bedingungen zu erhalten, unter denen die Natur die ihr eigene Vielfalt zu bewahren und zu entfalten imstande ist. Die Aufbewahrung von Samen in Genbanken bietet langfristig keine hinreichende Sicherheit für die Erhaltung der Artenvielfalt.

d) Fehlerfreundlichkeit

Gentechnische Veränderungen von Lebewesen zielen im allgemeinen darauf, sie auf den menschlichen Nutzen hin zu "verbessern". Die Verbesserung ist auf bestimmte Funktionen oder Eigenschaften bezogen. Ein solches gezieltes Vorgehen entspricht dem technischen Vermögen, bestimmte Funktionen oder Eigenschaften von Werkstoffen und Maschinen zu optimieren. Dabei kommt es erfahrungsgemäß zu einer weitgehenden Spezialisierung von Arbeitsabläufen, die jeweils durch Programme der Koordination wiederum in einem einheitlichen Produktionsprozeß verbunden werden. Optimierung und Spezialisierung bedingen eine geringe Fehlertoleranz. Der kleinste technische Defekt und die kleinste nicht vorgesehene Abweichung in der Bedienung können nicht korrigiert oder kompensiert werden. Bereits ein Minimum an Ölverlust wird einem hochgezüchteten Motor gefährlich.

Die Gentechnik überträgt dieses Prinzip technischer Entwicklung auf Lebewesen und ihr Zusammenspiel. Darin weicht sie von den im evolutionären Prozeß gegebenen Verhältnissen markant ab. Denn in diesem sichert gerade die Fehlerfreundlichkeit der Organismen ihr Überleben auch gegenüber einem breiten Spektrum nicht vorgesehener bzw. vorhersehbarer Belastungen und Abweichungen. Der Begriff der Fehlerfreundlichkeit bezeichnet die eigentümliche Verbindung von Fehleranfälligkeit und Fehlertoleranz: Organismen sind zweifellos äußerst fehleranfällig; zugleich ist ihnen - etwa durch den Überschuß an Funktionen, die durch Mutation hervorgerufenen Abweichungen, das Immunsystem oder die Wundheilung - ein hohes Maß an Fehlertoleranz eigen. Übergenaue Tüchtigkeit für eine bestimmte gegebene Situation ist ein Mangel an Fehlerfreundlichkeit und läuft auf Stagnation und schließlich Versagen bei neuen Herausforderungen hinaus. Nur eine Pflanze mit einem hohen Maß an Anpassungs- und Kompensationsmöglichkeiten kann Fehlernährung oder Veränderungen am Standort ertragen und ausgleichen.

Wie für jede Technik ergibt sich auch für die Gentechnik daraus die Anforderung, sich mehr an der Fehlerfreundlichkeit des evolutionären Prozesses als an der Optimierung und Spezialisierung technischer Entwicklungsprozesse zu orientieren. Auch ökonomisch gesehen lohnt es sich nicht, extrem anfällige oder schutzbedürftige Kulturen zu produzieren, die aber hohe Nebenkosten verursachen. Selbst wenn die ökonomische Rechnung, auf begrenzte Zeiträume und Verantwortlichkeiten bezogen, aufgeht, fallen die Nebenkosten lediglich zu einem späteren Zeitpunkt oder außerhalb der eigenen Zuständigkeit an. Der Blick auf das evolutionäre Prinzip erfordert aber eine weiträumige Rechnung.

Nächstes Kapitel