Der trennende Zaun ist abgebrochen

Teil 2: Tschechische und deutsche Versöhnungsinitiativen

 Im Oktober 1945 bekannte der kurz zuvor neu konstituierte Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im "Stuttgarter Schuldbekenntnis" gegenüber Vertretern aus der Ökumene, "daß wir uns mit unserem Volk nicht nur in einer großen Gemeinschaft des Leidens wissen, sondern auch in einer Solidarität der Schuld"(35) . In einem Beitrag zum 50jährigen Gedenken an dieses Schuldbekenntnis führender evangelischer Christen aus Deutschland schreibt der Prager Theologe Jakub Trojan: "Das Stuttgarter Schuldbekenntnis ist eine Botschaft von der Macht des ersten Schrittes, der den Mut zum Gericht über sich selbst hat. Damit werden die starren und mit den normalen Mitteln der Politik und der Diplomatie uneinnehmbaren Festungen der Entfremdung und Selbstgerechtigkeit eingerissen. Den Mut zu haben, eigene Schuld zu bekennen und solidarisch die Schuld anderer auf sich zu nehmen, ist eine befreiende Tat, die den Dialog ermöglicht"(36).

In diesem Kapitel wollen wir über tschechische und deutsche Versöhnungsinitiativen berichten, die in den Jahren und Jahrzehnten nach 1945 den Grund gelegt haben für neue Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen, nachdem die alten zerbrochen waren. Versöhnung setzt das Bekenntnis der eigenen Schuld voraus. Sie erfordert den Mut, sich zu exponieren und persönlich Verantwortung zu übernehmen. Am Anfang eines Versöhnungsprozesses stehen häufig einzelne Menschen, die in ihrem Gewissen von Zerrissenheit und Konfrontation getroffen sind und sich nicht damit abfinden wollen, sondern erste Schritte zueinander durch das Gelände der Feindseligkeit wagen. Sie machen sich auf den Weg, während die allgemeine Meinung noch in festen, unversöhnlichen Positionen beharrt. In den Nachkriegsjahren waren es deshalb nur wenige - einzelne oder kleine Gruppen -, die sich aus den überkommenen Denkkategorien nationalistischer Abgrenzung auf beiden Seiten zu lösen begannen und sich im Zeichen von Schuldeingeständnis, Vergebung und Versöhnung zum Nachbarvolk und seinen Menschen hinwendeten. Doch eben damit bereiten sie atmosphärisch und psychologisch den Boden für das spätere Versöhnungswerk.

2a) Premysl Pitter und die Kinder der Feinde

Im Mai 1945 war Premysl Pitter (1895-1976), tschechischer evangelischer Prediger und Pädagoge, fünfzig Jahre alt und hatte ein Werk hinter sich, das auch ohne die große Rettungsaktion, die nun kommen sollte, beachtlich genug gewesen wäre. Die Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg, dessen Kampfplätze ihn erschütterten, zum Pazifisten machten und geistlich erweckten, und der Zerschlagung der Ersten Republik verbrachte er in vielseitiger Arbeit für die Erfüllung der Grundsätze des Evangeliums. Inspiriert durch den böhmischen Reformator Milic von Kremsier scharte er einen Kreis von Mitarbeitern um sich(37) und gründete das Milic-Haus in Prag, das bedürftigen Kindern aus dem Arbeiterviertel Zizkov als Heim und Erziehungsstätte diente. Zugleich engagierte er sich in der internationalen pazifistischen Bewegung.

Die NS-Okkupation verstand Premysl Pitter als die schwierigste Zeit des tschechischen Volkes. Da das NS-Regime am härtesten die Juden verfolgte, half er ihnen und riskierte damit täglich sein Leben. Im Januar 1945, als die Gestapo in Prag noch unbegrenzte Macht ausübte, gründete er einen Ausschuß zur Hilfe für jüdische Kinder, wenn sie aus den Konzentrationslagern zurückkämen. Seine Verbindungen zum tschechischen Widerstand und seine Position als Mitglied der Sozial- und Gesundheitskommission des Tschechischen Nationalrats führten dazu, daß ihm noch in den ersten Tagen des tschechischen Aufstands im Mai 1945, als in den Straßen Prags noch geschossen wurde, vier Schlösser als Erholungsheime für die Kinder zur Verfügung gestellt wurden. Bereits damals jedoch protestierte er öffentlich gegen den "Gestapismus", d.h. gegen die Nachahmung der nazistischen Grausamkeiten durch Tschechen gegenüber Deutschen. Er verschaffte sich Zutritt zu den Internierungslagern für Deutsche, erstattete den Behörden Bericht über die erschütternden Verhältnisse und erwirkte die Bewilligung, Kinder ohne Angehörige und kranke Kinder in seinen Erholungsheimen unterzubringen. Ganz und gar gegen die Logik der Zeit, wo die Deutschen ohne jeden Rechtsschutz dastanden und kein deut sches Buch aufzutreiben war(38) , kamen diese deutschen Kinder in eine Umgebung, die sich durch Freundlichkeit, aufgeklärte erzieherische Grundsätze und vor allem durch vorbehaltlose Solidarität - Pitter mußte mehrfach Beschuldigungen, er unterstütze feindliche Elemente, standhalten - auszeichnete.

