Wo Glauben wächst und Leben sich entfaltet. Der Auftrag evangelischer Kindertageseinrichtungen

Eine Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, 2004. ISBN 3-579-02379-9

Einleitung

Bildung im Elementarbereich, kurz: »Elementarbildung« (Johann Heinrich Pestalozzi), ist eine wesentliche Aufgabe kirchlicher Bildungsverantwortung. Institutionell gestalten die christlichen Kirchen Elementarbildung zwar nicht ausschließlich, aber doch vorwiegend in ihren zahlreichen Kindertagesstätten. Im Jahr 1998 arbeiteten in den 8.953 Einrichtungen im Raum der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 61.893 Beschäftigte, darunter 35.061 Vollzeit- und 26.832 Teilzeitbeschäftigte. In den evangelischen Kindertagesstätten gab es damals insgesamt 540.837 Plätze für Kinder [1]. Etwa 50% aller Einrichtungen in Deutschland sind heute in kirchlicher Trägerschaft [2]. Schon diese rein zahlenmäßige Betrachtung kann deutlich machen, dass die EKD eine ganz besondere Verpflichtung für die Pflege und Entwicklung ihrer Einrichtungen hat. Bereits aus der quantitativen Dimension lässt sich aber auch ableiten, dass der EKD an einer aktiven Rolle und einem politischen Mitspracherecht gelegen sein muss, wenn es um die Zukunft der Kindertagesstätten in unserer Gesellschaft geht.

Die PISA-Studie und andere, vergleichbare Untersuchungen haben unter einigen ausgewählten Aspekten im internationalen Vergleich auf gravierende Mängel des deutschen Bildungssystems hingewiesen. Besonders in der für Lernen, Leben, Berufs- und Weiterbildung grundlegenden Lesekompetenz liegen deutsche Schülerinnen und Schüler im Vergleich mit anderen Ländern im Hintertreffen. Gravierend ist ferner der Aufweis der PISA-Studie, dass in keinem anderen Industrieland die soziale Herkunft so entscheidend für den Schulerfolg ist wie in Deutschland. Nicht zuletzt diese Probleme machen es dringlich, dass Theologie und

Kirche sich der Thematik der Elementarbildung ausdrücklich stellen. Von daher ergeben sich Fragen im Hinblick auf die Qualität und die Quantität der evangelischen Tageseinrichtungen für Kinder. Solche Fragen sind immer auch mit finanziellen Aspekten verbunden: Was wollen wir im Elementarbereich erreichen, und wie können wir das nachhaltig finanzieren? Die Kirche muss dabei ihr spezifisches, an der ganzheitlichen Entwicklung orientiertes Bildungsverständnis gegenüber anderen, vorwiegend kognitiven Ansätzen, aber auch gegenüber dem Konzept einer bloßen Betreuung [3] von Kindern deutlich zur Geltung bringen. Bildung im spezifisch christlichen Sinn schließt zwar kognitive Momente ein, meint aber vorrangig einen Lebensprozess in der Ausrichtung auf das unverfügbare Geschenk der Gottebenbildlichkeit des Menschen. In diesem spezifischen Sinne plädiert die EKD dafür, ein »unverkürztes, mehrdimensionales Verständnis von Bildung anzustreben« [4].

Solche am christlichen Bild vom Menschen orientierte Bildung geschieht auch heute schon in vielen evangelischen Kindertagesstätten im Raum der EKD. Die große Leistung und das bewundernswerte Engagement der zahlreichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in diesen Einrichtungen kann nur dankbar zur Kenntnis genommen werden [5]. Hier ist eine Struktur gewachsen und vorhanden, die sich durch liebevolle Zuwendung zu den Kindern und durch verlässliche fachliche Qualität auszeichnet. Ein Standard wurde etabliert, der gesellschaftlich in mancher Hinsicht vorbildlich ist und hinter den nicht zurückgegangen werden sollte.

Allerdings muss die Zukunft mit ihren speziellen, u.a. im Kontext der Ergebnisse der PISA-Studie erkennbar gewordenen Herausforderungen deutlich wahrgenommen und durch die Einrichtungen und ihre Träger, durch die Kirchen und ihre Diakonischen Werke und auch durch die EKD bewusst und verantwortlich gestaltet werden. Etablierte Strukturen bedürfen der behutsamen Weiterentwicklung, Qualität will gesichert und entwickelt werden, notwendige Umstrukturierungsprozesse brauchen kompetente Begleitung und Unterstützung.

Vor diesem Hintergrund fasste die Kirchenkonferenz der EKD am 5. Dezember 2002 folgenden Beschluss: »Die Kirchenkonferenz bittet den Rat, eine Stellungnahme zu den aktuellen Herausforderungen des kirchlichen Handelns im Blick auf die evangelischen Kindertagesstätten in Auftrag zu geben, die Fertigstellung möglichst noch in dieser Ratsperiode anzustreben und die Kirchenkonferenz in die Beratung über die Ergebnisse einzubeziehen«.

Der Rat der EKD entsprach der Bitte der Kirchenkonferenz am nächsten Tag durch folgenden Beschluss: »Der Rat nimmt die Bitte der Kirchenkonferenz auf und bildet eine Arbeitsgruppe zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft. Die Arbeitsgruppe soll ihre Ergebnisse dem Rat noch in dieser Amtsperiode vorlegen. Der Rat sieht vor, die Kirchenkonferenz in die Beratung der Ergebnisse einzubeziehen.«

Kirchliche Elementarbildung ist Bildung durch die Kirche von Anfang an. Sie ergibt sich nicht nur, aber auch aus der christlichen Taufverantwortung für die Kinder und ihre Familien. Sie hat die ganze Gesellschaft im Blick und lebt insofern in einer missionarischen Perspektive. Wenn nach Martin Luther schon die Schule einen Raum bieten sollte, um Kinder »mit Vergnügen und Spielen« an die Gegenstände des Lernens heranzuführen, so muss dies erst recht und mehr noch für die kirchlichen Kindertagesstätten gelten. Nicht Leistungsdruck, Angst und Stress dürfen in ihnen herrschen, sondern Freude, Freiheit und Spiel müssen die Atmosphäre bestimmen und die Bildungsprozesse prägen. Vor allem aber muss es in kirchlichen Kindertagesstätten darum gehen, religiöse Bildungsprozesse zu ermöglichen und zu gestalten. Dazu gehören christliche Gebete ebenso wie die Feier von Gottesdiensten.

Nach Martin Luther soll man die Kinder das Beten lehren, sie mit biblischen Geschichten vertraut machen und ihnen religiöse Bilder und Symbole wie etwa die Vorstellung von Schutzengeln nahe bringen. Elementarbildung in diesem Sinne bezeichnet er im Anschluss an Meister Eckhart als »Einbildung« und spricht ihr höchste lebenspraktische Bedeutung zu [6]. Luther wusste, dass Glaube wesentlich auf Bildung beruht. Damit wird diese zu einer dringlichen Aufgabe und zu einer die Zukunft bestimmenden Herausforderung für die christliche Kirche.

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