Wo Glauben wächst und Leben sich entfaltet. Der Auftrag evangelischer Kindertageseinrichtungen
Eine Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, 2004. ISBN 3-579-02379-9
1. Elementarbildung aus evangelischer Sicht
These: Bildung bedeutet nach christlichem Verständnis ein umfassendes Geschehen der Persönlichkeitsbildung. Der christliche Glaube weiß um die Bestimmung jedes einzelnen Menschen zum Ebenbild Gottes. Daran haben sich alle Bemühungen um Bildung auszurichten. Persönlichkeitsbildung ist ein soziales Geschehen. Sie vollzieht sich stets zugleich als Anregung durch Andere und als selbstständige Tätigkeit der Einzelnen. Bildung heißt immer sich selbst zu bilden und gebildet zu werden. Bildung in diesem umfassenden Wortsinn vollzieht sich deshalb in Freiheit und Verantwortung und will zu Freiheit und Verantwortung befähigen. Im lebenslangen Prozess der Persönlichkeitsbildung ist die Phase der Elementarbildung von grundlegender Bedeutung.
Begründung und Erläuterungen
In der gegenwärtigen Bildungsdebatte, in der unterschiedliche Bildungsverständnisse nebeneinander stehen, ist es notwendig, auch das christliche Verständnis von Bildung deutlich akzentuiert einzubringen. Dies ist schon deshalb nicht nur nahe liegend, sondern geradezu unerlässlich, weil das Christentum und insbesondere die Tradition der reformatorischen Kirchen sehr eng mit dem Gedanken und dem Auftrag der Bildung verbunden sind. So ist beispielsweise die Entstehung von Schulen und später auch die Gründung von Kindergärten maßgeblich auf kirchliche Initiativen zurückzuführen. Diese Aufmerksamkeit gegenüber dem Gedanken der Bildungsverantwortung ist im christlichen Verständnis vom Menschen begründet. Die biblische Tradition weiß einerseits um die grundsätzliche und unvertretbare Bezogenheit des Einzelnen auf Gott, und sie spricht andererseits von der Bestimmung des Menschen zum Ebenbild Gottes.
Beide Aspekte weisen in je besonderer Weise auf die Verantwortung und den Auftrag, die Gaben und Möglichkeiten jedes einzelnen Menschen zur Entfaltung zu bringen. Dieser Prozess der individuellen Entfaltung ist ein zutiefst soziales Geschehen, in dem die Tätigkeit des Einzelnen ebenso wichtig ist wie die Tätigkeit derjenigen, die den Bildungsprozess durch Vorgaben und Anregungen gestalten. Bildung ist also als ein Geflecht von Ko-Konstruktion und qualifizierter Interaktion zwischen Personen zu verstehen, und sie hat sowohl eine interpersonale als auch eine intrapersonale Dimension.
Denn der christliche Glaube versteht den Menschen als ein Wesen in Beziehungen: Er lebt in der Beziehung zu sich selbst, in der Beziehung zu anderen und in der Beziehung zu Gott. In diesen Beziehungen ist der Mensch Person und gewinnt seine Individualität als ein Wesen, das unvertretbar und einmalig als diese und keine andere Person vor Gott steht. Dabei erfährt sich das Individuum in der Relation zu sich selbst, zu anderen, zu Gott jeweils als ein Wesen endlicher Freiheit.
Im Horizont dieser Aspekte – der Endlichkeit, der Individualität, der Freiheit sowie der ursprünglichen Bezogenheit auf andere Menschen und auf Gott – entfaltet sich das christliche Bildungsverständnis.
- Die Endlichkeit verweist darauf, dass wir Geschöpf Gottes sind, wir konstituieren uns nicht selbst in absoluter Freiheit, sondern wir sind von Gott her konstituiert.
- In diesem Horizont sind wir dazu bestimmt, die eigene Persönlichkeit zu entfalten und die eigene Individualität auszubilden und damit der Bestimmung zum Ebenbild Gottes zu entsprechen.
- Weil wir von Anfang an Wesen in Beziehung sind, vollzieht sich auch Bildung stets als sozialer Prozess, als Kommunikationsgeschehen.
- Der Aspekt der Freiheit verweist darauf, dass sich der Prozess der Bildung nicht anders als in Freiheit vollziehen kann. Er kann nicht fremdbestimmt, sondern er muss letztlich selbstbestimmt und gewollt sein.
Vor diesem Hintergrund muss Bildung immer als ein in zweifacher Hinsicht umfassendes Geschehen der Persönlichkeitsbildung verstanden werden:
Einerseits geht es um das Ziel einer ganzheitlichen Bildung, die mehr umfasst als die Entwicklung von kognitiven Fähigkeiten und die Aneignung von materialem Wissen, sondern vielmehr die Aneignung einer Fülle von Fähigkeiten und Kompetenzen meint, welche in ihrer Gesamtheit eine kommunikations-, handlungs- und verantwortungsfähige Persönlichkeit ausmachen. Andererseits ist Persönlichkeitsbildung als ein lebenslanger Prozess zu begreifen, der in der frühen Kindheit beginnt und in unterschiedliche Phasen gegliedert werden kann. Da es sich hier um Prozesse der Entfaltung von Individualität handelt, muss es auch ganz unterschiedliche Richtungen und Geschwindigkeiten dieser Prozesse geben und geben dürfen.
In jeder dieser Phasen liegen spezifische Chancen und Herausforderungen für die Gestaltung und Begleitung des Bildungsgeschehens. Insofern ist es von großer Wichtigkeit, die Kindertagesstätten als Bildungsinstitutionen zu begreifen, denn schon hier besteht die Möglichkeit, Bildungsprozesse in sorgfältiger didaktischer und methodischer Planung und angemessener pädagogischer Umsetzung anzuleiten. Gleichwohl vollzieht sich Bildung auch hier letztlich im Medium der Freiheit, denn wie in jedem Bildungsprozess geht es um ein Miteinander von Anregung und Aneignung und um die freie Selbsttätigkeit des Individuums.
Da Bildung immer zugleich ein soziales Geschehen von Selbstbildung und Fremdbildung ist, also Elemente der Konstruktion und der Ko-Konstruktion unauflöslich miteinander verbindet, kommt dem »Umfeld«, also den Personen, die den Bildungsprozess gestalten und in gewisser Weise steuern, eine hohe Bedeutung zu. Soll diese Begleitung professionell geschehen, so wird es um reflektierte didaktische Planung, genaue Auswahl der Inhalte und deren angemessene entwicklungspsychologische Aufbereitung gehen. Gleichwohl verlaufen auch die geplanten und initiierten Prozesse nie vollständig im Sinne einer einlinigen Kausalität, denn sie sind stets auf die Selbsttätigkeit des Individuums angewiesen.