Premysl Pitter holte die Kinder aus den Konzentrations- und Internierungslagern und schuf ihnen in seinen Erholungsheimen ein vorübergehendes Zuhause(39) . Jüdische und deutsche Kinder wurden gleich liebevoll betreut, waren jedoch in ihrer Verfassung und in dem inneren Drama, das sie erlebten, verschieden. Während jüdische Kinder bereit waren zu helfen und deutsche Kinder aufzunehmen(40) , waren diese nicht nur Kinder der Feinde, sondern selbst durch Feindseligkeit geprägt. Jahrelang im Gefühl der Überlegenheit und des Hasses erzogen, verhärteten sie sich im Unglück. "Wir fürchteten, daß ihr Charakter vollkommen gekrümmt sein würde. Er war es nicht. Freilich waren sie mißtrauisch, verschlossen. Nur langsam öffneten sich ihre Herzen..." (41)

Eines der deutschen Mädchen zeichnete eine Äußerung Premysl Pitters auf, die grundlegend für sein Verständnis ist. Auf die Aufforderung, den deutschen Kindern die Greueltaten der Deutschen zu erzählen, antwortete er: "Nein, das werde ich nicht tun. Ich glaube nicht, daß ich jemanden dadurch besser machen könnte, daß ich ihm über das Böse erzähle. Die Menschen können nur dadurch besser werden, daß wir ihnen das Gute zeigen"(42) Sein Ziel war, das Gute, das Gott in jeden Menschen legte, entdecken zu helfen. Er glaubte, das einzige Mittel dafür seien das gute Wort und das gute Beispiel. Er wollte nicht die brennenden Scheiterhaufen der Inquisition sehen, sondern sah die Menschen, die ihr Leben für die Wahrheit opferten. Von diesem Geist sind seine Biographien über Jan Hus und andere Persönlichkeiten der böhmischen Geschichte getragen(43) . In der böhmischen Reformation sah er weit über eine kirchliche und theologische Reform hinaus eine Erneuerung des praktischen Lebens, die für das tschechische Volk eine grundsätzliche und ständige Herausforderung bedeutet. Ein Nationalist war er nie, aber ein Patriot in diesem anspruchsvollen Sinn: "Mit welchen Namen brüstete sich das tschechische Volk vor der ganzen Welt? Waren es nicht Hus, Comenius, Masaryk, die Demokratie, die Humanität? Von den Nazis erwartete niemand etwas Gutes. Aber vom tschechischen Volk! Wo ist also die größere moralische Schuld?" (44)

Mit diesen Worten schloß Premysl Pitter einen seiner zahlreichen Artikel über den Abschub/die Vertreibung. Er benützte beide Begriffe für die Zwangsaussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei. Er bemühte sich, die Sichtweise und die Gefühle beider Völker zu verstehen. In der Zeit nach der kommunistischen Machtübernahme in der Tschechoslowakischen Republik und der Errichtung des Eisernen Vorhangs war seine Einstellung besonders wertvoll. Er selbst mußte 1951 fliehen und versah einige Jahre seelsorgerliche und soziale Dienste im Flüchtlingssammellager Valka bei Nürnberg. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er in der Schweiz. Jede seiner zahlreichen Äußerungen über das deutsch-tschechische Verhältnis war zugleich eine Reflexion über die Versöhnung zwischen dem tschechischen und dem deutschen Volk. Sein Beitrag zur Versöhnung zwischen Deutschen und Tschechen ist bedeutsam durch seinen Eifer und seine Konsequenz, vor allem jedoch durch seine Glaubwürdigkeit: es ist die Glaubwürdigkeit der Tat.

2b) Erste Begegnungen der Versöhnung seit den 50er Jahren

Nach den Jahren des Schweigens und der Zertrennung, die dem Kriegsende von 1945 folgten und ihren Ausdruck im "Eisernen Vorhang" zwischen Osten und Westen fanden, war der Besuch Martin Niemöllers in Prag im April 1954 ein grundlegendes Ereignis. Es ist kein Zufall, daß er es war, der diesen ersten bedeutsamen Besuch machte. Seine Beteiligung an der Barmer Bekenntnissynode von 1934 und seine führende Rolle in der Bekennenden Kirche, seine langjährige KZ-Haft, seine Unterzeichnung des Stuttgarter Schuldbekenntnisses, aber auch sein Widerstand gegen eine deutsche Wiederaufrüstung waren in der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder (EKBB) bekannt. Niemöllers Predigt über Joh. 19,5 "Seht, welch ein Mensch" in der Prager Martinskirche hinterließ einen tiefen Eindruck. Im Gespräch mit den Studierenden der Theologischen Fakultät warnte er vor der gegenseitigen Verteufelung in Ost und West. Nach einem richtungsweisenden Wort für heute gefragt, antwortete er, die Menschen seien bis zum Wahnsinn von der Frage umgetrieben "Wie kriege ich den gnädigen Menschen". Unter Hinweis auf die zwei Naturen Christi meinte er, der gnädige Gott müsse heute in dem gnädigen Nächsten bezeugt werden. Die reformatorische Ausschließlichkeit des "sola fide" habe das Wort Jesu verdeckt "Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan" (Mth 25,40).

Im März 1955 besuchte dann zum ersten Mal nach 1945 eine Delegation des Rates der EKD die Kirchen in der Tschechoslowakei. Mitglieder waren neben anderen Otto Dibelius, Wilhelm Niesel, Reinhold von Thadden und Gustav Heinemann, der spätere Präsident der Bundesrepublik Deutschland. Ende September 1955 weilte eine hochrangige kirchliche Delegation aus der Tschechoslowakei zum Gegenbesuch in Deutschland, um Kirchenleitungen und Gemeinden in Westdeutschland und in der DDR zu besuchen. Josef L. Hromádka, Viktor Hájek und andere gehörten ihr an.

