Zur Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf
III. Wie weit reicht die Verminderung der Gewalt?
(17) Die Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats sind sich darin einig, daß das Verhältnis zwischen Mensch und Tier unaufhebbar auch von Gewalt geprägt ist, daß aber das Maß der von den Menschen ausgeübten Gewalt vermindert werden kann und muß (s. oben Ziffer 10-13). Unterschiedliche Auffassungen treten hervor, wenn die Frage zu beantworten ist: Wie weit reicht die Verminderung der Gewalt? Einige Mitglieder des Beirats sehen die Notwendigkeit und die Möglichkeit, die Gewalt gegen Tiere nicht bloß zu begrenzen und einzudämmen, sondern in weiten Bereichen fortschreitend zu überwinden und aufzuheben. Sie verstehen dies als eine radikale Ethik der Mitgeschöpflichkeit.
(18) Die Vertreter der weitergehenden Auffassung lassen sich von Überlegungen leiten, mit denen die in Teil II dargestellten grundlegenden Einsichten teils zuspitzend interpretiert, teils überschritten werden. Sie argumentieren dabei in folgender Weise:
Der Zustand des verheißenen Schöpfungsfriedens ist der Richtpunkt, an dem sich die Zielvorstellungen zu orientieren haben. Dabei wird die Grenze durchaus gewahrt, die Verwirklichung des Reiches Gottes nicht von Menschen zu erwarten; in ihren Herzen soll es zwar beginnen (Lk 17,21), aber letztlich können Menschen nichts zuwege bringen als Stückwerk. Jedoch kann auch für diesen bloßen Versuch die eschatologische Hoffnung, also die Vorstellung von der kommenden neuen Welt, unmittelbar handlungsleitend werden. Die Welt soll nicht bleiben, wie sie ist, sondern im Lichte des Reiches Gottes und in Richtung auf den Schöpfungsfrieden verwandelt werden. Wenn schon das Verhältnis der Gewalt unter Tieren sich dem menschlichen Einfluß weithin entzieht, dann rechtfertigt dieser Umstand keineswegs, auch dort auf Veränderungen zu verzichten, wo sie möglich sind: nämlich im Verhältnis zwischen Mensch und Tier. Die Orientierung an der Vorstellung vom verheißenen Schöpfungsfrieden verleiht dem Denken und Handeln zugunsten der Mitgeschöpfe eine starke Dynamik. Die daraus folgende zugespitzte Ethik der Mensch-Tier-Beziehung ist dabei nicht utopischer und unerreichbarer als die zwischenmenschliche Ethik der Bergpredigt, ohne die das Liebesgebot des Neuen Testamentes seinen Glanz verlöre.
In der Friedensdiskussion ist auch der Frieden mit der Schöpfung ins Auge zu fassen. Mit Recht wird immer gesagt, daß der Friedenswille in der unmittelbaren Umgebung des Menschen beginnen muß; aber das bezieht sich nicht nur auf die Mitmenschen, sondern ebenso auf die Tiere.
Auf Albert Schweitzer geht die Forderung einer allgemeinen "Ehrfurcht vor dem Leben" zurück. Entsprechend kann in der biblisch-christlichen Ethik eine Tendenz festgestellt werden, dem Liebesgebot eine immer größere Reichweite zu verschaffen - bis hin zum Verständnis des Sterbens Jesu als Erlösung für die ganze, auch die außermenschliche Schöpfung (Kol 1,20). Mit den Kriterien von Ehrfurcht und Liebe sind aber dem Umgehen mit Tieren enge Grenzen gesetzt. Eine Nutzung der Tiere ist nur zulässig, solange sie weder mit Schmerzen noch mit Leiden zugunsten erhöhter Produktionsleistung für den Menschen verbunden ist und solange die geschöpfliche Würde der Tiere gewahrt bleibt. Auch das Leben der Tiere ist grundsätzlich geschützt. Die Tötung von Tieren ist lediglich als Akt der Barmherzigkeit geboten, um ein nicht zu behebendes Leiden zu beenden, oder sie muß als Folge einer Notwehrhandlung und in vergleichbaren Extremsituationen hingenommen werden. Die Ausübung von Gewalt gegenüber Tieren ist so lange mit Schuld verbunden, wie die handelnden Menschen nicht über das bisherige Maß der Gewaltminderung hinausgehen und die erforderlichen Verzichtleistungen auf sich nehmen.
Die Vertreter einer radikalen Ethik der Mitgeschöpflichkeit halten im übrigen noch Zuspitzungen in einzelnen Punkten der grundlegenden Einsichten für erforderlich. Die Aussage, daß der Mensch eine unveräußerliche Würde und ein uneingeschränktes Lebensrecht hat, ist nicht strittig; aber der Begriff der Würde ist nicht auf die Menschen zu begrenzen; die Tiere haben an der allgemeinen geschöpflichen Würde teil. Weiter ist zu fragen, ob sich die Menschen, wenn sie von der Tötung anderen Lebens leben, wirklich von jeder Gewissensbelastung frei fühlen dürfen; die Kirche hat die Pflicht, auf eine Schärfung der Gewissen hinzuwirken. Die Feststellung, daß die Legitimation, Leistungen und Leben der Tiere in Anspruch zu nehmen, innerhalb der Klammer von liebender Sorge und hegendem Bewahren zu verstehen sei, bleibt solange mit einem Widerspruch belastet, wie der Anspruch auf das Leben der Tiere nicht kritischer als bisher überprüft wird. Es ist richtig, daß Gerechtigkeit auch gegenüber den Tieren ein Doppeltes verlangt: ihre Gleich- oder Ähnlichbehandlung, soweit sie den Menschen - etwa in Bezug auf Schmerz- und Leidensfähigkeit - gleich oder ähnlich sind, ihre Andersbehandlung, wo es die Unterschiede rechtfertigen oder verlangen; nun bedeutet der Tod gewiß für ein Tier etwas anderes als für den Menschen, schon weil das Tier vom Tod nichts weiß; aber die Frage, ob dieser Unterschied auch ausreicht, eine so gravierende Andersbehandlung, wie wir sie verbreitet erleben, als gerecht anzusehen, ist bisher noch kaum diskutiert worden.
(19) Der Gedanke der Gewaltminderung besitzt eine innere Dynamik. Er schließt schon als solcher die ständige Auseinandersetzung über das notwendige und mögliche Maß der Gewaltminderung ein. Diese quantitative Komponente erleichtert das Gespräch zwischen den unterschiedlichen Auffassungen zu den Aufgaben des Tierschutzes. Die Auseinandersetzung über die Reichweite der Gewaltminderung hat aber auch eine grundsätzliche Komponente: Dabei geht es um die Ermächtigung der Menschen zur Gewalt gegenüber den Tieren, wie sie in 1.Mose 9,2 ausgesprochen ist. Diese Ermächtigung wird von der radikalen Ethik der Mitgeschöpflichkeit als letztlich unvereinbar mit dem neutestamentlichen Liebesgebot und damit als ein zu überwindender Zustand angesehen. In Teil II wird sie dagegen ausdrücklich als ein bleibendes Merkmal der kreatürlichen Welt festgehalten, um eine rigoristische Sicht und die damit verbundene Überforderung zu vermeiden. An diesem Punkt läßt sich im Wissenschaftlichen Beirat der Dissens nicht überbrücken.