Als nahezu zwanzig Jahre später im Dezember 1973 ein Vertrag zwischen der CSSR und der Bundesrepublik Deutschland abgeschlossen wurde, richteten zwei tschechische Pfarrer, Alfred Kocáb und Jakub Trojan, Briefe an die Präsidenten der beiden Staaten. In dem Brief an den tschechischen Präsidenten Gustáv Husák schrieben sie, daß es eine Gruppe von Christen aus Deutschland gewesen sei, unter ihnen auch Gustav Heinemann, der Bundespräsident, "die dazu beigetragen hat, daß die Staatsmänner an einem Tisch zusammensitzen und zu einem Vertrag gelangen können... Sie sind gekommen, um sich stellvertretend für die ganze deutsche Nation, unter den damals schweren Bedingungen Orientierung in der Nachkriegswelt suchend, um Versöhnung mit denen zu bemühen, die die ersten Opfer Hitlerdeutschlands wurden. Hier wurden die Grundlagen neuer Beziehungen wie zwischen unseren Kirchen, so auch zwischen unseren Völkern gelegt..." Und an Gustav Heinemann schrieben sie: "Wir haben mit Erleichterung und großer Hoffnung auf die Worte gehört, damals noch als Studenten der Theologie, die Pastor Niemöller und Sie im kirchlichen Auftrag bei uns in Prag gesprochen haben. Es waren klare Worte der Buße und eine ausgestreckte Hand zur Versöhnung, aller vergangenen und gegenwärtigen Feindschaft zum Trotz. Wir haben die Hand der Versöhnung angenommen, aufrichtig und mit frohem Herzen... Was nun die Politiker auf beiden Seiten nach langer, mühevoller Arbeit aufgrund der Vorarbeit unzähliger Menschen und auch Institutionen geschaffen haben, erfüllt uns mit Zuversicht, daß die Macht des Werkes Christi, die Macht seiner Versöhnung sich bis ins politische Leben durchzusetzen vermag." In seiner Antwort schrieb Gustav Heinemann: "...Die damalige Begegnung war für mich außerordentlich eindrucksvoll... Echten Frieden kann es ja nur geben, wenn die Menschen unserer Völker sich begegnen und kennenlernen. Solcher Austausch aller Gruppen der Gesellschaft hüben und drüben wäre ein wesentlicher Beitrag für eine friedliche Ordnung in Europa"(45)

Einer der ersten und wichtigsten Pioniere in Deutschland für die Versöhnung mit den Menschen und Völkern in Polen, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion war der evangelische Theologe Hans Joachim Iwand. Aus Schlesien stammend, führendes Mitglied der Bekennenden Kirche Ostpreußens, selbst Flüchtling, setzte er sich bereits in den ersten Nachkriegsjahren für einen neuen Anfang auf der Basis von Schuldbekenntnis und Vergebung ein und kämpfte um die Überwindung der neuen Abgrenzungen und Feindbilder, die mit der Errichtung des Eisernen Vorhangs die Menschen im Osten und Westen trennten und einander entfremdeten. In einem Brief an Josef L. Hromádka zu dessen siebzigsten Geburtstag am 8. Juni 1959 schreibt er: "Heute sind ja solche Begegnungen zwischen 'Ost und West' fast schon alltäglich geworden, aber damals war das noch nicht so. Damals fragten wir uns noch, wie es wohl gehen würde. Ob wir voreinander und miteinander bestehen könnten. ...Und dann sprachen wir. Und an jenem Abend wurden wir Brüder. Wir wurden Brüder über dem, was hinter uns lag und was zwischen uns stand. Was war geschehen? Es waren nicht nur die Hitlerjahre, die mahnend und fragend hinter uns standen, es war viel, viel mehr. Es war die Frage, ob wir bereit wären, bestimmten Dingen, Wertungen, Vorstellungen ein Ende zu setzen und einen neuen Anfang zu machen... Wir waren gewiß, daß nichts und niemand das reparieren konnte, was geschehen ist. Hier ist etwas geschehen, was als solches stehenbleiben muß und stehenbleiben wird. Hier ist mehr als ein Jahrhundert abgelaufen. Hier kann nur eins gesagt werden: nostra maxima culpa. Es geht bei der Schuld nicht in erster Linie darum, wer schuldig ist. Manche Menschen kommen hinter den geschichtlichen Ereignissen her wie der Staatsanwalt, um festzustellen, wer Schuld hat und wer nicht. Bei der Schuld im geschichtlichen, also im irreparablen Sinne geht es um etwas anderes, da geht es darum, wer sie übernimmt. Sie ist die enge Pforte, durch die der Weg nach vorn führt. Sie ist an und für sich etwas, das wie ein Stein am Wege liegt. Niemand will ihn aufnehmen. Niemand will ihn tragen. Jeder, der nicht auf frischer Tat ergriffen wird, distanziert sich. So entlaufen wir unserer eigenen Geschichte, entziehen uns den Heimsuchungen Gottes und seiner Verheißung... Das stand bei unserem ersten Gespräch in der Mitte, die Schuld und ihre Bewältigung und unsere Bruderschaft, die sich an diesem Abend wie ein Geschenk anbot, das längst reif war, ehe wir noch einander kannten und jene Begegnung hatten"(46).

In den sechziger Jahren besuchten dann viele Christen aus der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder, und auch Mitglieder aus dieser konnten häufiger ins Ausland reisen. Viele Kontakte mit einzelnen Landeskirchen und verschiedenen kirchlichen und ökumenischen Institutionen wurden geknüpft. Vorträge deutscher Theologen an der Evangelisch-theologischen Comenius-Fakultät in Prag sowie bei den Kursen des Verbandes der Geistlichen der EKBB und umgekehrt tschechischer Theologen wie Josef L. Hromádka und Joseph B. Soucek in Deutschland bedeuteten einen wichtigen Beitrag für die gegenseitige Annäherung. Im Jahr 1958 wurde in Prag die "Christliche Friedenskonferenz" (CFK) gegründet. Mitinitiator und erster Präsident war Josef L. Hromádka. Vor dem Hintergrund und unter den Rahmenbedingungen des Kalten Krieges stand der Versuch, Christen aus dem Osten und aus dem Westen zu Friedensgesprächen zusammenzubringen., sicher in der Gefahr, instrumentalisiert und ideologisch mißbraucht zu werden. Teilweise, etwa in den groß aufgemachten "Allchristlichen Friedensversammlungen", war dies wohl auch der Fall. So standen von Anfang an viele, auch im Osten, der CFK kritisch gegenüber, weil sie die wirklichen Probleme der östlichen Länder nicht offen diskutiere, sondern eher, nicht zuletzt mit Hilfe einer falsch verstandenen Solidarisierung westlicher Teilnehmer, verschleiere. Gleichzeitig jedoch, vor allem in den ersten Jahren ihres Bestehens, bot die CFK Möglichkeiten für unmittelbare Gespräche und Begegnungen, die einen wichtigen Platz in der damaligen Ost-West-Ökumene hatten. So war sie, jedenfalls anfangs, zugleich ein Ort ehrlichen Bemühens und eines hoffnungsvollen Dialogs. Nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Armeen des Warschauer Pakts im Jahr 1968 verlor die CFK alle Glaubwürdigkeit. Ihre Mitglieder äußerten sich unklar und widersprüchlich zur Okkupation, manche stimmten ihr sogar zu. Ein weitgehender Zerfall der CFK war die Folge.

Nach der gewaltsamen Beendigung des "Prager Frühlings" und während der Zeit der sogenannten "Normalisierung" in der CSSR waren die gegenseitigen ökumenischen Beziehungen erschwert, doch die geistige Verbundenheit vieler Christen über die Grenzen hinweg bestand weiter und vertiefte sich sogar.

2c) Lidice - ein Ort des Gedenkens

Lidice, ein kleines böhmisches Dorf, 22 km westlich von Prag, wurde zum Symbol der nationalsozialistischen Verbrechen in Böhmen und Mähren. Es wurde am 10. Juni 1942 von den Nationalsozialisten dem Erdboden gleichgemacht - als Strafaktion für das Attentat auf den Stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich - und zur Einschüchterung des tschechischen Widerstands gegen die deutsche Besatzungsmacht. Die 192 Männer des Dorfes wurden erschossen, die Frauen wurden ins KZ Ravensbrück gebracht, die Kleinkinder kamen ins Kinderheim, einige kamen in deutsche Familien zur "Germanisierung", 82 Kinder wurden durch Abgase im polnischen Chelm an der Nerra getötet. Bis zum Ende des Krieges starben 339 der 493 Einwohnerinnen und Einwohner von Lidice.

Im Jahre 1947 wurde auf der Gemarkung des alten Lidice der Grundstein für ein neues Lidice gelegt, in das auch die überlebenden Frauen und Kinder der Tragödie von Lidice zurückkehrten - und bis heute leben. Auf dem Gelände des zerstörten Dorfes wurde eine Gedenkstätte aufgebaut, zu der auch ein kleines Museum gehört, das an das alte Lidice und sein schreckliches Schicksal erinnert. Alljährlich wird am Samstag nach dem 10. Juni am Grab der erschossenen Männer der Opfer von Lidice gedacht. Seit der politischen Wende1989/90 gestalten auch die Kirchen diese Gedenkfeier mit.

Die Empörung über die Tragödie löste weltweit eine Welle der Sympathie und Solidarität für die Menschen von Lidice aus. In den USA und Lateinamerika nahmen Städte den Namen von Lidice an. Es entstanden Lidice-Initiativen, so z.B. das britische Komitee "Lidice wird leben". 1955 wurde in Lidice ein "Rosengarten der Freundschaft" mit Rosen aus aller Welt angepflanzt. So wurde die Rose zum Zeichen von Lidice - Zeichen der Liebe, die stärker ist als die Gewalt. Bei der Anlegung des Rosengartens hat sich besonders der evangelische Theologe Josef L. Hromádka engagiert. Lidice-Initiativen haben zum Aufbau des neuen Lidice beigetragen und pflegen bis heute Partnerschaften. Dazu gehören auch Einsätze von Jugendgruppen zur Erhaltung der Gedenkstätte. In Deutschland ist es vor allem die Lidice-Initiative in Bremen, die eine lebendige Partnerschaft pflegt. Sie wurde 1979 im Rahmen des Evangelischen Kirchentages in Nürnberg gegründet. Ihre Aktivitäten werden maßgeblich von Pfarrer Dr. Ernst Uhl verantwortet, dem 1994 die Ehrenbürgerschaft der Gemeinde Lidice verliehen wurde.

Im Jahr 1993 wurde die Stiftung "Memento Lidice" gegründet, um ein geistliches und humanitäres Zentrum in Lidice aufzubauen. Zu dieser Stiftung, die gemeinsam von der bürgerlichen Gemeinde Lidice und den christlichen Kirchen in der Tschechischen Republik getragen wird, führten die verschiedensten kirchlichen und bürgerlichen Initiativen aus dem In- und Ausland, denen daran gelegen war, in Lidice einen Ort der Versöhnung und Völkerverständigung aufzubauen. Dazu gehörten Repräsentanten christlicher Kirchen, christliche Künstler wie die Teilnehmer von christlichen Pilgerfahrten, die seit dem Juni 1968 jedes Jahr durchgeführt werden. Besonders engagiert sich dabei auch die christliche und humanitäre Organisation "Concordia Pax", die 1992 von katholischen Gläubigen gegründet wurde, und die die Geschäftsführung der Stiftung "Memento Lidice" übernommen hat. Im Oktober 1997 wurde der Grundstein des geistlichen und humanitären Zentrums gelegen. In diesem Zentrum gibt es - ab Anfang 1999 - Wohnmöglichkeiten für ältere Bürgerinnen und Bürger von Lidice. Ein ärztlicher Behandlungsraum ist vorhanden, wie auch eine Cafeteria und Bibliothek. Ebenso gibt es einen Raum für Veranstaltungen sowie für Gottesdienste - für die Menschen von Lidice und für Besucherinnen und Besucher.

Das Zentrum soll ein Ort der Versöhnung sein und Gelegenheit zur Besinnung, zur Andacht wie zum Gespräch bieten. Vor allem auch mit den Frauen von Lidice, deren Bereitschaft zur Begegnung auch mit Gästen aus Deutschland ein Geschenk der Versöhnung für alle ist, denen Lidice Mahnung zum Frieden und zur Versöhnung bedeutet. Die evangelische und katholische Kirche in Deutschland tragen wie die deutsche Bundesregierung und andere mit ihrem finanziellen Beitrag zum Aufbau dieses Zentrums bei.

Die Gedenkstätte von Lidice ist ein stiller Ort. Ein Gang durch das Gelände des ehemaligen Lidice lädt zur Besinnung und zu nachdenklichen Gesprächen ein. Die nachfolgenden Gedichte sind eine kleine Auswahl aus einer Fülle literarischer Texte zu Lidice.

Jirí Kolár

Lidice
Die letzten Tage

Am vierten Juni umzingelte die Gestapo von Kladno
das Dorf Lidice
mit dem Befehl, zwei Fallschirmspringer zu finden,
die vermeintlichen Organisatoren des Attentats
auf Reichsprotektor Heydrich

Nach vergeblicher Durchsuchung des Dorfes
wurden sechsundzwanzig Personen festgenommen und hingerichtet.
Der älteste Mann war siebenundfünfzig Jahre alt
die älteste der sieben Frauen siebenundfünfzig,
die jüngste neunzehn

Wenige Tage später
belagerte die Gestapo Lidice erneut, verstärkt durch das Heer
Nachdem die Gestapo ins Dorf eingedrungen war
wurden alle Männer in die Keller des größten Bauernhofes getrieben
die Frauen und Kinder in die Schule

Um Mitternacht wurden die Kutscher von Bustehrad alarmiert
und um fünf Uhr früh erhielten sie den Befehl
die Frauen und Kinder fortzuschaffen
Dann wurde das Dorf von fünfzehn Panzerwagen gestürmt,
befehligt von Staatssekretär Frank persönlich
Er gab bekannt
der Führer habe befohlen, das Dorf zu vernichten
und alle Männer ab vierzehn zu erschießen

Um 6 Uhr früh
zerrten die Soldaten die Möbel aus allen Häusern
auf einen Haufen zusammen und zündeten sie an
Die Männer wurden aus den Kellern herausgeführt
und nach Feststellung der Namen Daten Wohnorte und Berufe
mit der Stirn zur Wand eines mit Matrazen
umwickelten Schuppens gestellt
und jeweils zu zehnt erschossen

Um 9 Uhr war die Exekution fertig und die Gebäude wurden
in Brand gesteckt
Es waren 172 Männer hingerichtet worden
Der älteste war achtzig und der jüngste fünfzehn
darunter 62 Bergleute und ein
dreiundsiebzigjähriger Pfarrer.
96 Höfe samt der Martinskirche aus dem 14. Jahrhundert
und dem Friedhof wurden
dem Erdboden gleichgemacht und der Teich zugeschüttet
An der Stelle des Dorfes entstand ein großes flaches Feld,
das Dorf wurde aus dem Katasterplan gelöscht
und der Besitz in den Grundbüchern dem Reich überschrieben
Vom Geld der Bürger
zogen die Deutschen eine halbe Million Spesen ab
für die Vernichtung des Dorfes und das Wegschaffen der Trümmer
Die Gestapo legte Rechnung
für den Transport und die Unterbringung der Verschonten.
Von diesen
wurden nach drei Tagen Warten im Turnsaal
der Realschule von Kladno
213 Frauen ins Konzentrationslager verschickt
und 101 Kinder ihren Müttern entrissen
und in "entsprechende Erziehung" übergeben.


Jaroslav Seifert

Die Toten in Lidice

Die Schwalbe fand ihr Heimdach nicht,
im Fluge piepst sie herzergreifend,
die Bäume stehen wie zerbrochene Zepter
und ragen noch heute aus der Erde empor.

Und ihr unten seid durch eure Fersen gestützt,
wo der Weg schon über den Abgrund geführt hat.
Geht durch Finsternis mit ausgestreckten Armen,
als ob ihr säet neue Saat in leere Furchen.

Nur die Lerche kehrt zu euch nach unten zurück,
sie ist euch näher als wir und hört eher,
was nur die Vögel verstehen.
In ihrem Lied hörst du vielleicht

die Erde singen, die euch vollgestopft
die vor Zorn geschlossenen Münder,
den Stein singen, der an den Köpfen lag,
Stille, die auf die Namen fiel,

hörst du vielleicht die Angst und das Weinen singen,
als sie euch die Kinder nahmen,
als Grauen euch fast bis zum Wahnsinn trieb,
auch wenn zum Wahnsinn keine Zeit blieb,

hörst due vielleicht den Schrecken singen, in den Augen eingegraben,
als sich die Frauen am Türstock festhielten,
wie sich der Ertrinkende an einem Strohhalm hält,
schon keine andere Hoffnung mehr habend,

hörst du vielleicht eine Weile merkwürdige Ruhe singen,
wenn nur ein Seufzer bleibt,
singen alle Schönheit dieses Volkes,
über dessen Gräber wir gehen.

Heute singt hier die Lerche wie früher
das ewig sanfte Lied der flachen Erde.
Und auch Rosen, schwermütige Rosen
haben sie damals brutal zu Boden getreten.

(Übersetzung: Gerhard Frey-Reininghaus)

2d) Theresienstadt - Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung

Jirí ist Prager Jude. Im Frühjahr 1991 fuhr er mit uns, einer Gruppe von Studierenden aus Deutschland, nach Terezín (Theresienstadt). Seine erste Fahrt nach Theresienstadt lag damals fast fünfzig Jahre zurück. Die war im November 1941 - ein Transport ins Internierungslager. Damals war Jirí 19 Jahre alt. Die Nazis hatten auch in Böhmen und Mähren die Nürnberger Rassengesetze eingeführt. Auch hier wurden jüdische Bürger diskriminiert und verfolgt - die Vorbereitungen für Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung liefen auf Hochtouren. Die Nazi-Behörden hatten sich im Oktober 1941 entschieden, die Garnisonstadt Theresienstadt in ein Internierungslager für Juden umzuwandeln - und im November begannen die Deportationen dorthin. Theresienstadt ist ein trister Ort - er besteht fast nur aus Kasernen. Die Stadt, die sogenannte Große Festung, wurde während der Regierungszeit Kaiser Josefs II. in den Jahren 1780 bis 1790 als Bollwerk gegen Preussen gebaut. Diese Aufgabe hat Theresienstadt nie erfüllt, blieb aber auch nach Verlust des Festungsstatus Garnisonstadt, deren dicke Mauern und tiefe Gräben noch für die Ziele der Nazis nützlich waren. Die Kleine Festung am Rande von Theresienstadt diente als Polizei- und Militärgefängnis.

Hierher also war auch Jirí deportiert worden - als einer von mehr als 75.000 Juden aus der Tschechoslowakei. Danach kam er nach Auschwitz, dann nach Buchenwald, wo er 1945 die Befreiung durch die Amerikaner erlebt hat. Es ist immer noch ein Wunder für ihn, wie er den Holocaust, die Shoa, und alle Grausamkeiten des Nazi-Regimes überlebt hat. Und nun steht er mit uns auf dem Marktplatz von Terezín. Er hatte sich nach der Befreiung geschworen, nie wieder an diese Orte der Grausamkeit, der Angst und der Erniedrigung zurückzukehren. Bis ihm ein älterer Leidensgefährte, der über Jahre mit Gruppen nach Terezín gefahren war, aber nun aus Krankheitsgründen nicht mehr konnte, klarmachte: du bist jetzt an der Reihe, den Besuchern aus Deutschland und anderen Ländern zu erzählen, was wir erlebt haben. Auch du mußt dazu beitragen, daß sich so etwas nie wiederholt. Schweren Herzens ist er dann mit einer Gruppe nach Terezín gefahren. Und es fällt ihm immer noch schwer, an diesen Ort des Leidens zurückzukehren.

Jirí führt uns in den Hinterhof eines Hauses und zeigt nach oben: "Dort oben haben wir Theater gespielt. Und hier entschied sich auch, daß ich einmal im Theater arbeiten will." Und Jirí beginnt zu erzählen, welch große Rolle die Kultur im "Ghetto" gespielt hat. Mehr als Kleidung und Lebensmittel hatten viele Bücher und Musikinstrumente ins Lager mitgebracht. Es entfaltete sich ein vielseitiges kulturelles Leben. Es wurde Theater gespielt, Konzerte und Opern wurden aufgeführt. Es gab literarische Abende, Kabarett und Vorträge und auch sportliche Veranstaltungen. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, daß die Kinder und Jugendlichen Unterricht erhielten und am kulturellen Leben teilnahmen. Jirí erzählt uns von der Kinderoper "Brundibár" von Hans Krása, die über 50mal in Theresienstadt aufgeführt wurde. Und er weist auf die vielen Bilder, Kinderzeichnungen und Gedichte hin, die in Theresienstadt entstanden sind. Dies alles geschah teils heimlich, teils mit Duldung der Deutschen - diese wollten in ihrer Propaganda am Beispiel Theresienstadt der internationalen Öffentlichkeit zeigen, "wie gut sie es mit den Juden meinen". Für die in Theresienstadt Inhaftierten war das kulturelle Leben ein mächtiges Mittel zur Bewahrung ihrer Würde und zur Stärkung des Durchhaltewillens. Es gab ihnen Kraft gegen Apathie und Demoralisierung angesichts des grausamen Alltags und der Allgegenwart des Todes.

Vorbei an einem dunklen Gewölbe, das als Zeremonienraum zum letzten Abschied von den Toten diente, kommen wir zum Friedhof und zum Krematorium. 33.430 Menschen sind im Lager ermordet worden oder gestorben, oft an Unterernährung, Krankheit und Seuchen, fast ein Vierteil der 139.654 Menschen, die nach Theresienstadt deportiert worden waren, zunächst aus Böhmen und Mähren, dann aber auch aus anderen Ländern Europas. Theresienstadt war ein Vorhof der Hölle von Auschwitz und anderer Vernichtungslager, doch wurde es gleichzeitig für viele selbst schon zur Hölle. Schließlich gehen wir zur Gedenkstätte am Fluß Ohce (Eger), wo die Deutschen im November 1944 die Asche von über 20.000 Toten des Ghettos ins Wasser schütteten, um die Spuren ihres mörderischen Wirkens zu verwischen. Jirí erzählt uns die Geschichte von Terezín und seine eigene Geschichte in großer Nüchternheit - gleichzeitig ist zu spüren, wie er innerlich immer wieder erbebt, wie sehr es ihn mitnimmt, von neuem zu durchleben, was Theresienstadt für ihn war. Uns allen, die wir diesen Tag mit Jirí verbrachten, ist der Weg durch Terezín sehr nahe gegangen. Wir spürten die ausgestreckte Hand und eine Liebenswürdigkeit, die uns Deutsche zutiefst beschämt hat. Wir spürten gleichzeitig das Bedürfnis, mehr zu erfahren von dieser traurigen Geschichte, die wir als Erbe angetreten haben. Daß Jirí uns mit diesem Erbe nicht allein ließ, sondern uns hineingenommen hat in die Erfahrung von Versöhnung, erfüllte uns mit tiefer Dankbarkeit. Als Jirí im Dezember 1993 starb, war dies ein großer Verlust. Gott sei Dank nehmen uns auch andere ehemalige Leidensgefährtinnen und -gefährten von Jirí mit auf diesen Weg. Wir sollten dies nutzen, solange es noch möglich ist. Dazu will auch die Begegnungsstätte in Terezín beitragen, die im Herbst 1997 von der Theresienstadt-Initiative und der Gedenkstätte Terezín zusammen mit der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste e.V. in einer der Kasernen von Theresienstadt, in der Magdeburger Kaserne, eingerichtet wurde. In diesem Gebäude befand sich der Sitz der sogenannten "Jüdischen Selbstverwaltung", es hat damit für die Zeit des Ghettos eine besondere Bedeutung. Hier haben junge Menschen die Möglichkeit, der reichen Geschichte der Juden in Böhmen und Mähren zu begegnen - und sich mit dem Morden der Nationalsozialisten auseinanderzusetzen, die dieser Geschichte ein furchtbares Ende bereitet haben. Auch führt die Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste internationale Workcamps zur Erhaltung der Gedenkstätte Theresienstadt durch. Am Marktplatz in Terezín gibt es heute ein Ghetto-Museum, das schon lange geplant, aber von den Kommunisten immer wieder verhindert worden war. Hier findet der Besucher viele Informationen über das Leben im Ghetto wie auch viele künstlerische Zeugnisse aus jener Zeit. Filmvorführungen ergänzen die Ausstellung. Das Museum in der "Kleinen Festung" gibt einen Einblick in die Geschichte dieses Gefängnisses.

Seit einigen Jahren ist es möglich, daß Freiwillige der Aktion Sühnezeichen in der Prager jüdischen Gemeinde in der Sozial-Abteilung mitarbeiten. Sie helfen alten und kranken Mitgliedern der jüdischen Gemeinde bei der Bewältigung ihres beschwerlichen Alltags, indem sie Essen bringen, beim Einkaufen helfen, die Wohnung putzen oder einfach zuhören. Natürlich sind sie dabei oft mit der Geschichte und mit den Verbrechen des Nazi-Regimes konfrontiert. Daß sie diesen Dienst tun können und daß sie ihn tun, ist ein kleiner, aber wichtiger Beitrag zur Versöhnung angesichts der tiefen Wunden, die Nazi-Deutschland geschlagen hat.

Zum Gedenken an die Opfer des Holocaust wurden in der Prager Pinkas-Synagoge die Namen aller Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns aus Böhmen und Mähren an die Wände geschrieben. 77.279 Namen erinnern an die 77.279 Einzelschicksale, die hinter den unvorstellbaren Zahlen stehen, mit denen die Todesopfer des Holocaust gezählt werden. Im März 1939 hatten 118.310 jüdische Bürgerinnen und Bürger in Böhmen und Mähren gelebt. Ungefähr 26.000 sind vor den Deportationen ins Ausland emigriert oder geflohen. 14.045 Menschen haben den Holocaust überlebt. Im Rahmen des deutsch-tschechischen Zukunftsfonds, der Anfang 1998 eingerichtet wurde, erhalten die heute noch lebenden Opfer der NS-Verfolgung wenigstens eine symbolische soziale Unterstützung.

Jirí hat dies nicht mehr erlebt -

Literarische Zeugnisse aus Theresienstadt

Der Schmetterling

Der letzte war's, der allerletzte,
der satt und bitter blendend grelle
vielleicht wenn eine Sonnenträne irgendwo
auf weißem Stein erklingt

so war das Gelb
er trug sich schwebend in die Höhe
und stieg, gewiß wollt' küssen er dort seine letzte Welt

und sieben Wochen leb ich da
ghettoisiert
hier fanden mich die Meinen
mich ruft der Löwenzahn
und auch der weiße Zweig im Hof auf der Kastanie
doch einen Schmetterling hab ich hier nicht gesehn

das war gewiß der allerletzte,
denn Schmetterlinge leben hier nicht
im Ghetto

(Pavel Friedmann, 7.1. 1921 - 29.9. 1944)


Der Garten

Das kleine Rosengärtlein
duftet heut so sehr,
es geht auf schmalem Wege
ein Knabe hin und her.

Ein Knäblein, ach so schön und hold,
ein Knösplein, das g'rad blühen wollt',
erblüht einmal das Knösplein klein,
so wird das Knäblein nicht mehr sein.

(Franta Bass, 4.9. 1930 - 28.10. 1944)


Die Angst

Durch unser Ghetto zieht ein neuer Schrecken,
bedroht mit böser Krankheit groß und klein.
Man sieht den Tod die Sense vor sich strecken,
so lechzt nach Opfern er in arger Pein.

Den Vätern schlägt das Herz im Leib geschwinder,
voll Trauer hüll'n die Mütter ein ihr Haupt,
die Typhusotter würgt die Kinder
zu Tod, bevor sie es geglaubt.

Ich bin noch da, bin noch ein lebend Wesen,
indem die Freundin schon im Jenseits weilt,
ich weiß nicht, ob's nicht besser wär' gewesen,
hätt' mich mit ihr zugleich der Tod ereilt.

Nein, nein, mein Gott - wir woll'n doch leben,
du darfst nicht lichten unsre Reih'n,
wir woll'n nach bessrem Morgen streben,
dann wird ja soviel Arbeit sein.

(Eva Picková, 15.5. 1929 - 18.12. 1943)


Mai 1945

Es war Mai.
Und alle Blüten erschlossen sich ihm:
blaue Fliederspindeln
spulten ihren Duft ab.

Schwer wallte er über das Land.
Und jeder konnte die Freiheit greifen.
Wie ein Blinder
das Anlitz eines Menschen,
der ihm teuer ist.

Es war Mai.
Zweige hatten Flaggen gehißt.
Aus Blüten.
Trunkene Bienen suchten ihren Stock.
Die bitteren Jahre waren vorbei.
Frühlingswind
verwehte letzten Schmerz.
Aus der Brust.
Es war Mai
und alles erblühte zur Freiheit.

(Dagmar Hilarová, 26.3. 1928 - überlebt)

2e) Eine tschechische Stimme

Die Deutschen erfuhren schon seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges von Verbrechen , die durch deutsche Hände und im Namen des deutschen Volkes geschahen. Vor der schlimmen Wahrheit konnten sie nicht die Augen verschließen, sie mußten sich damit auseinandersetzen. Deshalb wurden auch die mit der nazistischen Schuld verbundenen Orte (Lidice, Terezín/Theresienstadt und andere) nach und nach zu Orten der Besinnung und der Buße, die alljährlich von zahlreichen Deutschen besucht werden.

Auf der tschechischen Seite ist bisher nichts dergleichen geschehen. Die Abschiebung der Deutschen wurde für eine berechtigte Strafe gehalten, die tschechische Verantwortung wurde durch den Hinweis auf die Zustimmung der Großmächte bei der Potsdamer Konferenz verdeckt. Und über Verbrechen, die während der Vertreibung durch tschechische Hände und im Namen des tschechischen Volkes an Deutschen verübt wurden, wurde geschwiegen. Diese Verbrechen wurden durch das Gesetz Nr. 115/1946 GS der Strafverfolgung enthoben, die Sache selbst wurde nicht weiter diskutiert, die ganze Problematik war länger als vierzig Jahre lang ein Tabu.

In der Zeit der Charta 77 hat man angefangen, über die Abschiebung zu sprechen, jedoch erst nach 1989 war es möglich, die Ereignisse bei ihrem wahren Namen zu nennen. Viele Tschechen erfahren deshalb erst in den letzten Jahren, was eigentlich in ihrem Land nach dem Kriegsende geschah. Viele sind erschüttert, wehren sich, es zu glauben, befinden sich in der Situation der Deutschen unmittelbar nach dem Kriegsende. Auch die Tschechen brauchen diesen Prozeß, sich der tschechischen Schuld bewußt zu werden und sie zu reflektieren. Buße auszudrücken, das vermögen auf der tschechischen Seite bisher nur einzelne und kleine Gruppen. Um viele in das Nachdenken einzubeziehen, brauchen die Tschechen Zeit und sie bitten die Deutschen darum. Zeit ist in erster Linie notwendig, um die anstehende innertschechische Diskussion zu führen.

Es ist erforderlich, daß nicht nur der mit nazistischen "Todesmärschen" vergleichbare Marsch der Deutschen von Brno/Brünn nach Österreich(47) in das tschechische Bewußtsein eintritt, sondern auch ähnliche mit Hunderten von Toten verbundene Märsche, z.B. nach Jihlava/Iglau(48) oder von Príbram/Pribram nach Prag(49) . Es ist erforderlich, daß Tschechen sich dessen bewußt werden, daß die Verhältnisse in tschechischen Internierungslagern für Deutsche vielerorts sich durch rücksichtslose Brutalität "auszeichneten". Auch die Lager waren oft dieselben. Nach dem Krieg wurden zum Beispiel in Theresienstadt Deutsche gefangengehalten. Es ist erforderlich, nicht nur für das Massaker an Deutschen in Aussig/Ústí nad Labem(50) , sondern auch für ähnliche Massaker an mehreren Orten Buße zu tun - manche von ihnen kamen ja zumindest dem Massaker in Aussig gleich, z.B. in Postoloprty/Postelberg(51) oder in Horní Mostenice(52).

Das tschechische Versäumnis besteht darin, daß keiner von diesen Orten bis jetzt zum Ort des Gedenkens, der Besinnung und der Buße wurde. In Horní Mostenice wurden 265 Deutsche einschließlich Frauen und Kindern erschossen. Tschechen haben noch nicht verstanden, worum es bei der Schuld und ihrer Bewältigung geht, so lange die Schuld der Täter und das Leid der Opfer nach ihrer Nationalität gewogen werden, so lange noch nicht einzig entscheidend ist, daß da Menschen litten und starben.

Das tschechische Bewußtsein für diese Zusammenhänge zu wecken und in der Buße Beispiel zu sein, das ist eine Aufgabe der Christen auf der tschechischen Seite.

2f) Ein Dialog

Im Rahmen des Euregionalen Kirchentags in Cheb/Eger im September 1996 kam es zu einer bewegenden Begegnung zwischen Tschechen und Sudetendeutschen. Synodalsenior Pavel Smetana aus Prag erläuterte in einem Vortrag die Erklärung der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder zur Aussiedlung der Sudetendeutschen. Er sprach von den tiefen Verletzungen, die Deutsche und Tschechen in jenen Jahren erlitten hatten. Das Trauma wirkte in vielen Menschen bis heute nach. Synodalsenior Smetana würdigte mit großer Dankbarkeit die Versöhnungsinitiativen und die geschwisterliche Gemeinschaft, so zum Beispiel zwischen den Friedenskirchen in Cheb/Eger und Bayreuth, die in den letzten Jahren gewachsen sind.

In der Aussprache meldete sich eine sudetendeutsche Frau aus der Bayreuther Friedenskirche zu Wort. Ihr Vater war viele Jahre nach dem Krieg in einem tschechischen Arbeitslager interniert gewesen. Nach 1989 habe sie wieder Kontakt zu ihrer Heimatstadt Eger aufgenommen. Mit großem persönlichen Engagement habe sie viel für den kirchlichen Aufbau und die Arbeit in der evangelischen Friedenskirche in Eger getan.

"Schuldbekenntnisse und Versöhnungsinitiativen sind schön und gut", sagte sie. "Aber wenn ich über den Grenzübergang Svatý Kriz gehe, dann überfällt mich bis heute immer noch das bedrückende Gefühl: du bist hier der Staatsfeind. Die Benes-Dekrete von 1945 haben uns alle mit der Kollektivschuld behaftet und zu Staatsfeinden erklärt. Solange die Tschechen diese Benes-Dekrete nicht aufheben, solange gibt es keine Versöhnung." Nach Augenblicken betroffenen Schweigens sagte Synodalsenior Smetana: "Liebe Schwester in Christus. Welche Wirklichkeit gilt mehr - die formale Rechtswirklichkeit der diskriminierenden Benes-Dekrete oder die Wirklichkeit der geschwisterlichen Gemeinschaft, die Sie in der Friedenskirche erleben? Was ist stärker?"

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